Wolf -  M. G. Scultetus

Wolf (eBook)

Drama um eine autistische Familie

Helmut Schareika (Herausgeber)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
332 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7412-3569-6 (ISBN)
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Der Autor legt hier in Romanform eine inhaltlich mitreißende authentische Familiengeschichte vor, deren Thematik »Autismus« auch eines breiten Sachinteresses sicher sein darf. Den Mittelpunkt dieses »Dramas um eine autistische Familie« bildet Wolf, hörbehindert, motorisch benachteiligt, kurz ?Autist?, der zudem mit Oesophagusatresie (undurchlässige Speiseröhre) geboren wurde. Wolf wurde von Freund und Feind aufgegeben und für verrückt erklärt; die engsten Verwandten verweigerten jede Hilfe und verwiesen auf das Asyl für geistig Behinderte. In einem Anfall von ?Wahnsinn? übernehmen die Eltern seine Therapie (unterstützt vom Autismus-Therapieinstitut Langen) sowie die vollständige schulische Ausbildung des kaum Beschulbaren auf eigene Faust und erreichen nach Jahren des Kampfes, geschüttelt von blanker Verzweiflung und getrieben von neuer Hoffnung, im Ergebnis Sensationelles: Wolf ist seit über fünfzehn Jahren selbständig, lebt in einer wunderschönen Wohnung im Schwarzwald und arbeitet ebenso lange, ohne jemals krank gewesen zu sein, als Informatiker. Das Drama von Wolfs Werdegang verbindet der Verfasser mit einer Schilderung des familiären Hintergrundes samt a priori vorhandener Behindertenfeindlichkeit; erschütternd, wie der Autor erst Mitte seines Lebens durch eigenes Forschen herausfand, dass seine ältere Schwester von den eigenen Eltern im März 1945 in einem Krankenhaus der Todesspritze überantwortet worden war. Das Buch ist nicht nur für am Autismus Interessierte bestimmt.

Meginhardus-Guilelmus Scultetus (latinisiertes Pseudonym für: Meinhard-Wilhelm Schulz) ist von Fach promovierter Latinist und Historiker und wirkt als Romanautor, Erzähler und Übersetzer. Seine sonstigen Romane und Erzählungen schöpfen einerseits aus seinem fachhistorischen Wissen (Zeitfelder: römische Antike und Mittelalter), andererseits aus seiner Neigung zu spannenden Grusel- oder Horrorthemen, auch aus der englischen Literatur (von daher auch »Gruselschulz« genannt).

Warum habe ich ihm meinen Lieblingsfisch geschenkt, dachte ich jetzt, auf dem Ekelsofa hockend, denke ich, und ich erinnere mich noch daran, wie er aussah: elegant, länglich, silbrig schimmernd, schwarzquergemustert mit Streifen, die nicht von oben bis unten durchgingen sondern in der Mitte des Leibes spitz endeten, teils von unten nach oben kommend, teils von oben nach unten zielend.

Oft bin ich in Bertholds Abwesenheit hinüber geschlichen, ihn zu besuchen und ihm Futter zu streuen. Doch bald darauf konnte ich Berthold von einer ganz anderen Seite erleben: Ich war in die typischen Flegeljahre geraten. Das himmlische Fach Mathematik, das er ebenso inbrünstig liebte, wie ich es aus innerster Seele hasste und immer noch hasse, sorgte dafür dass ich den Anschluss verloren hatte, und das bei den damaligen Versetzungsbedingungen an der von Vater auserkorenen Eliteschule, deren Anforderungen später der kleine Bruder Wilfried nicht mehr gewachsen war:

Jetzt hieß es also, sitzen bleiben oder Nachhilfe nehmen. Nun ist Mutter Lehrerin für Mathematik an Realschulen, somit für Nachhilfestunden geeignet und hat ja auch, Wolf ausgenommen, allen möglichen Kindern, sogar angehenden Abiturienten bis zuletzt Nachhilfe erteilt, aber damals war sie, wie man verlogen behauptete, auf Anraten des Arztes, in Wirklichkeit nur, um dem Ehemann eine Zeitlang zu entfliehen, auf eine Kur nach Bad Mergentheim gereist, wo sie übrigens das Stuttgarter Kammerorchester unter Karl Münchinger erlebt hat, und es ist ein Jammer, wie unbekannt es in der Zeit nach Münchinger geworden ist.

