Die Knochenuhren (eBook)

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2016 | 1. Auflage
816 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-04721-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Knochenuhren -  David Mitchell
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An einem verschlafenen Sommertag des Jahres 1984 begegnet die junge Holly Sykes einer alten Frau, die ihr im Tausch für «Asyl» einen kleinen Gefallen tut. Jahrzehnte werden vergehen, bis Holly Sykes genau versteht, welche Bedeutung die alte Frau dadurch für ihre Existenz bekommen hat. Die Knochenuhren folgt den Wendungen von Holly Sykes' Leben von einer tristen Kindheit am Unterlauf der Themse bis zum hohen Alter an Irlands Atlantikküste, in einer Zeit, da Europa das Öl ausgeht. Ein Leben, das gar nicht so ungewöhnlich ist und doch punktiert durch seltsame Vorahnungen, Besuche von Leuten, die sich aus dem Nichts materialisieren, Zeitlöcher und andere kurze Aussetzer der Gesetze der Wirklichkeit. Denn Holly - Tochter, Schwester, Mutter, Hüterin - ist zugleich die unwissende Protagonistin einer mörderischen Fehde, die sich in den Schatten und dunklen Winkeln unserer Welt abspielt - ja, sie wird sich vielleicht sogar als deren entscheidende Waffe erweisen. Metaphysischer Thriller, moralische Betrachtung und Chronik unseres selbstzerstörerischen Handelns - dieser kaleidoskopische Roman mit seiner Vielfalt von Themen, Schauplätzen und Zeiten birst vor Erfindungsreichtum und jener Intelligenz, die David Mitchell zu einem der herausragenden Autoren seiner Generation gemacht hat.

David Mitchell, geboren 1969 in Southport, Lancashire, studierte Literatur an der University of Kent, lebte danach in Sizilien und Japan. Er gehört zu jenen polyglotten britischen Autoren, deren Thema nichts weniger als die ganze Welt ist. Für sein Werk wurde er u.a. mit dem John-Llewellyn-Rhys-Preis ausgezeichnet, zweimal stand er auf der Booker-Shortlist. 2011 erhielt er den Commonwealth Writers' Prize für «Die tausend Herbste des Jacob de Zoet», 2015 den World Fantasy Award für «Die Knochenuhren». Sein Weltbestseller «Der Wolkenatlas» wurde von Tom Tykwer und den Wachowski-Geschwistern verfilmt. David Mitchell lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Clonakilty, Irland. Times, Guardian und Sunday Express wählten «Utopia Avenue» (dt. 2022) zum «Book of the Year».

David Mitchell, geboren 1969 in Southport, Lancashire, studierte Literatur an der University of Kent, lebte danach in Sizilien und Japan. Er gehört zu jenen polyglotten britischen Autoren, deren Thema nichts weniger als die ganze Welt ist. Für sein Werk wurde er u.a. mit dem John-Llewellyn-Rhys-Preis ausgezeichnet, zweimal stand er auf der Booker-Shortlist. 2011 erhielt er den Commonwealth Writers' Prize für «Die tausend Herbste des Jacob de Zoet», 2015 den World Fantasy Award für «Die Knochenuhren». Sein Weltbestseller «Der Wolkenatlas» wurde von Tom Tykwer und den Wachowski-Geschwistern verfilmt. David Mitchell lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Clonakilty, Irland. Times, Guardian und Sunday Express wählten «Utopia Avenue» (dt. 2022) zum «Book of the Year». Volker Oldenburg lebt in Hamburg. Er übersetzte unter anderem Colum McCann, Oscar Wilde, T Cooper und Dinaw Mengestu. Für seine Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis.

