Der glückliche Prinz und andere Geschichten - The Happy Prince and Other Tales -  Oscar Wilde

Der glückliche Prinz und andere Geschichten - The Happy Prince and Other Tales (eBook)

Vollständige Ausgabe - zweisprachig: deutsch/englisch - bilingual: German/English (Klassiker der ofd edition)

(Autor)

ofd edition (Herausgeber)

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2015 | 1. Auflage
142 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7386-5475-2 (ISBN)
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Oscar Wilde ist vielen Lesern vor allem dank seines Romans "Das Bildnis des Dorian Gray" ein Begriff. Doch der irische Freigeist hat auch Märchen geschrieben. Fünf ebenso phantasie- wie anspruchsvolle Geschichten umfasst seine erste Märchensammlung "Der glückliche Prinz und andere Geschichten". Neben den englischsprachigen Originalfassungen enthält der Band auch die deutschsprachigen Textversionen, die neu übersetzt wurden.

Oscar Wilde (1854 - 1900), irischer Schriftsteller und Dramatiker, vor allem bekannt als Autor des Romans "Das Bildnis des Dorian Gray".

Der glückliche Prinz



Über der Stadt auf einer hohen Säule stand die Statue des glücklichen Prinzen. Er war ganz mit dünnen Blättern von reinem Gold überzogen, als Augen besaß er zwei strahlende Saphire, und ein großer roter Rubin glühte auf dem Griff seines Schwertes.

 

Er wurde auch wirklich sehr bewundert. „Er ist so schön wie ein Wetterhahn“, bemerkte einer der Ratsherren, der nach dem Ruf strebte, ein Kunstkenner zu sein. „Nur ist er nicht ganz so nützlich“, fügte er hinzu, denn er befürchtete, die Leute könnten ihn für unpraktisch halten, und genau das war er wirklich nicht.

 

„Warum kannst Du nicht wie der glückliche Prinz sein?“, fragte eine vernünftige Mutter ihren kleinen Jungen, der schrie, weil er den Mond haben wollte. „Der glückliche Prinz denkt nicht im Traum daran, nach etwas zu schreien.“

 

„Schön, dass es jemanden auf der Welt gibt, der ganz glücklich ist“, murrte ein verbitterter Mann, als er einen Blick auf die wundervolle Statue warf.

 

„Er sieht genauso aus wie ein Engel“, sagten die Waisenkinder, als sie in ihren, hellroten Mänteln und den reinen, weißen Lätzchen aus dem Dom kamen.

 

„Woher wisst Ihr das denn?“, fragte der Mathematiklehrer. „Ihr habt doch nie einen Engel gesehen.“

 

„Oh doch, in unseren Träumen“, antworteten die Kinder; und der Mathematiklehrer runzelte die Stirn und blickte sehr streng drein, denn er mochte es nicht, dass Kinder träumten.

 

Eines Abends flog eine kleine Schwalbe über die Stadt. Ihre Freunde waren schon vor sechs Wochen nach Ägypten geflogen, aber sie war zurückgeblieben, denn sie hatte sich in das allerschönste Schilfrohr verliebt. Sie hatte es bei Frühlingsbeginn getroffen, als sie hinter einer dicken, gelben Motte den Fluss herflog, und sie war so durch seine schlanke Gestalt angezogen worden, so dass sie damals halt gemacht hatte, um mit ihm zu reden.

 

„Soll ich Dich lieben?“, hatte die Schwalbe gefragt, die gern sofort zur Sache kam, und das Schilfrohr hatte eine tiefe Verneigung vor ihr gemacht. Also war sie immerfort um das Rohr herumgeflogen, indem sie mit ihren Flügeln das Wasser berührte und kleine silberne Wellen machte. Das war ihr Liebeswerben gewesen, und sie hatte es den ganzen Sommer fortgesetzt.

 

„Was für ein lächerliches Verhältnis!“, zwitscherten die anderen Schwalben. „Das Schilfrohr hat kein Geld und eine viel zu große Verwandtschaft“, und wirklich war der Fluss ganz voll von Schilf. Dann, als der Herbst kam, flogen sie alle davon.