Vor ihrer Abreise zur Mergentheimer Kur, die nur eine zeitweilige Flucht vor dem ausufernden Treiben unseres Vaters war, übertrug sie die Nachhilfe in Mathematik und somit die Verantwortung für mich und meine Versetzung Berthold, dem angehenden Mathematiklehrer.

Von entsprechenden Vorahnungen geplagt schlich ich also einige Male in sein Zimmer hinüber, bestaunte dort sein Aquarium, in dem sich meine Everettsbarbe tummelte, und von der ganzen mir verhassten Mathematik, die er ungeduldig lehrte, habe ich nichts begriffen. Dafür flüsterte er mir fast ununterbrochen nette Koseworte ins Ohr, wie, »du Depp, du Trottel, du Blödmann, nichts kapierst du, nein, das ist verschwendete Zeit, sich mit dir abzugeben«, und ähnliche Sprüche mehr, bis ich den Entschluss fasste, lieber sitzen zu bleiben als ihn, den zur Überheblichkeit Erzogenen, wenn nicht gar in sie hinein Geborenen, auch nur einmal noch um Hilfe zu bitten.

Mutter kehrte dann zurück, fest entschlossen, Vaters Begießen fremder Gärten wieder zu ertragen, und unter ihrer Obhut fand ich in kürzester Zeit den verlorenen Anschluss wieder; aus dem mangelhaft des Zwischenzeugnisses wurde eine befriedigend, obwohl ich im zweiten Halbjahr eigentlich die Note gut verdient gehabt hätte, aber, so der typische Mathematiklehrer, das erste Halbjahr sei angemessen zu berücksichtigen:

Auf dem täglichen Weg zum Schulbus, diesen vierhundert Metern vom Elternhaus zur Haltestelle, ging Berthold von nun an noch viel weiter entfernt vor mir her, als hätte ich die Pest; ohne mich zu beachten, ist er affektiert auf den Zehenspitzen wippend fünfzig Meter vor mir hergegangen, betont leichtfüßig, mich keines Blickes würdigend, hat sich in den am weitesten von mir entfernten Winkel des Busses gehockt und mit allen möglichen Leuten gesprochen, nur nicht mit mir, nie!

So war es auch im Schulhof, so dass es sich niemand vorstellen konnte, wir hätten etwas miteinander zu tun, geschweige denn, wir wären verwandt. So war es und so ist es und so bleibt es, dachte ich, auf dem scheußlichen Sofa sitzend, und denke es auch jetzt, mein herzallerliebster Leser, wenn ich Dir diese Zeilen hier niederschreibe, jedenfalls meistens, und noch in Vaters letztem Gartenjahr, als ich mit Berthold zusammen die Drähte für ein Spalier ziehen und befestigen sollte, machte er Bemerkungen über meine Ungeschicklichkeit, sagend, der Vater sei mit seiner einen linken Hand geschickter als ich mit meinen beiden linken Händen zusammen, während ich ihn vergebens auf die Schwierigkeiten hinzuweisen versuchte, welche mir meine Augen beim Sehen und Erkennen der Ösen bereiteten, durch welche die Drähte zu ziehen waren.

Doch rasch zurück zu den Zeiten meiner Kindheit: Ich unternahm noch weitere Versuche, seine Zuneigung zu gewinnen, vergebens, wie immer: Wie ja jeder weiß, der mich kennt, bin ich von Liebe zur Natur erfüllt, und der Aufenthalt im Wald ist mir nach wie vor der größte Genuss. Damals hätte ich nur zu gerne die Namen der Pflanzen kennen gelernt, die uns überall begegnen. Berthold hatte da keine Schwierigkeiten, denn er war samt oben genanntem Heinrich, der bei der Zerstörung meiner Freundschaft mit Detlev eine unrühmliche Rolle gespielt hatte, der Lieblingsschüler des Biologieschullehrers Fritz Kuntze, eines einst anerkannten Botanikers und Heimatforschers. Ständig unternahm dieser mit seinen Lieblingsschülern, darunter auch Berthold und Heinrich, seine Exkursionen, auf denen man ununterbrochen und unverdrossen am Botanisieren war, und ich hatte allmählich Lust, mich diesem Treiben anzuschließen, um meine fehlenden Kenntnisse auf diesem Sektor, die mir bis heute Verdruss bereiten, zu überwinden.

