Herr Brechbühl sucht eine Katze (eBook)
480 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31705-3 (ISBN)
Tim Krohn, geboren 1965, lebt als freier Schriftsteller in Santa Maria Val Müstair. Seine Romane Quatemberkinder und Vrenelis Gärtli machten ihn berühmt. 2015 veröffentlichte Tim Krohn bei Galiani den hochgelobten Erzählband Nachts in Vals. Der Auftaktband des ?Menschliche Regungen?-Projekts Herr Brechbühl sucht eine Katze war wochenlang in den Schweizer Bestsellerlisten. Zuletzt erschien der dritte Band, Julia Sommer sät aus (2018).
Tim Krohn, geboren 1965, lebt als freier Schriftsteller in Santa Maria Val Müstair. Seine Romane Quatemberkinder und Vrenelis Gärtli machten ihn berühmt. 2015 veröffentlichte Tim Krohn bei Galiani den hochgelobten Erzählband Nachts in Vals. Der Auftaktband des ›Menschliche Regungen‹-Projekts Herr Brechbühl sucht eine Katze war wochenlang in den Schweizer Bestsellerlisten. Zuletzt erschien der dritte Band, Julia Sommer sät aus (2018).
Ödnis (10)
Petzi hatte sich das Leben mit Pit entschieden anders vorgestellt. Beide waren dafür von zu Hause ausgezogen, und für beide war alles sehr plötzlich gekommen. Sie hatten eben die Matura gemacht und begonnen zu studieren, Pit Soziologie und Philosophie, Petzi Psychologie. In einer interdisziplinären Grundlagenvorlesung über Persönlichkeitsmodelle waren sie in die gleiche Tutoratsgruppe eingeteilt worden, ins Plaudern geraten und hatten festgestellt, dass sie beide eine Wohnung suchten. Petzi pendelte täglich von und nach Rheineck, Pit wohnte in Zürich, aber er hatte es satt, das Zimmer mit seinem Bruder zu teilen.
So war es ihnen ein Spiel geworden, in vorlesungsfreien Stunden durch die Stadt zu spazieren und Häuser auszusuchen, in denen sie gern wohnen würden. Während ihrer Spaziergänge sprachen sie über allerhand, das ihnen wichtig war. Dazu gehörten die Sorge um den Planeten und Fantasien darüber, wie sie einst ihre Kinder aufziehen wollten, aber ebenso Reisepläne und Lieblingslektüre – in der sie erfreulich übereinstimmten: Hermann Hesse, Wolfgang Borchert und Virgina Woolf (die sie beide als Maturalektüre gewählt hatten). Sie hatten festgestellt, wie sehr sie es liebten, all diese Dinge teilen zu können, hatten die Spaziergänge immer mehr in die Länge gezogen und sich auch bald geküsst, in den Plüschstühlen des El Greco am Limmatplatz.
An jenem Tag kurz vor Weihnachten – von ihren Küssen euphorisiert – hatten sie sich zudem für die Häuser der Baugenossenschaft Transport begeistert, Nummer und Adresse am Anschlagbrett im Hauseingang notiert und von der nächsten Telefonkabine aus angerufen. Eine nette Frau Zbinden hatte ihnen geraten, persönlich in ihrem Büro vorbeizuschauen, und das hatten sie auch gleich getan.
»Wir sind so verliebt in diese Häuser«, hatte Petzi geschwärmt.
»Und ins Quartier«, hatte Pit gesagt.
»Und ineinander«, hatte Petzi hinzugefügt, weil es schön klang.
Frau Zbinden, eine Dame gesetzten Alters mit einer Kette aus walnussgroßen Holzperlen und feiner, goldgefasster Lesebrille, hatte gemeinsam mit ihnen gestrahlt, und nachdem sie kurz ins Hinterzimmer gegangen war, um sich mit ihrem Vorgesetzten zu besprechen, hatte sie den beiden die gute Nachricht gebracht, dass gerade eine Wohnung frei sei. Die Nachmieter hätten am Morgen überraschend abgesagt. Zurzeit seien noch die Maler drin, aber in der Woche zwischen den Feiertagen würden sie einziehen können.
