Zweisame Spaziergänge eines Einzelgängers -  Horst B:

Zweisame Spaziergänge eines Einzelgängers (eBook)

Ein Tagebuch

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
284 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7412-6890-8 (ISBN)
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Es sind philosophische Spaziergänge, die der Autor in seinen Tagebuchaufzeichnungen festhält, evoziert, um den Tod der geliebten Cousine zu verarbeiten, und oftmals begleitet von der Zufallsbekanntschaft Sebastian, die sich schnell als Seelenverwandtschaft erweist. Die Schauplätze dieser tiefsinnigen Reflexionen und Gespräche über Gott und die Welt sind Berlin und Umgebung und immer wieder der geliebte deutsche Wald. Horst B. kam vor dem Mauerbau aus der DDR in den 'goldenen' Westen, wo er sich unter anderem als Liftboy, Schuhputzer und Tellerwäscher durchschlagen musste. Nach dem Besuch der Werkkunstschule in Wiesbaden arbeitete er in einem Berliner Atelier als Designer für Flächenmuster. Heute genießt Horst B. seinen Ruhestand, nach wie vor mit Spaziergängen durch Berlin und dessen Umgebung.

Zwischen den Zeiten


Auszüge aus dem Tagebuch eines Hinterbliebenen


Heute, am 13. März 2001, am 81. Geburtstag meiner Cousine Ilse Albrecht wurde ihre Urne auf dem Moltkefriedhof in Lichterfelde beigesetzt. Die Zeremonie spielte sich so ab: Schon 30 Minuten vor der Trauerfeier erschien ich an der Grabstelle, um ein Licht anzuzünden, bevor die anderen wenigen Trauergäste erschienen. Hier am frühen Vormittag herrschte eine sprichwörtliche Friedhofsruhe.

Früher – in den letzten sechs Jahren – waren die Cousine und ich fast täglich hier, um das Grab ihrer Mutter doch recht übermäßig zu pflegen, vielleicht war es auch schon ein wenig Totenkult. Vor Jahren befand sich hier auch die Urne des Vaters. Aber diese Urne hatte der Bruder der Cousine klammheimlich zu sich nach Hause nach Irland mitgenommen, weil angeblich diese Grabstelle so verlottert gewesen sein soll. Dazu muss gesagt werden, dass die hinterbliebene Mutter bereits 92 Jahre alt war und die Tochter, also meine Cousine, zu diesem Zeitpunkt schon mit den Anfängen der parkinsonschen Krankheit zu tun hatte. Diese Realität des Gesundheitszustandes wurde bewusst verdrängt, um die bis dahin noch halbwegs rüstige Mutter nicht unnötig zu beunruhigen. Ab dem heutigen Datum werden sich wieder zwei Urnen vor dem Familiengrabstein befinden.

Aus der Ferne war ein zaghaftes Frühlingsgezwitscher wahrnehmbar, es handelte sich wohl um die ersten Boten der Jahreszeit. Es war ein schöner, sonniger Spätmorgen, klar und rein wie ein Diamant. Noch vor Stunden empfand ich alles ganz anders, denn seit Wochen graute mir vor diesem Tag, eigentlich schon seit dem Todestag. Und begriffen habe ich es eigentlich noch nicht, dass ein mir so nahestehender Mensch jetzt irgendwo im Nirgendwo sein sollte. Waren wir uns in den letzten Jahren doch immer nähergekommen wie eine Familie aus zwei Personen bestehend.

Inzwischen nun war das Ehepaar Schlawe aus Pankow vor der Kapelle am Friedhofseingang eingetroffen. Frau Schlawe hielt einen noch in Zellophanpapier verpackten großen Rosenstrauß in ihren Händen, ihr Gesicht dahinter war kaum zu sehen. Ilschens Bruder und ein weiterer Cousin aus Lübeck waren nun ebenfalls eingetroffen, beide sprachen laut mit dem Pfarrer wie auf einem Marktplatz. Der Pfarrer war mir ja bekannt, schon Tage zuvor hatte ich mit ihm alle Beerdigungsformalitäten einschließlich der erwähnenswerten Punkte für die Grabrede besprochen, also brauchten die beiden anderen Verwandten nur zur Beisetzung anzureisen.

