Über Nacht war alles anders (eBook)

Flüchtlingsschicksal einer Familie
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
235 Seiten
Rosenheimer Verlagshaus
978-3-475-54497-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Über Nacht war alles anders -  Elfriede Mosenthin
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Elfi hat alles, was sie sich im Leben wünscht. Ohne Sorgen wächst sie auf dem Gut der Familie in Polen auf. Die Eltern tadeln das Naturkind nur selten. Doch Elfi hat neben ihrem freien Geist auch einen wachen Verstand. Längst weiß sie, dass dunkle Wolken ihr Paradies bedrohen. Der Einbruch des Zweiten Weltkrieges verändert alles. Ihre Familie wird vertrieben. Sie muss lernen, sich anzupassen, um überleben zu können. Das unbedarfte Kind wird zu einer starken Frau, die nie die Hoffnung verliert.

Elfriede Mosenthin wurde 1929 in Birnbaum bei Posen geboren. Da 1943 die höheren Schulen zu Lazaretten umfunktioniert wurden, durfte sie gerade noch die Mittlere Reife abschließen. Sie begann eine Lehre als Sprechstundenhilfe in der Praxis ihres Onkels, die sie während des Krieges aber abbrechen musste. 1945 floh sie über die Tschechei nach Landshut. Dort konnte sie ihre Ausbildung beenden. Um tagsüber für ihre Kinder da zu sein, arbeitete sie später bis zur ihrer Pensionierung als Nachtschwester in einem Alten- und Pflegeheim.

Elfriede Mosenthin wurde 1929 in Birnbaum bei Posen geboren. Da 1943 die höheren Schulen zu Lazaretten umfunktioniert wurden, durfte sie gerade noch die Mittlere Reife abschließen. Sie begann eine Lehre als Sprechstundenhilfe in der Praxis ihres Onkels, die sie während des Krieges aber abbrechen musste. 1945 floh sie über die Tschechei nach Landshut. Dort konnte sie ihre Ausbildung beenden. Um tagsüber für ihre Kinder da zu sein, arbeitete sie später bis zur ihrer Pensionierung als Nachtschwester in einem Alten- und Pflegeheim.

1


Im Jahr 1942 in Polen, genauer gesagt in der Nähe von Neutal im Warthegau, war ich gerade 13 Jahre alt, das Nesthäkchen der Familie und entsprechend verwöhnt. Obwohl der Krieg schon drei Jahre dauerte, hätten wir dort gar nicht viel davon bemerkt, wären nicht die jungen Männer – darunter auch mein Bruder Horst – von der Wehrmacht eingezogen worden, um in diesem Krieg zu kämpfen. Wir hatten keinerlei Mangel zu leiden, denn wir besaßen ein großes Gut, Potporowo, das meine Eltern selbst bewirtschafteten. Jeden Sommer verbrachten wir in dem imposanten Gutshaus. Wenn es kälter wurde, zogen wir in unsere Stadtvilla, denn die hohen Räume des Gutshauses waren im Winter nur schwer warm zu bekommen. Die kleine Stadt, in der wir die kalte Jahreszeit verbrachten, trug den schönen Namen Birnbaum.

Bis zum Ersten Weltkrieg hatte die Provinz Posen, in der wir lebten, zu Deutschland gehört, danach war sie aber Polen zugesprochen worden. Viele Deutsche, die hier lebten, hatten deshalb gehofft, die alten Verhältnisse würden wiederhergestellt. Als wir nach dem siegreichen Polenfeldzug Hitlers dann aber wirklich wieder zum Deutschen Reich gehörten, kam für viele, darunter auch meine Eltern, die Ernüchterung recht schnell. Vor allem die Rassenpolitik widersprach den Wertvorstellungen meiner Eltern. In unserem Haus waren selbstverständlich auch immer jüdische Freunde ein- und ausgegangen, und trotz aller Repressalien gegen die Juden hielt mein Vater diese Freundschaften weiter aufrecht. Auch mit den Polen hatten wir nie Probleme gehabt. Alle unsere Arbeiter am Gut waren Polen, und Vater war stets zufrieden mit ihnen.

Mein polnisches Kindermädchen, muss ich gestehen, trieb ich allerdings oft zur Verzweiflung. Ruscha, wie wir sie nannten, hieß eigentlich Rosalie Maitschak und diente bereits seit ewigen Zeiten auf Potporowo. Sie hatte eine verkrüppelte Hand, die so stark zitterte, dass sie sie nie still halten konnte. Sicher hätte sie nirgendwo sonst eine Arbeit bekommen, aber meine herzensgute Mutter behandelte sie fast wie ein eigenes Kind und nahm sie ständig in Schutz, vornehmlich vor meinen bösen Streichen.

