Hôtel Atlantique (eBook)

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2017 | 1. Auflage
480 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-40046-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Hôtel Atlantique -  Valerie Jakob
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Die französische Biskaya - zum Sterben schön Delphine Gueron ist nach ihrem Abschied von der Pariser Polizei zurückgekehrt in ihre alte Heimat, St. Julien de la mer in der Nähe von Biarritz. Hier trifft sie sich einmal die Woche mit ihrer betagten Freundin Aurélie im noblen Hôtel Atlantique zum Tee. Doch eines Tages erscheint Aurélie nicht. Sie ist umgekommen. Ein Unfall, sagt die Polizei. Aber Delphines sechster Sinn sagt etwas anderes, und sie beginnt zu ermitteln. An nervtötende Vorschriften muss sie sich dabei nicht mehr halten. Unterstützung bekommt sie von dem fünfzehnjährigen Karim, der so dumm war, bei der ehemaligen commissaire einzubrechen. Zur Strafe erledigt der Junge bei ihr lästige Haus- und Gartenarbeiten. Mit der Zeit werden die beiden so etwas wie Freunde. Die Nachforschungen schweißen sie weiter zusammen. Und führen sie bis weit in die deutsch-französische Vergangenheit.

Unter dem Namen Valerie Jakob schreibt eine der erfolgreichsten Übersetzerinnen von Romanen aus dem angloamerikanischen und französischen Sprachraum. In ihren Werken erzählt sie auf kluge und berührende Weise von den Verstrickungen einzelner Schicksale in den großen Lauf der Geschichte.  

Unter dem Namen Valerie Jakob schreibt eine der erfolgreichsten Übersetzerinnen von Romanen aus dem angloamerikanischen und französischen Sprachraum. In ihren Werken erzählt sie auf kluge und berührende Weise von den Verstrickungen einzelner Schicksale in den großen Lauf der Geschichte.  

1


«Umdrehen, und versuch keine Spielchen!»

Der Jugendliche wirbelte herum. «Bloß keine Angst, Alte, ich bin schon weg.»

«Erstens habe ich keine Angst. Ich habe eine Pistole. Und zweitens heiße ich nicht ‹Alte›, sondern Madame Delphine, klar? Drittens bist du nicht gleich weg, sondern wirst von der Gendarmerie abgeholt, die ich jetzt anrufe.»

Delphine hielt ihre Walther auf den Halbwüchsigen gerichtet, der in ihren Schuppen eingebrochen war und dessen Gesichtsausdruck bei ihren letzten Worten und angesichts der Waffe von herausfordernd auf ziemlich entsetzt wechselte. Die schlanke Frau mit dem braunen, welligen Haar, die der Junge vor sich hatte, trug einen geraden, blauen Rock mit einem schmalen Ledergürtel und eine passende blaue Jacke. Und so richtig alt war sie wirklich nicht. Sie erinnerte ihn mit ihrer sprungbereiten Haltung an seine Sportlehrerin, doch diese Frau hielt eine Pistole auf ihn gerichtet, und die sah ziemlich echt aus.

«Was ist los? Machst du dir auf einmal ins Hemd? Hast doch eben noch so große Töne gespuckt.»

Der schlaksige Junge war etwa fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, soweit Delphine das in dem dämmrigen Schuppen beurteilen konnte. Er trug die bei Jugendlichen unvermeidliche Kapuzenjacke aus Sweatshirtstoff, eine ausgewaschene Jeans und leichte graue Sneakers. Dass er flüchten wollte wie ein in die Enge getriebenes Tier, konnte man an seinen riesigen, braunen Augen ablesen.

«Glaub bloß nicht, dass ich dich einfach so gehen lasse, damit du übermorgen wiederkommst, um mir die Bude auszuräumen. Diesmal bist du an die Falsche geraten, mein Kleiner: an eine commissaire. Da staunst du, was?» Delphine hielt inne, doch der Junge sagte nichts. «Und jetzt rufe ich meine Kollegen an, dann bist du erst mal weg vom Fenster und kannst in deiner Freizeit im Keller vom Altersheim die Bettpfannen auswaschen. Auch mal eine Erfahrung, was für andere zu tun, statt bei irgendwelchen Leuten einzubrechen!»

Delphine fixierte den Halbwüchsigen mit ihrem Blick. Wieder so einer, der am Beginn seiner Straftäterkarriere stand, die ihn unweigerlich ins Gefängnis und immer wieder ins Gefängnis führen würde.