Nach 30 Minuten hatte ich mich mit einem verlegenen Kopfnicken dann zur Trauergemeinde begeben. Der Pastor sagte, man könne nun schon hineingehen, wenn denn alle damit einverstanden seien. Nachdem nun in der Kapelle alle ihre Sträuße und Gebinde vor der Urne abgelegt hatten, räusperte sich der Pfarrer leise, dann begann er mit pathetischer Stimme ein Gebet. Nach wenigen Minuten ertönte vom Tonband sanfte Orgelmusik. Dann die kurze Gedenkrede von 15 Minuten.

Diese Rede drückte keineswegs auf die Tränendrüse wie so üblich bei solchen Anlässen, sondern die wesentlichen Ereignisse aus dem Leben der Verstorbenen wurden kurz und sachlich, aber sehr würdevoll erwähnt. Er sprach von der sorglosen Kindheit in Pommern, von der Flucht und dem frühen Tod ihres Mannes in russischer Kriegsgefangenschaft. Kurz erwähnte er, dass in den schweren Nachkriegsjahren ein Jude aus Galizien ihr und den Eltern die hilfreichen Hände reichte, dass später noch erfolgreiche Jahre kamen und schließlich im letzten Jahrzehnt eine unheilbare Krankheit mit schwerem Leiden. Diese Predigt war so überzeugend und einfühlsam, mein Gedanke war: Wie mächtig doch Worte sein können. Mit seinen 70 Jahren strahlte dieser Pfarrer noch eine lebensbejahende Vitalität aus, die allein überzeugte schon.

Von draußen tönte der ferne Glockenklang herein, die Kapellentür öffnete sich und das Morgenlicht überflutete uns geradezu. Die kleine Trauergemeinde setzte sich nun langsam in Bewegung. Wir folgten dem Friedhofsdiener, der die Urne auf Brusthöhe vorneweg trug, ganz nebenbei hüpfte eine Amsel, die uns bis zur Urnengrabstelle folgte. Fast lautlos war es jetzt auf dem Friedhof. Der Herr aus Lübeck, so fiel es mir erst dann auf, war fast hell gekleidet, zumal wir anderen alle dunkel und sehr dezent erschienen waren. Was mir während der Beisetzung noch äußerst unangenehm auffiel – es war schon peinlich -, der Herr zündete sich eine Zigarette an, dabei mit den Händen hektisch hin- und herfuchtelnd. Mit weit offenem Mund schaute Frau Schlawe mich an, ihr Entsetzen war unübersehbar.

Die Urne befand sich nun in der Gruft. Der Pfarrer warf auf die noch offene Grabstelle eine Hand voll Erde, einer nach dem anderen warf schweigend ebenfalls eine Hand voll Erde auf die Urne. Jetzt begann jeder, seinen Strauß möglichst am günstigsten zu platzieren. Nach meiner Erfahrung hätte der daneben stehende Friedhofsdiener jetzt ein Trinkgeld bekommen müssen, aber der Bruder aus Irland stand nur da wie ein Schaf vor der Schlachtbank.

Nun gingen wir alle zurück in Richtung Kapelle, dort angekommen blieb der Pastor mit einem fragenden Gesichtsausdruck stehen, worauf meinerseits der Vorschlag unterbreitet wurde, den Pastor hier gleich zu honorieren, wovon dieser auch sehr angetan schien. Der Bruder nun mit energischen Worten: »Nein, nein, bitte schicken Sie mir die Rechnung zu, benötige diese nämlich fürs Finanzamt.« Für einen Moment stockte mir der Atem. Jetzt verabschiedete sich der Pfarrer mit den Worten, er habe noch den nächsten Termin und schon war er verschwunden.

