Schöne Seelen (eBook)

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2015 | 1. Auflage
336 Seiten
Kein & Aber (Verlag)
978-3-0369-9315-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schöne Seelen -  Philipp Tingler
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Oskar will in eine Therapie. Allerdings nicht für sich selbst, sondern anstelle seines Freundes Viktor, der wiederum von seiner Ehefrau Mildred dazu genötigt wird. In »Schöne Seelen« begleitet Philipp Tingler aber nicht nur Oskar in das Behandlungszimmer von Doktor Leonid Hockstädder, Psychotherapeut der besseren Kreise, sondern seziert auch die gute Zürcher Gesellschaft, ein Milieu, wo man kaum ein Phänomen derart fürchtet wie Peinlichkeit und wo der Therapeut kleine Aufwallungen des Gemüts zu glätten hat wie der Schönheitschirurg die Haut.

Philipp Tingler studierte Wirtschaftswissenschaften und Philosophie an der Hochschule St. Gallen, der London School of Economics sowie der Universität Zürich und ist mehrfach ausgezeichneter Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm bei Kein & Aber der Roman »Rate, wer zum Essen bleibt« (2019). Er ist Kritiker im SRF-Literaturclub und im Literarischen Quartett des ZDF sowie Juror beim ORF-Bachmannpreis und der SRF-Bestenliste. Neben Belletristik und Sachbüchern ist er ausserdem bekannt durch das SRF-Format Steiner&Tingler und seine Essays u.a. in der Neuen Zürcher Zeitung und im Autokulturmagazin ramp.

2


Die vier letzten Dinge


»I hate all my clothes«, seufzte Lauren, Oskars Ehefrau, die bei Exaltation gerne in ihre Muttersprache fiel. Sie stemmte die Arme in die Hüften, und eine Armee von Spiegelbildern, welche durch die in den verschiedensten Winkeln stehenden verspiegelten Schranktüren entstand, tat es ihr gleich. »Und außerdem habe ich Consuela schon hundert Mal gesagt, sie soll die Sachen nach Saison ordnen und nicht nach Farbe!«

Lauren stand in ihrem Ankleidezimmer, vor einem weit geöffneten achttürigen Schrank, auf dessen mit blaugrauem Taft drapierten Bügeln eine endlose Reihe von Kleidern hing.

Oskar, der im Türrahmen lehnte, barg sein Gesicht in den Händen.

»I can see you fully well«, sagte Lauren.

Draußen ertönte ein Donnerschlag.

»Was ist das?«, fragte Oskar in seine Handflächen.

»God is upset«, konstatierte seine Ehefrau, »und auch für mich scheint das nicht gerade der beste Tag zu werden. Ich meine … dieses Ding hier zum Beispiel … ich muss betrunken gewesen sein, als ich das gekauft habe … und das hier – ginge höchstens für eine Adoptivtochter von Siegfried und Roy … wohingegen dieses hier … totally out of season ist.«

»Ist das bei Beerdigungen wichtig?«

»Chickie, das hier ist eine Beerdigung, für die ein Save The Date verschickt wurde.«

»Allerdings. Genau genommen sogar zwei. Einmal mit und einmal ohne Einladung zum anschließenden Beisammensein.«

»Vielleicht sollte ich einen Wardrobe Organizer anheuern. Wie Ivana, meine russische Stiefmutter. Lord, I hate this day already.«

»Already? Es ist drei Uhr nachmittags.«

»How funny«, konstatierte Lauren. »How funny für jemanden, der selten vor elf Uhr aufsteht.«

»Ich hasse all meine Kleider«, stellte Mildred Hasenclever, geborene Van Runkle, fest und stemmte die Arme in die Hüften. Mildred stand im Ankleidezimmer in ihrer Villa am Zugersee. Am überaus rücksichtsvollen Beleuchtungskonzept dieses Ankleidezimmers hatte der Innenarchitekt Guido Salazar lange gearbeitet. Guido Salazar (dies war, natürlich, nicht sein richtiger Name) war der Innenarchitekt der Saison gewesen, vor ein paar Jahren, dann allerdings, wie es bei seiner Profession passieren kann, aus der Mode geraten und schließlich tot und überschuldet in seinem Haus am Bodensee gefunden worden. Mit einem Telefonkabel erdrosselt. Von einem Strichjungen im Streit um den Hurenlohn. Unschöne Geschichte. »Aber das Licht in meinem Ankleidezimmer ist phantastisch!«, pflegte Mildred bilanzierend festzustellen, wann immer Guidos Schicksal besprochen wurde, was allerdings kaum noch geschah, dazu war die Sache zu lange her und die Gesellschaft, in der er sich eine Zeit lang als Gast und Komparse hatte bewegen dürfen, zu sehr mit der Gegenwart beschäftigt. So wie augenblicklich Mildred, die nunmehr konstatierte: »Und ich hasse Beerdigungen!«