 

Als sie verschwunden waren, fühlte sich die kleine Schwalbe einsam und begann, seiner Geliebten überdrüssig zu werden. „Es weiß nicht, wie man sich unterhält“, sagte sie, „und ich fürchte, es ist kokett, denn es tändelt immer mit dem Wind herum.“ Und in der Tat, so oft der Wind wehte, machte das Schilfrohr die anmutigsten Verneigungen. „Ich gebe zu, dass es sehr häuslich ist“, fuhr die Schwalbe fort, „aber ich liebe nun einmal das Reisen, und meine Frau sollte deshalb auch das Reisen lieben.“

 

„Willst Du mit mir kommen?“, fragte sie schließlich; aber das Schilfrohr schüttelte seinen Kopf, es hing zu sehr an seinem Zuhause.

 

„Du hast mit mir nur gespielt“, rief die Schwalbe. „Ich reise jetzt zu den Pyramiden. Lebe wohl!“, und sie flog davon.

 

Sie flog den ganzen Tag, und spätabends erreichte sie schließlich die Stadt. „Wo soll ich unterkommen?“, fragte sie sich. „Hoffentlich hat die Stadt hierfür Vorkehrungen getroffen.“

 

Dann sah sie die Statue auf der hohen Säule.

 

„Dort will ich einkehren“, rief sie. „Die Lage ist hübsch und außerdem gibt es hier viel frische Luft.“ So ließ sie sich genau zwischen den Füßen des glücklichen Prinzen nieder.

 

„Ich habe ein goldenes Schlafzimmer“, sprach sie sanft zu sich selbst, als sie sich umsah. Sie wollte gerade einschlafen und steckte schon den Kopf unter ihren Flügel, als ein großer Tropfen Wasser auf sie herabfiel. „Wie seltsam!“, rief sie; „nicht eine einzige Wolke befindet sich am Himmel, die Sterne sind ganz hell und klar, und doch regnet es. Das Klima in Nordeuropa ist wirklich schrecklich. Das Schilfrohr liebte zwar den Regen, aber nur aus Selbstsucht.“

 

Wieder fiel ein Tropfen herunter.

 

„Was hat man von einer Statue, wenn sie einen nicht gegen den Regen schützt?“, meinte die Schwalbe. „Ich muss mir eine gute Schornsteinabdeckung suchen“, und wollte fortfliegen.

 

Aber bevor sie ihre Flügel geöffnet hatte, fiel ein dritter Tropfen herunter, nun blickte sie hinauf und sah – – ja, was sah sie wohl?

 

Die Augen des glücklichen Prinzen waren voller Tränen, und die Tränen rannen über seine goldenen Wangen hinab. Sein Gesicht sah im Mondlicht so schön aus, dass die kleine Schwalbe Mitleid bekam.

 

„Wer bist Du?“, fragte sie.

 

„Ich bin der glückliche Prinz.“

 

„Warum weinst Du dann?“, fragte die Schwalbe. „Du hast mich ganz nass gemacht.“

 

„Als ich noch lebte und ein menschliches Herz hatte“, antwortete die Statue, „da wusste ich nicht, was Tränen waren, denn ich lebte im Schloss Sanssouci, wo Sorgen nicht hinein dürfen. Den Tag über spielte ich mit meinen Gefährten im Garten, und abends führte ich den Tanz im Großen Saal an. Rund um den Garten gab es eine sehr hohe Mauer, aber ich fand es nie wichtig, danach zu fragen, was wohl dahinter lag, denn um mich herum war doch alles so schön. Meine Höflinge nannten mich den glücklichen Prinzen, und glücklich war ich auch wirklich, wenn denn Vergnügen Glück ist. So lebte ich, und so starb ich. Und jetzt, da ich tot bin, haben sie mich hier so hoch hinaufgestellt, dass ich die ganze Hässlichkeit und alles Elend meiner Stadt sehen kann, und obwohl mein Herz aus Blei gegossen wurde, so muss ich doch immerzu weinen.“

 

„Wie! Er ist nicht ganz aus Gold?“, sagte die Schwalbe zu sich selbst. Sie war aber zu höflich, darüber etwas verlauten zu lassen.