30. Juni


Ich reiße die Vorhänge auf, und da ist der durstige Himmel und der breite Fluss voll mit Booten und Schiffen, aber ich denke schon wieder an Vinnys schokoladige Augen, Shampooschaum auf Vinnys Rücken, Schweißperlen auf Vinnys Schultern, an Vinnys schelmisches Lachen, und mein Herz tickt aus, o Gott, wäre ich doch jetzt bei Vinny in der Peacock Street und nicht in meinem dämlichen Zimmer. Die Worte kamen ganz von selber gestern Abend: «Ich bin soo verliebt in dich, Vin», und er blies eine Rauchwolke ins Zimmer und sagte mit Prinz-Charles-Stimme: «Ich muss zugeben, auch ich empfinde unsere Zusammenkünfte als ausgesprochen vergnüglich, Holly Sykes.» Ich hab mich weggeschmissen vor Lachen, obwohl, wenn ich ehrlich bin, war ich ein bisschen sauer, weil er nicht auch von Liebe gesprochen hat. Aber Männer stellen sich halt bescheuert an, wenn’s darum geht, über Gefühle zu reden, das steht in jeder Zeitschrift. Zu blöd, dass ich ihn jetzt nicht anrufen kann. Wann erfinden sie endlich Telefone, mit denen du jeden jederzeit überall erreichen kannst. Er fährt jetzt auf der Norton zur Arbeit, in der Lederjacke mit dem LED ZEP-Schriftzug aus Nieten. Im September, wenn ich sechzehn werde, macht er mit mir eine Motorradtour.

Unten schlägt eine Schranktür zu.

Mam. Kein anderer würde sich trauen, so laut mit Türen zu knallen.

Ob sie es weiß?, fragt eine verzerrte Stimme.

Nein. Vinny und ich waren viel zu vorsichtig.

Das sind die Wechseljahre. Mams, meine ich. Ganz sicher.

Fear of Music von den Talking Heads liegt auf dem Plattenteller, und ich setze die Nadel auf. Vinny hat mir die LP geschenkt, an dem Samstag, an dem wir uns bei Magic Bus Records wiederbegegnet sind. Die Platte ist spitze. Es ist nicht ein schwaches Stück drauf, aber «Heaven» und «Memories Can’t Wait» gefallen mir besonders. Vinny war in New York und hat die Talking Heads live gesehen. Sein Kumpel Dan hat für die Security gearbeitet und ihn nach dem Konzert in den Backstage-Bereich geschleust, wo Vinny dann mit David Byrne und der Band abhing. Wenn er nächstes Jahr wieder hinfährt, nimmt er mich mit. Beim Anziehen bemerke ich die vielen Knutschflecke und wünsche mir, ich könnte heute Abend wieder zu Vinny gehen, aber er trifft sich mit ein paar Freunden in Dover. Männer können es nicht ab, wenn Frauen eifersüchtig sind, also lasse ich mir nichts anmerken. Meine beste Freundin Stella ist in London, auf dem Camden Market nach Secondhand-Klamotten stöbern. Mam sagt, ich bin noch zu jung, um ohne Erwachsenen nach London zu fahren, also hat Stella Ali Jessop mitgenommen. Mein größtes Highlight heute ist, im Pub staubzusaugen, damit ich meine drei Pfund Taschengeld bekomme. Ganz toll! Danach muss ich für die Prüfungen nächste Woche lernen. Am liebsten würde ich einfach ein leeres Blatt abgeben und der Schule verklickern, wo sie sich den Satz des Pythagoras, Herr der Fliegen und den Lebenszyklus der Würmer hinstecken können. Soll ich?

Ja. Vielleicht mache ich das wirklich.

 

Unten in der Küche herrscht Antarktis-Stimmung. «Morgen», sage ich, aber nur Jacko, der malend am Fenster sitzt, blickt auf. Sharon lümmelt in der Sitzecke und guckt einen Zeichentrickfilm. Dad spricht unten in der Diele mit dem Lieferanten – der Bierlaster brummt draußen vorm Pub. Mam schneidet Äpfel klein und straft mich mit Schweigen. «Was ist los, Mam, habe ich was ausgefressen?», soll ich jetzt fragen, aber da kann sie lange warten. Anscheinend hat sie mitgekriegt, dass ich gestern Abend spät zu Hause war, aber soll sie das Thema doch selber ansprechen. Ich gieße Milch über meine Weetabix und setze mich an den Tisch. Mam scheppert mit dem Topfdeckel und kommt zu mir rüber. «Und? Was hast du zu deiner Entschuldigung zu sagen?»

