Oberkante Unterlippe (eBook)

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2016 | 1. Auflage
304 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-12361-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Oberkante Unterlippe -  Stefan Schwarz
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Verliebt, vermählt, geschieden: die umwerfende Trennungskomödie von Stefan Schwarz Der Schauspieler Jannek Blume wird gern als Märchenprinz gebucht. Im richtigen Leben allerdings ist er schon ein paar Schritte weiter. Die Ehe mit der schönen Larissa war nämlich doch nicht die ganz große Romanze, und nun soll endlich auseinandergehen, was nie zusammengehörte: die Hamburger Chefarzttochter und der überimpulsive Sohn einer alleinerziehenden Berliner Köchin. Dummerweise ist da noch der kleine Timmi, ein kluges Kind und notorischer Terrorbolzen. Jannek legt es auf einen Sorgerechtsentscheid an und hat schnell die Bude voll mit Gutachtern und Experten. Ein Mandala aus Teufelskreisen - denn je länger der Streit dauert, umso «verhaltensorigineller» wird Timmi. Und umso schwerer kann Jannek seine Neigung zum Jähzorn beherrschen, die Larissa aber immer noch recht attraktiv findet. Jannek muss handeln: Er braucht quasi sofort eine Stiefmutter mit Nerven aus Stahl und was Besseres als Prinzenjobs, und er muss den mysteriösen Mann finden, der einst in tiefer DDR sein Erzeuger wurde und wohl einiges erklären könnte. Eine Geschichte, die ungewöhnlicher klingt, als sie ist. Eigentlich passiert sie jeden Tag irgendwo in Deutschland. Aber niemand kann so komisch davon erzählen wie Stefan Schwarz.

Stefan Schwarz, geboren 1965 in Potsdam, ist Journalist und Schriftsteller. Er schreibt Theaterstücke und für das Fernsehen, u.a. das Drehbuch zur ARD-Serie «Sedwitz», vor allem aber Kolumnenbände wie «Ich kann nicht, wenn die Katze zuschaut» (2008) und Romane wie «Das wird ein bisschen wehtun» (2012) oder «Oberkante Unterlippe» (2016). Die Verfilmung seines Romandebüts «Hüftkreisen mit Nancy» wurde 2019 mit großem Erfolg im ZDF ausgestrahlt. Seine Lesungen genießen Kultstatus. Stefan Schwarz lebt mit seiner Familie in Leipzig.

Stefan Schwarz, geboren 1965 in Potsdam, ist Journalist und Schriftsteller. Er schreibt Theaterstücke und für das Fernsehen, u.a. das Drehbuch zur ARD-Serie «Sedwitz», vor allem aber Kolumnenbände wie «Ich kann nicht, wenn die Katze zuschaut» (2008) und Romane wie «Das wird ein bisschen wehtun» (2012) oder «Oberkante Unterlippe» (2016). Die Verfilmung seines Romandebüts «Hüftkreisen mit Nancy» wurde 2019 mit großem Erfolg im ZDF ausgestrahlt. Seine Lesungen genießen Kultstatus. Stefan Schwarz lebt mit seiner Familie in Leipzig.

Aber ich war schon im Banne des Schicksals, als Larissa dann am nächsten Abend mit offenem rotgoldenem und grandios vernachlässigtem Haar, einem hinreißenden Bed Head, vor mir in ihrer Küche hin und her lief. Wir hatten erst eine halbe Flasche Wein im Stehen getrunken, Umzugs- und Wohnungs- und Berlin-so-im-Allgemeinen-Zeug gequatscht und den Fall des Radioanrufs erörtert. Ich hatte bedeutend am Küchenbord gelehnt, bis Larissa meine bewusst zurückhaltende Nachbarschaftlichkeit mit einem Löffel Muschelsud durcheinanderbrachte. Sie pustete, kostete und hielt ihn mir dann vor den Mund.

«Hier, probier mal auch! Ist okay so?»

Mir sank langsam der Unterkiefer, wie bei einem Kind, das Hustensaft kriegen soll. Was war denn das? Das war ja wie Küssen über Bande! Wir kannten uns doch gerade erst zwanzig Minuten! Beinahe hätte ich sie vor Glück an der Taille gefasst, als sie mir den Löffel in den Mund schob.

«Gekauft», sagte ich etwas holzklotzig.

Dann setzten wir uns an den schmalen Tisch vor dem Fenster. Larissa hatte eine feine, präzise Art, die Spaghetti mit der Gabel auf den Löffel zu drehen und dann in den Mund zu befördern; wie jemand Spaghetti isst, der als Kind schon Kleider anhatte, die man unter keinen Umständen bekleckern darf.

«Jannek Blume», entschied sich Larissa zielstrebig für das für sie spannendste Thema, «du hast gesagt, dass deine Mutter unbemannt blieb. Was war denn mit deinem Vater?»

«Keine Ahnung», erwiderte ich. «Ich kenne ihn nicht.»