Das war Petzi fast zu schnell gegangen. »Was kostet sie?«, hatte sie gefragt und gehofft, sie sei teuer genug, dass sie Bedenkzeit bekäme. Die Wohnung, drei Zimmer mit Balkon, kostete jedoch nur 700 Franken, und Pit hatte sofort gesagt: »Die nehmen wir!«
»Sie sollten erst einen Blick darauf werfen«, hatte Frau Zbinden geantwortet. »Ihre wird gerade renoviert, wie gesagt, da können Sie nicht rein. Die frühere Hausmeisterwohnung können Sie aber besichtigen, sie hat denselben Grundriss, nur keinen Balkon.«
Also waren sie zur Röntgenstrasse gefahren, obwohl Petzi dafür ein Proseminar schwänzen musste, hatten die Hausmeisterwohnung besichtigt (den Balkon malten sie sich aus) und sich in jedem Raum geküsst. »Stell dir vor«, hatte Pit geschwärmt, »was wir hier alles treiben können.«
Über Sex hatten sie zuvor noch nie geredet, und auch jetzt hatte Petzi den Augenblick nicht für passend gehalten, um zu verraten, dass sie noch Jungfrau war. Das hatte sie erst am Abend getan, als er sie in Rheineck angerufen hatte, um zu erzählen, dass seine Eltern ihm das Geschirr und Besteck seiner Urgroßmutter angeboten hatten.
»Das trifft sich gut«, hatte er geantwortet, »ich bin auch Jungfrau«, und mehr brauchte sie gar nicht zu hören. Sie hatte angenommen, dass er ein gewiefter Liebhaber war, und sich sehr davor gefürchtet, tölpelhaft dazustehen. Als Jungfrau gefiel er ihr gleich noch mal so gut.
Ihre Eltern waren alles andere als froh gewesen, dass sie schon ausziehen wollte, und dazu so plötzlich. Aber sie begannen sich mit ihr zu freuen, als sie erzählte, dass Pit Rilke las. Und Philosophen. Und fürs Rote Kreuz arbeiten wollte. Und selbst noch Jungfrau war.
Am nächsten Morgen im Bad hatte Petzis Mutter sie umarmt, sich eine Weile an sie geschmiegt und gesagt: »Bald habe ich keine Tochter mehr, sondern eine Freundin. Ich freue mich darauf.« Das hatte Petzi so süß gefunden, dass ihr eine Träne über die Backe gerollt war, die sie heimlich wegwischte.
Und für den Stephanstag hatte ihr Vater einen Kombi gemietet und sie mit der Gästematratze (eine Neunziger), dem dazugehörigen Lattenrost, einem faltbaren Mottenschrank und Bananenkisten mit Töpfen, einer Kaffeemaschine, einem Mixer und anderem Küchenzubehör, das zu Hause doppelt oder dreifach vorhanden war, nach Zürich gefahren. Für die Kleider hatte sie ihren Kinderkoffer aus Wiener Geflecht, der reichte aus, da sie spätestens zu Neujahr wieder heimkommen wollte.
Pit war schon in der Wohnung gewesen, als sie angekommen waren. Ihr Vater hatte ihm so kernig die Hand geschüttelt, wie sie ihn gar nicht kannte, und gesagt: »Wenn Petzi derart von dir schwärmt, wirst du wohl etwas auf dem Kasten haben.« Bevor er zurückfuhr, hatte er ihnen noch geholfen, von einem Bekannten von Pit einen ausrangierten Tisch und Stühle abzuholen.
Petzi hatte ihn gefragt, ob er nicht mit ihnen zu Mittag essen wollte, denn ihre Mutter hatte ungefragt die Zutaten für Spaghetti bolognese zum Küchenkram dazugepackt. Aber er wollte lieber wieder heim, und als er die Tür hinter sich zugezogen hatte, wäre Petzi ihm am liebsten nachgerannt.
Doch Pit war schneller gewesen. Kaum hatte das Schloss geklickt, hatte er den Schraubenschlüssel fallen lassen, mit dem er versucht hatte, eine Lampe zu montieren, hatte Petzi umarmt, sie vom Haar bis zu den Brüsten abgeküsst und mit ihr schlafen wollen.
»Ich bin noch nicht so weit, Pit«, hatte sie gesagt.
»Ach so«, hatte er schelmisch gesagt, sich an den Tisch gesetzt und mit seinen großen, dunklen Augen zugesehen, wie sie die Spaghetti kochte, bis sie nicht mehr anders konnte. Sie hatte sich auf seinen Schoß gesetzt, ihn geküsst und sich küssen lassen, bis das Nudelwasser überkochte. Statt zu essen, hatten sie sich auf die Matratze geworfen und waren zwar angezogen geblieben, doch Pits Hand war schon überall.