«Dir auch einen guten Morgen, Mam. Das wird wieder ein heißer Tag.»

«Was hast du zu deiner Entschuldigung zu sagen, Fräulein?»

Im Zweifelsfall immer das Unschuldslamm spielen. «Was meinst du?»

Ihr Blick bekommt etwas Tückisches. «Um welche Uhrzeit bist du zu Hause gewesen?»

«Ach so, das, ja, es ist ein bisschen später geworden, tut mir leid.»

«Zwei Stunden sind nicht ‹ein bisschen später›. Wo warst du?»

Ich löffle meine Weetabix. «Bei Stella. Hab die Zeit vergessen.»

«Ach, das ist ja sonderbar. Um zehn habe ich nämlich Stellas Mutter angerufen, weil ich wissen wollte, wo du so lange steckst, und weißt du, was sie gesagt hat? Du hättest dich schon vor acht auf den Weg gemacht. Wer lügt hier, Holly? Du oder Stellas Mutter?»

Scheiße. «Ich war noch spazieren.»

«Und wo warst du spazieren?»

«Am Fluss, was dagegen?», erwidere ich spitz.

«Hat dich dein kleiner Spaziergang flussaufwärts oder flussabwärts geführt?»

Ich zögere einen Moment. «Ist doch egal, oder?»

Im Trickfilm fliegt etwas in die Luft. «Stell die Glotze aus und mach die Tür von außen zu, Sharon», blökt Mam.

«Du bist gemein! Holly hat doch die Schimpfe verdient.»

«Raus, Sharon, du auch, Jacko, ich will –» Aber Jacko hat sich schon verkrümelt. Als Sharon draußen ist, fällt Mam wieder über mich her. «Und du warst natürlich alleine spazieren

Woher kommt bloß das eklige Gefühl, dass sie mir eine Falle stellen will? «Ja.»

«Wie weit bist du denn gegangen, so ganz alleine?»

«Willst du Meilen oder Kilometer?»

«Kann es sein, dass dich dein kleiner Spaziergang in die Peacock Street zu einem gewissen Vincent Costello geführt hat?» Die Küche fängt an sich zu drehen, und ich wende den Blick zum Fenster. Auf der anderen Flussseite hebt ein Strichmännchen sein Fahrrad von der Fähre. «Hat es dir auf einmal die Sprache verschlagen? Ich helfe deinem Gedächtnis gerne auf die Sprünge: Gestern Abend um zehn hast du im Wohnzimmer das Rollo runtergezogen, du hattest ein T-Shirt an und nicht viel mehr.»

Stimmt, ich bin nach unten gegangen, um Vinny ein Bier zu holen. Stimmt, ich habe das Rollo im Wohnzimmer runtergezogen. Stimmt, es ist jemand vorbeigekommen. Keine Panik, hab ich gedacht. Wie wahrscheinlich ist es schon, dass dieser Jemand dich kennt? Mam spekuliert darauf, dass ich einknicke, aber da hat sie sich geschnitten. «Du bist als Barfrau unterfordert, Mam. Du solltest beim MI5 die Abteilung Spitzel leiten.»

Da ist er, der vernichtende Kath-Sykes-Blick. «Wie alt ist er?»

Jetzt reicht’s aber! «Das geht dich nichts an.»

Ihre Augen werden schlitzschmal. «Vierundzwanzig, soweit ich weiß.»

«Warum fragst du dann, wenn du es eh schon weißt?»