«Hast du deine Mutter nie nach ihm gefragt?»

«Doch, aber sie hat gesagt, sie könne es mir nicht sagen. Und vor allem: Sie wolle es mir nicht sagen.»

«Und das hast du akzeptiert? Jeder Mensch will doch wissen, von wem er abstammt!»

«Ich nicht. Ich hab’s mir abgewöhnt.»

«Glaube ich nicht.»

«Larissa, meine Mutter ist eins fünfzig im Quadrat, hat eine dicke Brille und war Köchin. Sie war fast vierzig, als ich sie mich bekam. Wer immer mein Vater war, ich will es nicht wissen. Ich liebe meine Mutter, aber ich habe einen Spiegel.»

Larissa betrachtete mich und lachte einmal laut auf. Es klang, als müsse sie ihr Lachen einfangen, sobald es den Mund verlassen hatte.

«Ist es dir peinlich, dass deine Mutter womöglich mit einem stattlichen Mannsbild im Bett war?»

«Mir ist nur peinlich, dass es den beiden offenbar peinlich war.»

«Du solltest deinem Vater dankbar sein für dein Spiegelbild.»

Ich sagte: «Ja, danke auch!», und stach drei Muscheln auf die Gabel. Wer immer dieser eins fünfundachtzig Meter große, dunkle Typ mit dem markanten Kinn gewesen sein mochte, dem ich wie aus dem Gesicht geschnitten war, wo immer er meine Mutter getroffen hatte, es konnte sich nur um eine Geschichte handeln, deren Details mir auch nicht helfen würden, um es ganz vorsichtig auszudrücken. Ich kam lieber aus dem Nichts als aus dem Chaos.

«Nachrichtensprecher bist du also.»

«Ich bin kein richtiger Nachrichtensprecher. Ich bin eigentlich Schauspieler. Nachrichten spreche ich nur nebenbei.»

«Schauspieler, oho! Kann man dich irgendwo sehen? Im Fernsehen? Im Kino oder so?»

Ich überlegte, ob ich Larissa den Besuch einer Vorstellung im Theater am Park anbieten sollte, aber die nächsten Vorstellungen waren alle am Vormittag, und inmitten von krakeelenden Schülern wollte ich diese Frau eher nicht sitzen haben. Also tat ich, als hätte ich derzeit kein Engagement.

«Schwerer als Moderieren ist es jedenfalls. Wenn man nicht aufpasst, verspricht man sich. Aber wenn man zu sehr aufpasst, verspricht man sich auch. Es ist ein bisschen paradox.»

«Was war dein schlimmster Versprecher?»

«Bahnhofshuren. Die Bahnhofshuren werden pünktlich umgestellt.»

Larissa hielt sich prustend den Mund zu wie jemand, der gar nicht wusste, wie es ist, keine exzellenten Tischmanieren zu haben. Weil das so hübsch aussah, erzählte ich ihr gleich noch, wie ich beim Sprechen der Verkehrsmeldungen einmal bei «Hultschiner Damm» Reste eines gerade gegessenen Nussriegels in den Hals bekommen und dann auch noch die rettende «Räuspertaste» verfehlt und stattdessen auf die Regietaste gedrückt hatte, sodass nicht nur die Regie, sondern ganz Berlin mein halbminütiges Gekrächze und Geröchel in voller Lautstärke mitbekam.

Larissa studierte an der Hochschule der Künste Musiktherapie. Zum Beispiel Schmerzpatienten Linderung verschaffen, etwa mit Musik aus Klangschalen.

«So was funktioniert?», fragte ich.

«Aber ja doch. Klangmassagen können noch viel mehr. Dich energetisieren, die Chakren öffnen und deine Meridiane reinigen.»

«Ich habe dreckige Meridiane?»

Es sollte ein Witz sein, aber Larissa nickte überzeugt.

Dann funkelte sie mich mit schmalen Nixenaugen an, überlegte, ob ich jemand sein könne, der für eine spontane Klangreise empfänglich wäre, hieß mich schließlich aufstehen und mit ihr ins Zimmer gehen. Ich musste mich rücklings auf ihr Futonbett legen, das auf glänzenden Wurzelholzkugeln stand und irritierend nach herben Kokosfasern und zitronenfrischer Sommersprossenhaut gleichermaßen roch. Dann sank Larissa zwischen bergkristallenen Klangschalen in den Lotussitz, legte sich das Fuchshaar hinter die Ohren und begann, mit zwei Filzklöppeln langsam in den Schalen herumzustreichen. Noch ehe ich überhaupt etwas hörte, spürte ich es: Irgendwas rieselte in feinen Bahnen durch meinen Körper. Dann erst vernahm ich leises Singen, das den Schalen entströmte und begann, sich im Zimmer selbständig zu machen. Das kristallene Singen löste sich von seinem Ursprung, nahm die Form einer gewaltigen Ellipse an, wimmerte um mich herum und durch mich hindurch. Ich fühlte Blut und Lymphe gefälliger fließen, und die Nieren wurden mir irgendwie weit.