Ruscha hatte es mit mir wirklich nicht leicht. Erna, die zuvor unser Kindermädchen gewesen war, war zu Servierdiensten eingeteilt worden, als meine älteren Geschwister erwachsen wurden, und an ihrer Stelle musste Ruscha sich um mich kümmern. Zwar tat sie mir zwar oft leid wegen ihrer Behinderung, andererseits grauste es mich aber vor ihren stets feuchten Händen. Mutter hatte ihr befohlen, mir beim Ankleiden behilflich zu sein, aber ich bekam eine Gänsehaut vor Ekel, wenn sie mich anfasste. Wenn ich mich bei Mutter beschwerte, wurde ich zurechtgewiesen: »Sei doch nicht so herzlos! Ruscha braucht das Gefühl, noch gebraucht zu werden.« Aber das machte die Berührungen meines Kindermädchens für mich nicht weniger unangenehm.

Ruscha machte es mir aber auch sehr leicht, sie zu ärgern. Über alles regte sie sich auf. An diesem Sommertag im Jahr 1942 genoss ich es, oben auf dem Kirschbaum frische Kirschen zu essen und von dort zu beobachten, wie Ruscha aufgeregt hin- und herlief und dabei fortwährend meinen Namen rief. Mutter hatte ihr wohl aufgetragen, mich zu suchen. Schon dreimal war sie direkt unter mir vorbeigelaufen, ohne mich zu finden. Dabei hätte sie sich ja nur an Ajax orientieren müssen. Wo er war, da musste schließlich auch ich in der Nähe sein.

Als sie das nächste Mal unter mir war, spuckte ich einen Kirschkern aus, und Ruscha blickte endlich nach oben und sah mich. Sie schäumte vor Zorn. »Wild wie Pferd, nicht gewaschen wie Ferkel, Chaare nicht gekämmt!«, rief sie zu mir hinauf.

Polen können kein »H« aussprechen. Es wird immer ein hartes »Ch« daraus.

Ich wusste, warum Ruscha mich suchte. Heute Abend würde sich meine älteste Schwester Annelies mit Leutnant Quitschorek verloben, und ich sollte dafür fein gemacht werden. Das bedeutete: Ich musste ein Kleid anziehen. Ein Kleid, das war aber das Ärgste, was man mir antun konnte. Da gab es nur eine Möglichkeit, und das war Flucht.

Ich pfiff kurz. Mein Ajax kannte diesen Pfiff, trabte unter den Baum, und ich konnte leicht auf seinen Rücken springen. Dann galoppierte ich an der erschrockenen Ruscha einfach vorbei, und fort war ich. Mutter hatte den Vorfall vom Herrenhaus aus beobachten können. Obwohl sie sich eines Lächelns nicht erwehren konnte, tat ihr mein Kindermädchen wieder einmal leid. Als Ruscha dann niedergeschlagen eintrat, tröstete sie sie und versprach, ein ernstes Wort mit mir zu reden.

Aber wann hätte sie das tun sollen? Mein Pferd nahm mich ja Tag und Nacht in Anspruch, und im Sommer war ich so viel im Freien, dass meine Sonnenbräune schon an Zigeunerdunkelbraun grenzte. Das und meine ungebärdige Art hatten mir beim Personal den Namen »Die wilde Comtess« eingebracht. Liebenswürdig war ich damals wahrlich nicht, und meinen Willen wusste ich durchzusetzen. Nicht einmal zum Kämmen fand ich Zeit, ich band eine Schleife um meine langen Haare, und das musste genügen. Auch zu den Mahlzeiten erschien ich nur höchst selten. Zu diesem Zweck hätte ich mich umziehen müssen, und das war mir lästig. In unserem Garten gab es ja genügend Früchte, und notfalls ging ich zur Köchin, denn die hatte immer etwas Gutes für mich. Meine Eltern waren ständig in großer Sorge um mich, weil ich für mein Alter viel zu klein und zu schmächtig war, aber meine Energie hätte auch für zwei Kinder ausgereicht.

Die Vorbereitungen des Personals hatten mir deutlich gemacht, dass es eine große Feier sein würde, die heute Abend veranstaltet werden sollte. Aus Erfahrung wusste ich, was da auf mich zukommen würde: Elegante Kleider, affiges unnatürliches Benehmen und das Widerlichste von allem, die verschiedenen Parfüms der Damen. Igitt, nur bei dem Gedanken schüttelte ich mich bereits im Voraus. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, in den Pferdestall zu gehen und mich dort mit Dreck und Pferdeäpfeln so zurechtzumachen, dass ich den Ballsaal genauso schnell wieder verlassen konnte, wie ich ihn betreten hatte. Aber dann fand ich, dass es wohl doch das Beste war, mich gar nicht erst blicken zu lassen.