Also setzte ich Berthold durch das Einschalten der Mutter unter Druck, weil er mir ja sonst die kalte Schulter gezeigt hätte, und er sah sich eines Tages dazu gezwungen, mich auf einem dieser Ausflüge mitzunehmen. Auf ging‘s an einem herrlichen Frühsommertag, mit der Omnibuslinie des längst von der Bildfläche verschwundenen Bergsträßer Reisebüros von Jugenheim nach Heppenheim und von dort zu Fuß über das Hambacher Tal, in welchem unser Nesthäkchen Wilfried heutzutage in seinem großen alten Spießerhaus residiert, weit hinein in den Odenwald.

Kuntze machte den Chef und war von einigen Erwachsenen sowie Berthold und Heinrich umringt. Man wanderte und wanderte, man botanisierte und botanisierte, was soviel heißt wie, man erntete die verrücktesten Pflanzen und quetschte sie an Ort und Stelle in eine Botanisierpresse, die eigens zu diesem Zweck im Rucksack mit transportiert wurde, zwischen das Zeitungspapier, das in diesen Pressen zentimeterdick zusammen gezwängt war, um die Pflanzen später, wenn sie hinreichend getrocknet waren, zuhause in ein Album, ein Herbarium, mit der entsprechenden Beschriftung einzukleben, ein an sich schönes Hobby, das auch ich gerne zu meinem eigenen gemacht hätte, aber es kam ganz anders, als ich es erwartet hatte:

Die älteren Herrschaften waren mir ebenso unbekannt wie ich ihnen und wussten auch gar nicht, was sie mit mir anfangen sollten, während ich mich nicht traute, diese fremden Menschen anzusprechen und um Unterweisung zu bitten. Berthold und Heinrich aber hielten sich in der größtmöglichen Distanz zu mir auf, vorsätzlich, wie es sich verstehen lässt, dachte ich auf dem Sofa, denke ich. Was also tun?

Scheinbar lässig schlenderte ich nebenher, langweilte mich unsäglich, schwitzte in der Frühsommersonnenhitze und fasste den Beschluss, nie wieder an einer botanischen Exkursion teilzunehmen und habe diesen damaligen Beschluss bis heute durchgehalten, nicht ohne Bedauern freilich, weil ich auch heute noch fast keine Pflanzen, die ich überall und immer wieder sehe, mit Namen kenne, während Berthold, der ja alle möglichen Pflanzen kennt, inzwischen lieber die Pfeife schmauchend am Kamin hockt und Däumchen dreht.

Obwohl ich mir also geschworen hatte, nie wieder mit diesem zur Hölle gefahrenen Volksschullehrer Kuntze botanisieren zu gehen, machte ich dann noch einen allerletzten, unwiderruflich, so schwor ich mir, aller-allerletzten Versuch, mir das Herz des Bruders zu erobern, den aller-allerdümmsten Versuch:

Oft, so hörte ich nämlich, fuhr er alleine oder zusammen mit einem der beiden Heinriche – er hatte neben dem Ungeheuer, das Detlevs Roller ruinieren geholfen hatte noch einen gleichnamigen Vogelspezialisten zum Freund, der vor einigen Jahren verstorben ist – hinüber an den Kühkopf, wo es von seltenen Vögeln angeblich nur so wimmelt. Dieser Kühkopf aber ist nichts anderes als das große Naturschutzgebiet inmitten der größten nach der Kanalisierung des Rheines übrig gebliebenen Altrheinschlinge, also gewissermaßen eine Rheininsel westlich von Darmstadt.

Dorthin also wollte ich auch einmal kommen und setzte – wiederum über eine Intervention der Mutter – durch, dass mich Berthold eines Sonntags mitnehmen musste, ob er wollte oder nicht, wohl wissend, dass er es wahrscheinlich nicht wollte und liebend gerne alleine gefahren wäre. Berthold besaß bereits ein neues chromblitzendes Dreigangfahrrad; einen rostigen getriebelosen Drahtesel, einen Schleifer nannte ich mein eigen, das abgelegte, aufgebrauchte und ausgeleierte Rad des großen Bruders. Ich war ja auch sonst daran gewöhnt, seine alten Sachen aufzubrauchen.

Das waren nun Unterschied und Ausgangsposition eines unfairen Wettrennens. Naturgemäß versuchte er es schon auf dem Hinweg, mich abzuhängen, fürs Erste vergebens, denn ich hing zäh an seinem Hinterrad und nutzte den...

Erscheint lt. Verlag 12.5.2016
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-7412-3569-5 / 3741235695
ISBN-13 978-3-7412-3569-6 / 9783741235696
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