Besuch von oben (eBook)
272 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-44271-5 (ISBN)
Jochen Siemens lebt in Hamburg und arbeitet als Reporter für den 'Stern' und andere Zeitschriften. Er ist verheiratet und hat eine Tochter. 'Besuch von oben' ist sein zweites Buch.
Jochen Siemens lebt in Hamburg und arbeitet als Reporter für den "Stern" und andere Zeitschriften. Er ist verheiratet und hat eine Tochter. "Besuch von oben" ist sein zweites Buch.
Sie hatten die neuen Listen schon vor zwei Tagen in die Bekanntmachungskästen gehängt. Um Mitternacht, wie immer. Die Kästen waren alt und sahen aus wie große Fenster mit blauen Rahmen. Die Scheiben waren schon ein wenig trüb, und weil es seit zwei Tagen regnete, war Wasser hinter die Scheiben gesickert und hatte die Listen an den Rändern aufgeweicht. Die alte Frau, die am Abend noch einmal zu den Kästen gekommen war, musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um das zu sehen, was sie suchte. Da, ziemlich weit oben, standen ihr Name und der ihres Mannes. Sehr klein und fast unleserlich mit blauer Tinte geschrieben. Die Feuchtigkeit war schon bei den ersten Buchstaben ihres Namens angelangt und fing an, sie zu verwischen. Aber es war ihr Name. Ganz sicher. Die alte Frau war bereits zum dritten Mal hier, sie wollte sich immer wieder vergewissern, dass sie sich nicht verlesen hatte. Das Datum, das hinter den Namen stand, war von gestern, aber gestern war alles ausgefallen, weil es geregnet hatte. Auch heute regnete es, und so war seit zwei Tagen alles abgesagt worden. Also morgen. Die Frau nickte und schaute zum Himmel, der tiefschwarz war. Es war nicht zu erkennen, ob es weiterregnen würde. Sie musste Geduld haben. Neben ihr stand ein Mann, auch er alt und deutlich kleiner als die Frau. Er hielt sein Gesicht sehr, sehr dicht an die Scheibe und schüttelte den Kopf.
»Ich kann das nicht mehr lesen, da unten auf der Seite, da ist schon alles verwischt. Können Sie sehen, ob da Kaiser steht? Mit a i?«
Die alte Frau setzte ihre Brille auf und versuchte, in der hellblauen Tintenwolke einen Namen zu entziffern. Sie erkannte ein »K« und ein »ser«.
»Ja, ich bin ziemlich sicher, dass es Kaiser heißt«, sagte sie.
»Ich finde diesen alten vermoderten Kasten unmöglich. Man kann doch so wichtige Dinge nicht in den Regen hängen. Stellen Sie sich mal vor, jemand erkennt seinen Namen nicht und verpasst alles!«
»Ja«, stimmte die Frau zu, »hier müsste überall mal gründlich renoviert werden. Sagt mein Mann auch.«
In der Nacht hatte sich der Himmel aufgeklart, und als es hell wurde, waren nur noch dünne weiße Schleierwolken zu sehen. Es war auch wieder wärmer geworden, der Regen und der Tau auf den Wiesen verdunsteten in fast weißen Schwaden, die aus dem Grün aufstiegen. Es hatten sich am Morgen schon viele auf den Weg gemacht, einige auch schon in der Nacht. Die hellbraunen Kieswege, die aus drei Richtungen zu dem Gebäude auf dem Hügel führten, waren voller Menschen. An den drei Eingangstüren des Gebäudes hatten sich lange Schlangen gebildet. Das Gebäude sah aus wie eine sehr große Bergstation einer Seilbahn, nur führte kein Seil irgendwohin, und es gab auch keine Kabinen. Das Gebäude hatte die futuristische Architektur der 60er-Jahre: sehr große Glasfenster und ein rautenförmiges, flaches Betondach, das in der Mitte nach oben geknickt war und dessen Ränder weit über das Gebäude herausragten. Das Gebäude war beige, das Dach hellgrau, fast weiß. Trotz seiner sperrigen Architektur wirkte das kantige Gebäude freundlich, was auch an der hellblauen Farbe der Türen und den schmalen Fensterrahmen lag. Von drei Eingangstüren standen zwei weit offen, an der dritten Tür wies ein Schild darauf hin, dass erst am Mittag geöffnet werde.