Petzi hatte das schön gefunden, und es war ihr leichtgefallen, sich gehen zu lassen. Und er hatte auch nicht gemurrt, wenn sie ihm ab und zu einen Riegel vorschob. Als sie irgendwann nachmittags zerzaust und mit glühenden Gesichtern doch den Spaghetti-Klunsch zu essen versucht hatten, musste sie ihm recht geben, als er rief (es war ein Zitat aus seiner Kindheit): »Kinder, Kinder, ist das herrlich.«
Das hatte sie auch die nächsten Tage noch gefunden. Nur vermisste sie ein wenig die stillen Momente, die sie in ihren ersten Wochen geteilt hatten – wenn sie beispielsweise nebeneinander spazierten und sich nicht zu berühren wagten. Wie oft hatte sie sich gewünscht, ihm alles erzählen zu können, was sie bewegte, und sich auf eine Zeit gefreut, in der es kein Geheimnis mehr zwischen ihnen gäbe.
Doch seit dem Einzug fühlte sie sich ihm weniger herzlich verbunden als vorher, der Graben wurde, statt zu schwinden, immer tiefer. Wenn sie mit ihm über Hesses Roman Gertrud sprechen wollte, den sie eben las, oder über einen Artikel zur Entwicklungspsychologie, der sie beschäftigte und über den sie zu gern Pits Urteil gehört hätte, das meist sehr scharf und treffend war, sagte er nur etwas wie: »Das alles ist doch nichts dagegen, dich zu küssen, Petzi. Was wir aneinander und miteinander entdecken, ist so viel größer als alle weisen Kommentare, und ich zweifle nicht daran, haben wir erst richtig gevögelt, werden wir sowieso alles in ganz neuem Licht sehen. Wieso also jetzt Zeit und Gedanken verschwenden? Jetzt sind wir doch noch Kinder!«
Daher ließ sie sich schon zu Silvester entjungfern, und nachdem er ein reich bebildertes Kamasutra heimgebracht und ihr erörtert hatte, welche Form von Bewusstseinserweiterung ihm vorschwebe, versprach sie, mit ihm diesen Weg zu gehen.
Dabei ging ihr alles viel zu schnell. Sie wurde das Gefühl nicht los, das Wesentliche zu verpassen. Es freute sie, mit ihm zu schlafen, und noch mehr Freude hatte sie an ihrem Körper, der sie immer wieder überraschte. Beispielsweise hatte sie sich für ein eher zartes Geschöpf gehalten, nun stellte sie fest, dass sie es am liebsten deftig mochte (selbst wenn Pit dann zu früh kam). Doch Pits Forschungseifer konnte sie nichts entgegensetzen, und bat sie ihn, einmal nur zu liegen und sich treiben zu lassen, um zu schauen, was sich daraus entwickeln mochte, hatte er schon eine Theorie parat, die ihre »Position« infrage stellte (eine Position, die sie doch gar nicht hatte einnehmen wollen).
Sie wagte nicht, ihrer Mutter davon zu erzählen, doch ganz unkompliziert fand sie im Haus eine neue Freundin: Selina, eine Schauspielerin Ende dreißig, eine schöne und sicherlich sehr entschiedene Frau mit scharfen Gesichtszügen, die zuoberst im Haus lebte und eines Abends klingelte, weil sie ihren Waschtag verpasst hatte und Petzi bat, an ihrer Stelle eine Maschine voll waschen zu dürfen. »Und solange die Maschine läuft, kommst du zum Tee hoch und wir plaudern, wie das Nachbarinnen so tun«, schlug sie vor.
Und weil Pit ja unbedingt schon in seinem ersten Semester ein Fortgeschrittenen-Kolloquium zum Thema »Universalismus – Relativismus« besuchen musste, nach dem er mit den anderen stets noch in der...
Erscheint lt. Verlag | 16.2.2017 |
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Reihe/Serie | Menschliche Regungen | Menschliche Regungen |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | crowdfunding • Emotionen • Gefühle • Menschen • Quatemberkinder • Roman-Serie • Schweiz • Tim Krohn • Vrenelis Gärtli • Zürich |
ISBN-10 | 3-462-31705-9 / 3462317059 |
ISBN-13 | 978-3-462-31705-3 / 9783462317053 |
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