 

„Weit von hier“, fuhr die Statue mit leiser, wohlklingender Stimme fort, „weit von hier entfernt, in einer kleinen Straße, steht ein ärmliches Haus. Eins von den Fenstern steht offen, und ich kann eine Frau sehen, die an einem Tisch sitzt. Ihr Gesicht ist ganz mager und müde, und sie hat grobe, rote Hände, die überall von Nadeln zerstochen sind, denn sie ist eine Näherin. Sie stickt Passionsblumen auf ein seidenes Kleid, das die lieblichste der Ehrendamen der Königin auf dem nächsten Hofball tragen soll. In der Ecke des Zimmers liegt ihr kleiner Junge krank im Bett. Er hat Fieber und möchte Orangen haben. Doch seine Mutter kann ihm nur Flusswasser geben, deshalb weint er. Schwalbe, Schwalbe, kleine Schwalbe, willst Du ihr nicht den Rubin aus meinem Schwertgriff bringen? Meine Füße sind auf diesem Sockel befestigt, und deshalb kann ich mich nicht bewegen.“

 

„Ich werde in Ägypten erwartet“, sagte die Schwalbe. „Meine Freunde fliegen den Nil hinauf und hinab und sprechen mit den großen Lotosblumen. Bald werden sie im Grab des großen Königs schlafen gehen. Der König liegt dort in seinem bemalten Sarg. Er ist in gelbe Leinwand gehüllt und mit Gewürzen einbalsamiert. Um seinen Hals hängt eine Kette aus bleichen, grünen Jadesteinen, und seine Hände sind wie verwelkte Blätter.“

 

„Schwalbe, Schwalbe, kleine Schwalbe“, sagte der Prinz, „willst Du nicht eine Nacht bei mir bleiben und mein Bote sein? Der Knabe ist so durstig und seine Mutter so traurig.“

 

„Knaben mag ich eigentlich nicht“, antwortete die Schwalbe. „Letzten Sommer, als ich mich am Fluss aufhielt, da waren dort zwei ungezogene Jungen, die Söhne des Müllers, die immerfort Steine nach mir warfen. Sie trafen mich natürlich nicht, dafür fliegen wir Schwalben viel zu gut, und ich stamme außerdem aus einer Familie, die wegen ihrer Gewandtheit berühmt ist. Aber es war doch ein Zeichen von Respektlosigkeit.“

 

Aber der glückliche Prinz machte ein so trauriges Gesicht, dass er der kleinen Schwalbe leidtat. „Es ist hier sehr kalt“, sagte sie; „aber eine Nacht will ich bei Dir bleiben und Dein Bote sein.“

 

„Ich danke Dir, kleine Schwalbe“, sagte der Prinz.

 

So pickte die Schwalbe den großen Rubin von des Prinzen Schwert herab und trug ihn im Schnabel über die Dächer der Stadt.

 

Sie kam an den Domtürmen vorbei, wo die weißen Marmorengel angemeißelt waren. Sie kam am Palast vorüber und hörte, wie man drinnen tanzte. Ein schönes Mädchen trat mit ihrem Geliebten auf den Balkon heraus. „Wie wundervoll sind die Sterne“, sagte er zu ihr, „und wie wundervoll ist die Macht der Liebe!“

 

„Hoffentlich wird mein Kleid rechtzeitig zum Hofball fertig“, antwortete sie. „Ich habe gesagt, dass es mit Passionsblumen bestickt werden soll; aber die Näherinnen sind so faul.“

 

Die Schwalbe flog über den Fluss und sah die Laternen an den Schiffsmasten hängen. Sie flog über das Ghetto und sah, wie die alten Juden miteinander handelten und in kupfernen Waagschalen Geld abwogen. Schließlich kam sie zu dem ärmlichen Haus und blickte hinein. Der Knabe hustete fiebrig in seinem Bett, und die Mutter war vor Müdigkeit eingeschlafen. Die Schwalbe hüpfte hinein und legte den großen Rubin neben den Fingerhut der Frau. Dann flog sie leise um das Bett, wobei sie die Stirne des Knaben mit ihren Flügeln umfächelte. „Wie kühl ist mir nun“, sagte der Knabe, „ich glaube, es geht...

Erscheint lt. Verlag 16.10.2015
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber
Kinder- / Jugendbuch
Schulbuch / Wörterbuch Wörterbuch / Fremdsprachen
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft
ISBN-10 3-7386-5475-5 / 3738654755
ISBN-13 978-3-7386-5475-2 / 9783738654752
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