Der Fall Collini (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2017
208 Seiten
btb Verlag
978-3-641-20325-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Fall Collini - Ferdinand Schirach
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Was treibt einen Menschen, der sich ein Leben lang nichts hat zuschulden kommen lassen, zu einem Mord?
Vierunddreißig Jahre hat Fabrizio Collini als Werkzeugmacher bei Mercedes gearbeitet. Unauffällig und unbescholten. Und dann tötet er in einem Berliner Luxushotel einen alten Mann. Grundlos, wie es aussieht. Ein Albtraum für den jungen Anwalt Caspar Leinen, der die Pflichtverteidigung übernimmt: Das Opfer, ein hoch angesehener deutscher Industrieller, ist der Großvater seines besten Freundes. Schlimmer noch, Fabrizio Collini schweigt beharrlich zu seinem Motiv. Leinen beginnt zu recherchieren und stößt auf eine Spur, die ihn mitten hineinführt in ein erschreckendes Kapitel deutscher Justizgeschichte.

Der Spiegel nannte Ferdinand von Schirach einen »großartigen Erzähler«, die New York Times einen »außergewöhnlichen Stilisten«, der Independent verglich ihn mit Kafka und Kleist, der Daily Telegraph schrieb, er sei »eine der markantesten Stimmen der europäischen Literatur«. Seine Bücher wurden vielfach verfilmt und zu millionenfach verkauften internationalen Bestsellern. Sie erschienen in mehr als vierzig Ländern. Die Theaterstücke Terror und Gott zählen zu den erfolgreichsten Dramen unserer Zeit, und Essaybände wie Die Würde des Menschen ist antastbar sowie die Gespräche mit Alexander Kluge Die Herzlichkeit der Vernunft und Trotzdem standen monatelang auf den deutschen Bestsellerlisten. Ferdinand von Schirach wurde vielfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet. Er lebt in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm u.a. die Erzählsammlung Nachmittage sowie der Theatermonolog Regen.

2


»Notdienst der Strafverteidiger, Rechtsanwalt Caspar Leinen.« Das Display des Telefons zeigte eine Nummer aus dem Strafgericht.

»Amtsgericht Tiergarten, Köhler, ich bin Ermittlungsrichter. Hier sitzt ein Beschuldigter ohne Verteidiger. Die Staatsanwaltschaft beantragt Haftbefehl wegen Mordes. Wie lange brauchen Sie, um ins Gericht zu kommen?«

»Etwa fünfundzwanzig Minuten.«

»Gut, ich lasse den Beschuldigten in vierzig Minuten vorführen. Melden Sie sich in Raum 212.«

Caspar Leinen legte auf. Wie viele junge Anwälte hatte er sich in die Liste für den Notdienst der Strafverteidigervereinigung eintragen lassen. Am Wochenende bekamen die Anwälte ein Handy und mussten in Bereitschaft bleiben. Polizei, Staatsanwaltschaft und Richter hatten diese Telefonnummer. Wurde jemand festgenommen und verlangte einen Anwalt, konnten die Behörden dort anrufen. Junge Anwälte bekamen so die ersten Mandate.

Leinen war seit zweiundvierzig Tagen Rechtsanwalt. Nach dem zweiten Staatsexamen hatte er sich ein Jahr treiben lassen, er war durch Afrika und Europa gefahren, meist hatte er bei ehemaligen Schulfreunden aus seinem Internat gewohnt. Seit ein paar Tagen hing sein Schild am Hauseingang: »Rechtsanwalt Caspar Leinen«. Er fand es etwas zu pompös, aber es gefiel ihm trotzdem. Die Kanzlei, zwei Zimmer, lag im Hinterhaus einer Seitenstraße des Kurfürstendamms. Es gab zwar keinen Aufzug und die Mandanten mussten durch ein enges Treppenhaus, aber Leinen war sein eigener Herr und nur sich selbst verantwortlich.

Es war Sonntagvormittag, seit Stunden räumte er das Büro auf. Überall standen offene Umzugskartons, die Besucherstühle stammten von einem Flohmarkt, der Metallschrank für die Akten war vollkommen leer. Den Schreibtisch hatte ihm sein Vater geschenkt.

Nach dem Anruf des Richters suchte Leinen sein Jackett. Er fand es unter einem Stapel Bücher. Die neue Robe zog er vom Fenstergriff, stopfte sie in seine Aktentasche und rannte los. Zwanzig Minuten nach dem Anruf stand er im Zimmer des Ermittlungsrichters.

»Rechtsanwalt Leinen, guten Tag, Sie hatten mich angerufen.« Er war etwas außer Atem.