Die Menschen, die vor den zwei Türen Schlange standen, waren meist alt, einige sogar sehr alt. Erst wenn man genau hinsah, an der Menschenschlange entlang, erkannte man ein paar jüngere, viele alleine, aber auch Paare, die sich an der Hand hielten, und vereinzelt auch kleine Gruppen, die sich unterhielten und lachten. Gleich hinter den Eingangstüren des Gebäudes gab es zwei große Tresen aus hellem Holz, hinter denen ältere Frauen und Männer saßen, die sehr große, dicke Bücher vor sich hatten, neben sich Ordner in verschiedenen Farben und an der Seite Ablagekörbe mit mehreren Fächern. Auf dem Tisch standen außerdem kleine Karussells mit Stempeln, daneben Locher und Klammerhefter. Fast alle Männer und Frauen hinter den Tresen trugen eine Brille und Hemden oder Jacken im gleichen Blau wie die Türen. In der Schlange vor dem Gebäude standen sicher über fünfhundert Menschen. Sehr viel mehr als sonst, was daran lag, dass die Exkursionen zwei Tage lang ausgefallen waren und nun auch diejenigen warteten, die vor zwei Tagen an der Reihe gewesen wären. Über der Szene schwebte eine Wolke aus Gemurmel und leichter Aufgeregtheit, aber niemand stöhnte oder schimpfte. Manche, die ein wenig müde vom Stehen waren, hatten sich hingesetzt. Niemand der Wartenden hatte irgendetwas bei sich, keine Tasche, keinen Koffer, noch nicht einmal irgendetwas unter dem Arm oder in der Hand, nur die großen weißen Umschläge, die fast jeder hatte und mit denen sich einige Luft zufächelten. Bis auf das Gebäude war weit und breit kein Haus zu sehen, und es war schwer, die hellbraunen Kieswege zurückzuverfolgen. Sie verliefen über den Hügel in ein kleines Tal und dann wieder über einen Hügel und verschwanden schließlich im Frühnebel, der von den Wiesen herüberzog.
Die Schlange bewegte sich nur sehr langsam vorwärts, an einem der Tresen kamen ein sehr alter Mann und eine alte Frau an die Reihe.
Die Frau hinter dem Tresen lächelte die beiden an.
»Name?«
»Schweikert. Heinrich und Hannelore Schweikert.«
»Für wann angemeldet?«, fragte die Frau.
»Eigentlich für vorgestern«, sagte die Frau, öffnete den Umschlag und legte ein paar Blätter eng beschriebenes Papier auf den Tresen.
»Ach, Sie Armen«, sagte die Frau freundlich und las die Papiere, »haben so lange gewartet. Aber Sie wissen ja, wenn’s regnet, geht hier gar nichts. Das soll sich aber bald ändern, hab ich gehört.« Sie las weiter, nickte ein paarmal und blätterte in dem großen Buch vor ihr ein paar Seiten nach hinten. Die Seiten waren in sehr kleine Kästchen unterteilt, die mit winziger Handschrift vollgeschrieben waren. Die Frau suchte mit dem Finger die Spalten ab.
»Ach, hier habe ich Sie. Schweikert. Oh, und ich sehe, Sie machen das heute zum ersten Mal?«
»Ja«, antwortete die alte Frau und versuchte zu lächeln. Der Mann neben ihr sagte nichts.
Die Frau hinter dem Tresen schrieb etwas in das entsprechende Kästchen, dann machte sie ein paar Kreuze und Häkchen auf den Blättern, stempelte sie ab und ordnete sie neu in zwei Stapel; einen Stapel heftete sie zusammen und legte ihn in den Korb auf der Seite, den anderen legte sie wieder auf den Tresen. Dann sah sie die beiden Alten an und stöhnte leise.