Die Augen des Jungen füllten sich mit Tränen. «Aber, Madame …»

«Willst du mir jetzt mit der Mitleidstour kommen?», fragte Delphine spöttisch. «Das zieht bei mir nicht. Und so ein bisschen gemeinnützige Arbeit wird dir sicher guttun!»

«Aber, Madame …» Der Junge ließ die Schultern hängen.

«Was, Madame?»

«Die Polizei … meine Mutter …»

«Die Polizei, meine Mutter – was soll dieses Gestotter? Entweder drückst du dich klar aus, oder unser Gespräch ist beendet.»

Der Junge schluckte. Die graue Kapuzenjacke war ihm viel zu groß, er schien darin unterzugehen wie in einem Sumpfloch. «Die Polizei», sagte er leise, «hat mich schon öfter drangekriegt.» Erneut schluckte er. «Wenn ich noch mal erwischt werde, komme ich in den Knast. Und meine Mutter …» Wieder beendete er den Satz nicht.

«Was ist mit deiner Mutter?»

«Das würde sie wahrscheinlich nicht mehr verkraften.» Diesen Satz hatte er nur noch geflüstert.

«Jetzt fällt dir auf einmal deine Mutter ein, was?» Es ist wirklich immer das Gleiche, dachte Delphine. «Wieso hast du nicht an sie gedacht, bevor du beschlossen hast, hier irgendwas aus dem Schuppen oder einen DVD-Recorder aus dem Haus zu holen, den du für zehn Euro verscheuern kannst?»

Hilfloses Schulterzucken.

«Wie heißt du überhaupt?»

«Karim.»

«Karim und weiter?»

«Karim Amandier.»

«Karim Amandier? Was ist das denn für ein Name?»

«Meine Mutter kommt aus dem Elsass und mein Vater aus Algerien.»

Delphine dachte an die unendlichen Verwicklungen, die dieser Name bedeuten konnte. Ein Halbelsässer mit einem maghrebinischen Vornamen im Südwesten Frankreichs … Auch wenn das bei einem Einbruch zunächst einmal unwichtig war. Der Junge tat ihr leid, aber was sollte sie machen?

«Also, Karim, ich rufe jetzt die Polizei.»

Er senkte den Kopf. Es schien, als hätte er sich in sein Schicksal ergeben. Er war genauso groß wie Delphine, dunkle Locken lugten unter der Kapuze hervor, und an den Schultern der Jacke zeichneten sich die Knochen ab, wie bei einem mageren Vögelchen.

So weit ist es also mit mir gekommen, dachte Delphine, dass ich mich vor einem Einbrecher fühle wie Oger vor dem kleinen Däumling.

«Oder …», sagte sie. Er hob den Kopf. «Oder wir machen das unter uns aus.»

«Unter uns?», fragte er verständnislos.

«Ja, unter uns.» Delphine steckte die Waffe weg. «Du kannst dich entscheiden. Entweder rufe ich die Polizei, du wanderst in den Bau, und deine Mutter verliert jeden Glauben an dich … oder wir ersetzen diese offizielle Strafe durch ein paar Wochen Hilfsdienste für mich, ohne dass jemand bei der Polizei davon erfährt. Sagen wir, vier Wochen. Aber ich warne dich: Eine Dummheit, und du bist fällig. Haben wir uns verstanden?»

Der Junge nickte. «Ja, Madame.»

«Und außerdem lernst du für die Schule, statt irgendwo einzusteigen, und machst deiner Mutter keine Sorgen mehr, verstanden?» Ein Lacher.

«Ja, Madame.»

«Alors, dann kannst du schon mal meine Einkäufe aus dem Auto ins Haus bringen. Und am Mittwochnachmittag mähst du meinen Rasen, klar?»

«Ja, Madame.»

«Wann kommst du aus der Schule?»

«Um eins.»

«Also pünktlich um drei Uhr klingelst du hier, kapiert?»

«Ja, Madame.»

«Versprochen?»

«Ja, Madame.»

 

Karim hatte noch die Einkäufe ins Haus gebracht, danach hatte Delphine ihn nach Hause geschickt. Sie wusste, dass sie das nicht hätte tun sollen. Es war statistisch nachgewiesen, dass beinahe vierzig Prozent der jugendlichen Straftäter rückfällig wurden, und es war praktisch sicher, dass Karim am übernächsten Tag nicht um drei Uhr bei ihr zum Rasenmähen antreten würde. Aber der Junge hatte so verzweifelt gewirkt – außerdem sah die Statistik für minderjährige Wiederholungstäter noch sehr viel schlechter aus. Delphine kannte die Zahlen. Sie schalt sich für ihre Sentimentalität. Wenn sie das nächste Mal nach Hause käme, hätte sie keinen Fernseher und keinen Computer mehr. Karim Amandier würde sich in irgendeiner dunklen Ecke mit Drogen zudröhnen, und seine Mutter würde in ihrer Küche sitzen und Taschentücher nass heulen.