Und dann geschah es. Meine Blase füllte sich. Wo immer der piemontesische Weißwein sich bis zu dieser Minute in meinem Körper aufgehalten hatte, jetzt sammelte er sich sturzbachmäßig in meiner Blase. Larissa strich ein paar tiefere Töne, und der Harndrang nahm umgehend fordernde Ausmaße an. Ich krallte meine Hände in das Laken und sorgte mich, dass Larissa mit ihren Filzklöppeln Töne anstreichen könnte, die die quantenenergetische Entsprechung von «Wasser marsch!» enthielten. Die großen, geräumigen Klangschalen wurden für mich plötzlich mehr Schale als Klang: In meiner Phantasie rührte Larissa jetzt in zwei riesigen Kloschüsseln herum, die zu nichts anderem als rauschender Füllung verlockten. Nach ein paar Minuten völliger Versunkenheit ins Spiel hob Larissa ihren Kopf, um mich friedlich und freundlich anzulächeln, und erschrak. Sie hatte mich steif gerührt. Ich lag da, starr und geschockt von der Erkenntnis, dass jemand mit einem Musikinstrument die Kontrolle über meine Blasenfunktion übernehmen konnte.

«Du musst aber auch mal loslassen!», sagte Larissa.

«Auf keinen Fall!», presste ich hervor.

Dann war Schluss. Larissa legte ihre Klöppel beiseite und setzte sich zu mir auf das Futon. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und zog kritisch die Augenbrauen zusammen.

«Na ja», sagte sie. «Das war wohl eher nichts.»

«Es tut mir so leid, aber ich muss pinkeln.»

Larissa war kurioserweise nicht überrascht. Ihr Blick wurde mild.

«Das sind die ungeweinten Tränen, die sich da in deiner Blase gesammelt haben», sagte sie mit gespenstischer Ruhe. «Ich glaube, ich habe eben etwas in dir gelöst, was dich schon lange blockierte.»

Sie strich mit den Fingerspitzen ihrer rechten Hand frivol über meine Brust, meinen Bauch, bis zu meinem Gürtel, wo sie stoppte und kurz mit einem Finger auf meinen prallen Unterleib tippte.

«Vielleicht hat uns da etwas zusammengeführt, etwas, das wollte, dass ich dich heile …»

Ich hatte noch nie mit einer Frau zu tun gehabt, die mich heilen wollte.

«Darf ich vorher deine Toilette benutzen?»

Der zumindest in meinem Körper ausschließlich harntreibende Effekt ihrer Klangschalenspielerei sollte sich als dauerhaft erweisen. Was immer sie in unserem späteren gemeinsamen Leben an Tönen aus den Schüsseln hervorlockte, es war stets wie ein Befehl für mich, zu gehen und Wasser abzuschlagen. Darüber war ich, wie Sie sich denken können, nicht gerade froh. Ich wollte, dass die zauberhafte Aura, die Larissa in meinen Augen umgab, sich auch auf all ihr Tun erstreckte. Alles, was sie berührte, sollte doch fortan mit Glück und Segen behaftet sein. Every little thing she did was magic. Bis auf dies.

Aber ich sah es noch nicht als den feinen Riss, der es tatsächlich war. Ich war verliebt. Ich sah nicht, dass es Larissa, wie alle Helfer und Heiler, gar nicht leiden konnte, wenn sich der zur Heilung Erkorene der Hilfe und Heilung verweigerte.

Bei unserem zweiten Essen, der zwingend logischen Gegeneinladung, die drei Tage später in meiner Wohnung stattfand, gab es Rehrücken mit Pumpernickelsauce. (Klingt nach Haute Cuisine, hat aber eigentlich nur drei Zutaten und geht so schnell, dass ein Betrunkener länger braucht, ein Brot zu belegen. Und es kostet, das nur nebenbei, weniger als zwei Big Macs, weil der Rehrücken von Aldi war, was ja aber wohl egal ist, es gibt schließlich keine Massenrehhaltung.) Sowie als Dessert heiße Birnen mit süßem Zimtfrischkäse im Orangendip. Hey, ich bin der Sohn einer Köchin und habe mit sechs Jahren schon Mehlschwitzen gerührt. Ich kann kochen, aber ich mache kein großes Gewese drum.

Wir redeten stundenlang und bestanden beide nur aus Zustimmung und Ergänzung. Irgendwann war es halb drei, und Larissa täuschte Abschiedsvorbereitungen an. Die Langsamkeit ihres Aufstehens, die gedehnten Bekundungen, wie schön der Abend gewesen wäre,...

Erscheint lt. Verlag 22.7.2016
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Familie • Humor • Liebeskomödie • Scheidungskind • Trennung
ISBN-10 3-644-12361-6 / 3644123616
ISBN-13 978-3-644-12361-8 / 9783644123618
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