»Ah, vom Notdienst, ja? Gut, gut. Köhler.« Der Richter stand auf, um ihm die Hand zu geben. Ungefähr fünfzig Jahre alt, Salz-und-Pfeffer-Jackett, Lesebrille. Er sah freundlich aus, vielleicht etwas zerstreut. Aber das täuschte.

»Mordsache Collini. Wollen Sie noch mit Ihrem Mandanten sprechen? Wir müssen sowieso noch auf den Staatsanwalt warten. Der Abteilungsleiter, Oberstaatsanwalt Reimers, kommt selbst, obwohl es ein Wochenende ist … Na ja, wahrscheinlich eine Berichtssache. Also, wollen Sie mit ihm sprechen?«

»Gerne«, sagte Leinen. Für einen Moment überlegte er, was so wichtig an dieser Mordsache sein könnte, dass Reimers selbst kam, aber er vergaß diesen Gedanken, als der Wachtmeister eine Tür öffnete. Direkt dahinter führte eine schmale Steintreppe steil abwärts. Die Gefangenen wurden über diese Treppe aus der Haftanstalt zum Richter gebracht. Auf dem ersten Absatz stand im Halbdunkel ein riesiger Mann, er lehnte an der gekalkten Wand und verdeckte mit seinem Kopf beinahe vollständig die einzige Leuchte. Seine Hände waren mit Handschellen auf den Rücken gebunden.

Der Wachtmeister ließ Leinen durch und schloss die Tür hinter ihm. Leinen war mit dem Mann allein. »Guten Tag, mein Name ist Leinen, ich bin Rechtsanwalt.« Es war nicht viel Platz auf dem Absatz, der Mann stand zu nahe.

»Fabrizio Collini.« Der Mann sah Leinen nur kurz an. »Ich brauche keinen Anwalt.«

»Doch, den brauchen Sie. Nach dem Gesetz müssen Sie sich in einer solchen Sache von einem Anwalt verteidigen lassen.«

»Ich will mich nicht verteidigen«, sagte Collini. Auch sein Gesicht war riesig. Breites Kinn, der Mund nur ein Strich, die Stirn vorgewölbt. »Ich habe den Mann getötet.«

»Haben Sie bei der Polizei schon ausgesagt?«

»Nein«, sagte Collini.

»Dann sollten Sie auch jetzt schweigen. Wir reden, wenn ich die Akte kenne.«

»Ich möchte nicht sprechen.« Seine Stimme war dunkel und fremd.

»Sind Sie Italiener?«

»Ja. Aber ich lebe seit fünfunddreißig Jahren in Deutschland.«

»Soll ich Ihre Familie benachrichtigen?«

Collini sah ihn nicht an. »Ich habe keine Familie.«

»Freunde?«

»Es gibt niemanden.«

»Dann fangen wir jetzt an.«

Leinen klopfte, der Wachtmeister öffnete wieder die Tür. Im Verhandlungszimmer saß Oberstaatsanwalt Reimers bereits am Tisch, Leinen stellte sich kurz vor. Der Richter zog aus dem Stapel vor sich eine Akte. Collini setzte sich auf eine Holzbank hinter einem niedrigen Gitter, neben ihm stand der Wachtmeister.

»Bitte nehmen Sie dem Beschuldigten die Handschellen ab«, sagte Köhler. Der Wachtmeister schloss sie auf, Collini rieb sich die Handgelenke. Leinen hatte noch nie so große Hände gesehen.

»Guten Tag. Mein Name ist Köhler, ich bin heute der für Sie zuständige Ermittlungsrichter.« Er deutete auf den Staatsanwalt. »Das ist Oberstaatsanwalt Reimers, Ihren Verteidiger kennen Sie ja bereits.« Er räusperte sich, sein Ton wurde sachlich, er sprach jetzt ohne jede Betonung. »Fabrizio Collini, Sie sind heute hier, weil die Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl gegen Sie wegen Mordes beantragt hat. Das ist der Termin, an dem ich entscheide, ob ich den Haftbefehl erlasse. Verstehen Sie ausreichend Deutsch?«

Collini nickte.