»Sie sind ja schon länger hier, Sie können das nicht wissen, aber ich bin erst seit einem Jahr hier, und ich kann Ihnen sagen, das ist hier wie bei einer Behörde vor fünfzig Jahren. Da, wo ich herkomme, habe ich auch bei einer Behörde gearbeitet, auf dem Ausweisamt, wissen Sie, und da hatten wir Computer, auf denen man alles sehen und bearbeiten konnte. Ging viel schneller. Aber hier, so altmodisch hab ich mir das nicht vorgestellt. Und die Wartezeiten erst. Sie haben sich …«, die Frau blickte auf die Blätter, »… vor so langer Zeit schon angemeldet, und nun ist es erst heute so weit. Das liegt nur an dem Papierkram hier.« Sie tippte auf die Papierstapel. »Ganz wichtig, die nehmen Sie bitte mit und geben sie ab, wenn Sie an der Reihe sind, ja? Und wenn Sie wieder zurück sind, liegen die Papiere beim Empfang in den roten Fächern ›Paare‹ unter S. Sie nehmen sie bitte wieder heraus und geben das erste Formular wieder ab, ja? Wichtig ist, dass es abgestempelt wird, darauf müssen Sie achten, ja?«
Die alte Frau hatte versucht, gut zuzuhören, genau wie der Mann, doch er sah aus, als ob er auf einem Ohr schwer hören würde, denn er legte den Kopf schief.
Die Frau hinter dem Tresen seufzte. »Ach ja, da kommt man schneller hierher, als einem lieb ist, und dann dauert’s Ewigkeiten …« Sie lachte. »Ja … Ewigkeiten. So. Nun muss ich Sie noch darauf hinweisen, dass Sie keinerlei Gegenstände außer Ihrer Kleidung mitnehmen dürfen, wirklich überhaupt nichts, ja?« Sie sah die Frau an. »Sie tragen eine Brille, oder?«
Die alte Frau nickte und zog eine Brille aus der Tasche ihres Mantels.
»Die müssen Sie auch vorne abgeben. Sie können sich, wenn Sie an der Reihe sind, eine Brille leihen. Die passen nicht immer gut, aber man kann etwas sehen. Ist nur eben so, es darf nichts Eigenes mitgenommen werden. Und Sie dürfen auch nichts hierher mitbringen, ganz wichtig. Das haben schon viele versucht, aber glauben Sie mir, es wird Ihnen abgenommen. So, und dann noch das Wichtigste. Die Abholung. Wenn Sie da …« Die freundliche Frau sprach immer weiter, und die alte Frau und der Mann hörten zu. Man konnte sehen, dass sie Mühe hatten, sich alles zu merken, die alte Frau runzelte öfter die Stirn, und der Mann blickte gelangweilt zur Decke des Gebäudes. An den Tresen neben ihnen hörte man überall die gleichen Sätze, Papier raschelte, die Seiten der dicken Bücher wurden umgeblättert, und beinahe im Takt hörte man das dumpfe Knallen der Stempel und das metallische kurze Krachen der Klammerhefter. Und weil die meisten Menschen in der Schlange alt waren, musste das Personal hinter den Tresen vieles wiederholen, manchmal auch laut. »NICHTS MITNEHMEN, VERSTEHEN SIE?«, rief der Mann neben der netten Frau einem alten Herrn ins Ohr, der sich über den Tresen gebeugt hatte.
»Und, aufgeregt?«, fragte die freundliche Frau die beiden.
»Ja«, sagte die alte Frau, »sehr. W… wo werden wir denn da sein? Ich...
Erscheint lt. Verlag | 27.4.2017 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Besuch aus dem Jenseits • Eltern • Familiengeschichte • Generationenkonflikt • Reinkarnation • Tod |
ISBN-10 | 3-426-44271-X / 342644271X |
ISBN-13 | 978-3-426-44271-5 / 9783426442715 |
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