«Weil sich ein vierundzwanzigjähriger Mann strafbar macht, wenn er sich an einer fünfzehnjährigen Schülerin vergreift. Er könnte dafür ins Gefängnis wandern.»

«Im September werde ich sechzehn, und ich schätze mal, die Kenter Polizei hat Wichtigeres zu tun. Ich bin alt genug, um selber zu entscheiden, mit wem ich zusammen sein will.»

Mam steckt sich eine Marlboro an. Ich würde jetzt alles für eine geben. «Wenn ich deinem Vater davon erzähle, macht er Hackfleisch aus diesem Costello.»

Klar, ab und zu muss Dad ein paar Suffköppe vor die Tür setzen, das muss jeder Wirt, aber ein Hackfleischmacher ist er bestimmt nicht.

«Brendan war auch erst fünfzehn, als er mit Mandy Fry gegangen ist, und wenn du glaubst, die beiden hätten nur auf der Schaukel gesessen und Händchen gehalten, täuschst du dich. Kann mich nicht erinnern, dass du ihm da mit Gefängnis gedroht hast.»

Sie sagt es so deutlich, als hätte ich einen Hirnschaden: «Bei – Jungs – ist – das – was – anderes.»

Ich mache ein genervtes Das-glaube-ich-jetzt-einfach-nicht-Geräusch.

«Eins sage ich dir, Holly, diesen … Autoverkäufer siehst du nur über meine Leiche wieder.»

«Weißt du was, Mam? Ich treffe mich, mit wem es mir passt!»

«Regeländerung.» Mam drückt ihre Kippe aus. «Ab morgen fahre ich dich jeden Tag zur Schule und hole dich auch wieder ab. Du gehst nicht mehr aus dem Haus, außer ich, dein Vater, Brendan oder Ruth begleiten dich. Wenn ich diesen Kinderverführer noch einmal in deiner Nähe sehe, greife ich sofort zum Hörer und rufe die Polizei an – das schwöre ich, bei allem, was mir heilig ist. Außerdem – außerdem informiere ich seinen Arbeitgeber, dass er es mit minderjährigen Schülerinnen treibt.»

Zähe Sekunden sickern dahin, bis die Botschaft ganz angekommen ist.

Meine Tränendrüsen zucken, aber den Triumph gönne ich diesem weiblichen Hitler nicht! «Wir sind hier nicht in Saudi-Arabien! Du kannst mich nicht einfach einsperren!»

«Solange du unter unserem Dach haust, hältst du dich an unsere Regeln. Als ich in deinem Alter war –»

«Ja, ja, ja, du hattest zwanzig Brüder, dreißig Schwestern und vierzig Großeltern und musstest jeden Tag aufs Kartoffelfeld, weil, das Leben in Irland war ja ach so schwer damals. Aber wir sind hier in England, Mam, England! In den Achtzigern! Und wenn in Scheiß-West-Cork alles so wahnsinnig toll gewesen ist, frage ich mich, warum du überhaupt nach –»

Watsch! Ein Schlag auf die linke Wange.

Wir starren einander an: ich vor Schreck zitternd, sie so wütend, wie ich es noch nie erlebt habe, und – so scheint es – in dem Wissen, dass sie gerade etwas kaputt gemacht hat, was sich nie mehr kitten lässt. Wie eine Siegerin stolziere ich wortlos aus der Küche.

 

Ich weine bloß ein bisschen, kein...

Erscheint lt. Verlag 11.3.2016
Übersetzer Volker Oldenburg
Zusatzinfo Mit 7 s/w Abb.
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte England • E.T.A. Hoffmann • Holly Sykes • Irak • Mexiko • Schweiz • Science-fiction • Seelenwanderung • übersinnliche Phänemene • Übersinnliche Phänomene • USA • Wunder
ISBN-10 3-644-04721-9 / 3644047219
ISBN-13 978-3-644-04721-1 / 9783644047211
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