»Bitte nennen Sie Ihren vollen Namen.«

»Fabrizio Maria Collini.«

»Wann und wo sind Sie geboren?«

»26. März 1934 in Campomorone bei Genua.«

»Staatsangehörigkeit?«

»Italienisch.«

»Wo sind Sie gemeldet?«

»In Böblingen, Taubenstraße 19.«

»Welchen Beruf haben Sie?«

»Ich bin Werkzeugmacher. Ich habe vierunddreißig Jahre beim Daimler gearbeitet, zuletzt als Meister. Seit zwei Jahren bin ich pensioniert.«

»Danke.« Der Richter schob Leinen den Haftbefehl über den Tisch, zwei Seiten auf rotem Papier. Er war noch nicht unterschrieben. Die Angaben stammten aus dem Bericht der Mordkommission. Der Richter las ihn vor. Fabrizio Collini habe Jean-Baptiste Meyer in der Suite 400 im Hotel Adlon getroffen und ihn mit vier Schüssen in den Hinterkopf getötet. Er habe sich bisher nicht geäußert, werde aber durch die Fingerabdrücke an der Schusswaffe, die Blutanhaftungen an seiner Kleidung und seinen Schuhen, die Schmauchspuren an seinen Händen und die Aussagen von Zeugen überführt.

»Herr Collini, haben Sie den Vorwurf verstanden?«

»Ja.«

»Nach dem Gesetz steht es Ihnen frei, sich zu den Vorwürfen zu äußern. Wenn Sie schweigen, kann das nicht gegen Sie verwendet werden. Sie können Beweiserhebungen beantragen, zum Beispiel Zeugen benennen. Sie können sich jederzeit mit einem Rechtsanwalt beraten.«

»Ich möchte nichts sagen.«

Leinen musste immer wieder auf Collinis Hände sehen.

Köhler wandte sich an seine Protokollführerin. »Bitte schreiben Sie: Der Angeklagte will sich nicht äußern.« Zu Leinen sagte er: »Möchten Sie etwas für den Beschuldigten erklären, Herr Verteidiger?«

»Nein.« Leinen wusste, dass es im Moment keinen Sinn hatte, etwas zu sagen.

Richter Köhler drehte seinen Stuhl zu Collini. »Herr Collini, ich erlasse gegen Sie den Haftbefehl, den ich Ihnen eben vorgelesen habe. Sie haben die Möglichkeit, gegen meine Entscheidung Beschwerde einzureichen oder Haftprüfung zu beantragen. Besprechen Sie das mit Ihrem Anwalt.« Während er sprach, unterzeichnete er den Haftbefehl. Dann sah er kurz zu Reimers und Leinen auf. »Noch Anträge?«, fragte er.

Reimers schüttelte den Kopf und packte seine Akten zusammen.

»Ja. Ich beantrage Akteneinsicht«, sagte Leinen.

»Ist im Protokoll vermerkt. Noch etwas?«

»Ich beantrage Haftprüfung in mündlicher Verhandlung.«

»Ebenfalls vermerkt.«

»Und ich beantrage, mich dem Beschuldigten als Pflichtverteidiger beizuordnen.«

»Jetzt schon? Na gut. Hat die Staatsanwaltschaft Einwände?«, fragte Köhler.

»Nein«, sagte Reimers.

»Dann ergeht folgender Beschluss: Rechtsanwalt Leinen wird dem Beschuldigten Fabrizio Collini als Pflichtverteidiger in diesem Verfahren beigeordnet. Das ist alles?«

Leinen nickte. Die Protokollführerin zog aus dem Drucker ein Blatt und gab es Köhler. Er überflog es kurz und reichte es Leinen weiter. »Das Protokoll der Sitzung. Ihr Mandant soll es bitte unterzeichnen.«

Leinen stand auf, las es und legte es auf die hölzerne Schreibunterlage, die auf das Gitter vor die Beschuldigtenbank geschraubt war. Der Kugelschreiber war mit einer dünnen Schnur an das Holzbrett gebunden. Collini riss sie ab, stammelte eine Entschuldigung und unterschrieb das Papier. Leinen gab es dem Richter zurück.

»So, das war’s dann für heute. Herr Wachtmeister, bitte bringen Sie Herrn Collini rüber. Auf Wiedersehen meine Herrn«, sagte der Richter. Der Wachtmeister schloss die Handschellen wieder um die Hände Collinis und verließ mit ihm das Richterzimmer. Leinen und Reimers standen auf.

»Ach, Herr Leinen«, sagte Köhler. »Bleiben Sie noch einen Moment.«

Leinen drehte sich im Türrahmen um. Reimers verließ das Zimmer.

»Ich wollte das nicht vor Ihrem Mandanten fragen: Wie lange...

Erscheint lt. Verlag 13.2.2017
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Berlin • Deutsche Gegenwartsliteratur • deutsche Justizgeschichte • eBooks • Elyas M Barek • Elyas M'Barek • Gerechtigkeit • Marco Kreuzpaintner • Mord • Pflichtverteidigung • Politthriller • Preisgekrönter Autor • Roman • Romane • spiegel bestseller
ISBN-10 3-641-20325-2 / 3641203252
ISBN-13 978-3-641-20325-2 / 9783641203252
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