Es wurde nun vereinbart, dass wir uns Übriggebliebenen in einer guten Stunde zum Leichenschmaus am Bahnhof Lichterfelde West in einem gediegenen Restaurant treffen würden. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, dass die Cousine mich in den nächsten Wochen und Monaten in Alb- und Wachträumen mehr oder weniger gespenstisch und auch realistisch verfolgen würde. Auch kamen die ersten Selbstvorwürfe, nicht genug unternommen zu haben, um den Krankheitsverlauf eines Menschen erträglicher gestaltet zu haben.

Nach einer Stunde nun waren wir alle in einem sehr gepflegten Restaurant direkt am S-Bahnhof. Jeder bekundete dem Bruder hier nochmals sein Mitgefühl, obgleich jeder auch genau wusste, dass das Verhältnis der Geschwister in den letzten Jahren kein inniges mehr war. Meistens kam der Bruder aus Irland zur Schwester nur zum Schnorren, von einem echten Mitgefühl war nur selten etwas zu spüren, so wurde die Krankheit meistens als Hysterie abgetan.

Ohne mich hier nun ins rechte Licht zu setzen, den Trost durfte ich der alten Dame spenden. Vielleicht ist ja an mir auch ein Pfleger verloren gegangen? In ihren Angstzuständen lehnte Cousinchen sich immer ganz eng an mich wie ein verängstigtes Reh. Durch die Krankheit wohl bedingt, spürte ich ihre kurz auftretenden Hitzewallungen, Minuten später dann wieder die eiskalten Hände. Das alles war nun vorbei.

Im Restaurant unüberhörbar ein Geschnatter beim Leichenschmaus, sodass für meine Gedankengänge kein Raum mehr übrig blieb. Es wurde gespeist und getrunken und nochmals getrunken. Nach über 90 Minuten wurde mein Bedarf für den heutigen Tag gefüllt. Hier raus, und so meine Bitte, mich doch heimgehen zu lassen. Dieser Heimweg sollte weder mit Bus oder Bahn geschehen, sondern per Pedes, was durch Dahlem auch ganz entspannend war und noch nachträglich zur Besinnung beitragen sollte.

Endlich daheim angekommen. Hier auf meinem Sofa schien es möglich, sich gedanklich einfach zu verlieren, wie es Mutter nach getaner Arbeit früher immer sagte. Leider kam es nicht zu dieser inneren Ruhe. Es war mir ein Bedürfnis, alte Fotos und Ansichtskarten von der Cousine zu betrachten, die sie mir immer aus dem Urlaub sandte. Nochmals die Vergangenheit anschauend und durchleuchtend, wurden die Bilder von gestern und vorgestern wieder lebendig.

Dann erinnerte ich mich, dass am Jahresanfang ein Brief an die Kriminalpolizei Wiesbaden gesandt wurde. Auch dieses Schreiben sollte jetzt in aller Ruhe gelesen werden, ob denn meine Reaktion von damals zu emotional war oder doch für mich vielmehr eine gute Ventilfunktion hatte. Im Nachhinein – so empfand ich es schon jetzt – hatte mein Schreiben an die Kripo mir ein Gefühl der Erleichterung beschert und somit wohl doch noch einen Sinn gehabt. Trotzdem befürchtete ich, dass die nächtlichen Träume ein zwanghaftes Denken verursachen könnten. Da konnte und musste man mit einer Eigentherapie eine gewisse Entspannungstherapie entwickeln, damit ein eventueller Erregungspegel erst gar nicht ansteigen konnte.

Viele Menschen verkriechen sich in schwierigen Situationen in ihr Schneckenhaus, andere hingegen werden Alkoholiker, wiederum andere greifen zum Telefon und einige verirren sich sogar im Labyrinth ihrer eigenen Seele. Das alles wollte ich bei mir nicht zulassen, sondern meine Therapie begann im Wald. Schon in meiner Kindheit hatte der Wald mich verzaubern können. Hier begannen alle Antriebe zum Erhalt des Lebens neu zu keimen. Schon in der nächsten Woche sollte ein Wandertag stattfinden, auch sollten die Eindrücke notiert werden, um so später von...

Erscheint lt. Verlag 16.8.2016
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-7412-6890-9 / 3741268909
ISBN-13 978-3-7412-6890-8 / 9783741268908
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