Ich lenkte Ajax zu dem kleinen Teich inmitten des Waldes, meinem Lieblingsplatz. Außer Janek kannte niemand diesen »heiligen Fleck Erde«, wie ich ihn gerne nannte. Ich genoss die Geräusche dieses Plätzchens, das Quaken der Frösche und das Gezwitscher der Vögel. Es klang alles so ehrlich und beruhigend, dass ich sehr oft dort eingeschlafen und stets entspannt wieder aufgewacht bin. Diesmal bekam ich aber keine Gelegenheit einzuschlafen. Schon nach ein paar Minuten vernahm ich das Getrappel von Janeks Pferd, und schon von Weitem hörte ich ihn aufgeregt rufen: »Comtesschen, Ihr Cherr Vater will, dass Sie sofort in sein Büro kommen!«

»Mein Cherr Vater kann noch etwas warten!«, gab ich schnippisch zurück. »Hier ist es so ruhig und gemütlich. Außerdem hat Ajax noch nicht genug gegrast.«

Janek war unser Pferdeknecht und mir treu ergeben, obwohl er viele meiner Unarten aushalten musste. Aber nun errötete er vor Zorn, denn er konnte es nicht ausstehen, wenn ich mich über seine Aussprache lustig machte. Wie fast immer ging er aber dennoch ohne ein Wort darüber hinweg, denn er kannte mein aufbrausendes Temperament zur Genüge. »Cherr Vater wartet, ich soll Sie gleich mitbringen«, wiederholte er stur.

»Was will Vati denn von mir?«, fragte ich, nun doch neugierig geworden.

»Cheute Abend ist großer Ball ...«

»Weiß ich schon, darum bin ich ja abgehauen!«

»Aber Ball ist für Comtess Annelies. Cheute ist Verlobung mit Herrn Leutnant Quitschorek!«

»Na und, was soll ich dabei?«, fragte ich ärgerlich.

Das verstand Janek gar nicht. »Aber Comtesschen, ist doch Familienfeier, muss man doch gratulieren großes Schwester und winschen viel Glick!«

»Da muss ich mich nur wieder in so ein enges Kleid quetschen und dummen Leuten dumme Fragen beantworten!«, maulte ich. Aber dann schwang ich mich doch wieder auf Ajax und ritt zum Gutshaus.

Vater kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich nicht wagte, ungehorsam zu sein, wenn er mich rufen ließ. Er wartete bereits auf der Veranda und tippte mit den Zehenspitzen hin und her. Es war also Vorsicht geboten, denn das tat er nur, wenn er schlechte Laune hatte. Ich fiel ihm gleich um den Hals.

»Vati, bitte erspar mir doch den Kladderadatsch«, sprudelte ich heraus. »Du kennst mich doch, ich werde doch wieder nur unangenehm auffallen!«

Zärtlich löste er meine Arme von seinem Hals und sagte sehr ernst: »Herzblatt, heute gibt es kein Pardon. Annelies würde dir ein Fernbleiben nie verzeihen, und Hans muss morgen in aller Frühe schon wieder an die Front!«

Ungläubig starrte ich ihn an. »Hans muss morgen schon wieder nach Russland? Die sind doch verrückt mit ihrem blöden Krieg!«

»Wirst du wohl still sein!«, ermahnte mich mein Vater. »Weißt du nicht, dass man so etwas nicht sagen darf?«

»Ach, ist doch wahr«, maulte ich. Seit unsere Pferde weggeholt worden waren, war jede Hurrapropaganda, mit der in der Bevölkerung die Kriegsbegeisterung geweckt werden sollte, an mich völlig verschwendet. Wenn ich nicht zufällig mit Ajax unterwegs gewesen wäre, dann hätten sie ihn auch mitgenommen – ein Gedanke, bei dem es mir eiskalt den Rücken hinunterlief. Janek hatte kurzerhand behauptet, wir hätten kein Reitpferd mehr auf dem Gut, sonst wäre Ajax später auch noch abgeholt worden.

»Wo ist Ruscha? Ich will mich umziehen!«

So schnell kam der Themenwechsel, dass Vati mir nur noch kopfschüttelnd hinterherschauen konnte.

...

Erscheint lt. Verlag 12.10.2015
Reihe/Serie Zeitzeugen
Verlagsort Rosenheim
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1945 • Bayern • Flucht • Flüchtlingslager • Kriegsalltag • Kriegskindheit • Polen • Vertreibung • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-475-54497-0 / 3475544970
ISBN-13 978-3-475-54497-2 / 9783475544972
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