«Ach, verdammt», murmelte Delphine. Sie ging in die Küche, um die Einkäufe wegzuräumen. Seit sie eingezogen war, hatte sie an der Einrichtung einiges verändert. Der neue Kühlschrank mit den drei Gefrierschubladen war eindeutig eine Verbesserung, ebenso wie der neue Gasherd, das bestätigten all ihre Gäste. Die Gaszufuhr des alten hatte nämlich schon seit Ewigkeiten etwa so zuverlässig funktioniert wie der samstägliche Tipp bei France Loto, weshalb so manches Soufflé unter betrübten Blicken als kläglicher Fladen sein Ende gefunden hatte. Die elektrische Zündung des neuen Herdes, die vom Verkäufer in den höchsten Tönen gepriesen worden war, hatte zwar pünktlich nach Ablauf der Garantiezeit ihren Geist aufgegeben, sodass Delphine wieder auf Streichhölzer zurückgreifen musste, sonst aber lief er einwandfrei.

Den langen, dunklen Holztisch und die Stühle mit den Spuren dreier Generationen hatte sie stehenlassen. Er sorgte zusammen mit der altmodischen Kommode, die noch ein eigenes Baguettefach hatte, dem Kamin aus angestoßenen Backsteinen und den angelaufenen, selten benutzten Kupfertöpfen an der Wand dafür, dass die Küche zu dem Raum wurde, in dem sich Delphine und auch ihre Gäste mit Vorliebe aufhielten.

Es war richtig gewesen hierherzukommen, dachte Delphine. Als sie noch in Paris gearbeitet hatte, in dieser Metropole mit den unendlich vielen kulturellen Angeboten, den Theatern, den Kinos, den Menschen aus aller Herren Länder, hätte sie sich niemals vorstellen können, in die Provinz zurückzukehren. Auch wenn diese Provinz an einer wilden, schönen Küste lag und zudem ihre Heimat war. Doch dann, als sie zwei Jahre vor dem Ende ihrer Berufstätigkeit entscheiden musste, ob sie das Haus ihrer Eltern verkaufen, vermieten oder behalten sollte, hatte sie beschlossen, es selbst zu übernehmen. Auf Probe sozusagen, denn wenn sie sich in St. Julien de la mer nicht mehr einleben würde, konnte sie es immer noch problemlos verkaufen. Es war eine alte, baskische ferme, in der schon ihre Großeltern gelebt hatten. Delphine erinnerte sich an die Hühner, die frei auf dem staubigen Hof hinter der Küche herumgelaufen waren, der jetzt ein Garten war, und an das dunkel und melodiös über die Weiden ziehende Heóheóheó, mit dem ihr Großvater in der Abenddämmerung die Kühe nach Hause getrieben hatte. Das Haus stand etwa zehn Autominuten von der Küste entfernt in den hügeligen Ausläufern der Pyrenäen.

Wie in vielen anderen europäischen Ländern wurde auch in Frankreich das Rentenalter schrittweise heraufgesetzt, aber Delphine hatte gerade noch zu den Begünstigten der alten Regelung gehört. Als das Ende ihrer Dienstzeit näher rückte, hatte die Personalabteilung sämtliche offenen Urlaubs- und Überstundenansprüche aufgelistet, und das Ergebnis war, dass Delphine faktisch mit neunundfünfzig Jahren aufhören konnte zu arbeiten. Sie hatte darüber nachgedacht, wie es mit ihrem Leben weitergehen sollte. Die Beziehung mit Hervé, die immerhin beinahe zwanzig Jahre gewährt hatte, war Vergangenheit. Sie besaß Freunde in Paris, aber auch anderswo und fühlte sich nicht unbedingt an die Hauptstadt gebunden. Also war sie...

Erscheint lt. Verlag 22.4.2017
Zusatzinfo Mit 1 s/w Karte
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Baskenland • biarritz • Biskaya • Ex-Kommissarin • Familie • Frankreich • Freundschaft • Geschenke für Frauen • Geschichte • Kleinkrimineller • Kollaborateure • Kriegskind • Kriminalroman • Mord • Provinz • Rache • Roman • Urlaubsregion • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-644-40046-6 / 3644400466
ISBN-13 978-3-644-40046-7 / 9783644400467
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