»Wegen der Aura von Tod und Vergänglichkeit, die ihnen notwendig anhaftet?«, fragte Viktor, ihr Mann, der im Türrahmen lehnte.

»Nein«, erwiderte Mildred, »weil sie immer so kurzfristig stattfinden.«

Viktor barg sein Gesicht in den Händen.

»Heute ist der wichtigste Tag in meinem Leben –«, fuhr Mildred fort, die ihren Mann gar nicht ansah.

»War das nicht der Tag unserer Hochzeit?«, fragte Viktor dazwischen.

Worauf Mildred hörbar durch den Mund ausatmete.

»Ich glaube, ich kriege Cluster-Kopfschmerzen«, sagte sie, »heute ist der wichtigste Tag in meinem Leben. Frauen, die ich immer gehasst habe, kommen aus allen Teilen der Welt zusammen, um mich zu beneiden –«

»Du sprichst über die Beerdigung deiner Mutter.«

»Genau. Und ich wäre schneller am Ziel, wenn du mich nicht dauernd unterbrechen würdest. Der Punkt ist: Jeder dort hasst mich. Und schlimmer: Ich habe nichts anzuziehen. Und man muss fabelhaft aussehen, wenn jeder einen hasst.«

»Mildred«, sagte Viktor, nicht ganz ohne Anstrengung, »niemand hasst dich. Und du siehst fabelhaft aus. Die Leute würden sonst was bezahlen, um so auszusehen.«

»Ich bezahle sonst was, um so auszusehen.«

»Sollte es nicht um deine Mutter gehen?«

»Bist du verrückt?«, erwiderte Mildred. »Sie ist tot!«

Mildred Hasenclever, geborene Van Runkle, war keine im konventionellen Sinne schöne Frau. Sie war ein mageres Geschöpf mit vorspringenden Wangenknochen, auf die sie stets etwas zu viel Rouge legte. Schon häufiger war der Kontrast zur junonischen Postur ihrer Mutter Anlass zu Kommentaren gewesen. (»Must have been a windy day when the apple fall from that tree«, pflegte Lauren zu sagen.) Mildreds Augen hätten für schön gelten können, wäre nicht das linke durch einen toten weißen Fleck verunstaltet gewesen. Sie mied die Sonne. Ihre Gesichtsfarbe war hinter den stets geschlossenen Fensterläden ihres Anwesens bleich geworden und glänzte bei unglücklicher Beleuchtung wie unter einer Lackschicht.

»Du verstehst offenbar die Bedeutung des heutigen Tages für mich nicht«, erklärte sie nun ihrem Ehemann, »und dies ist symptomatisch für unsere grundsätzlichen Schwierigkeiten.«

»Bitte, fang nicht wieder damit an, Mildred.«

»Keine Sorge. Ich habe jetzt gar keine Zeit, über unsere Eheprobleme zu sprechen. Genauer gesagt: über deine vermessenen Versuche, die äußere Scheinwelt durch die innere Wunschwelt zu ersetzen.«

»Was?«

»Was solls, Viktor. Lieber Himmel, bisweilen habe ich das Gefühl, wir sind wie zwei Fremde, die nebenandersitzen und auf den Bus warten.«

»Du bist doch noch nie mit dem Bus gefahren.«

Da entließ Mildred einen dunklen Seufzer aus der Tiefe ihres Busens.

»Du verstehst mich nicht«, stellte sie fest, »und außerdem hast du draußen schon wieder das Tor aufgelassen. Ist es so schwer für dich, auf ein kleines Knöpfchen zu drücken?«

»Ich bitte dich, Mildred, warum sollten wir das Tor schließen? Hast du dich mal umgesehen? Wir wohnen hier am Zugersee. Was soll passieren? Hast du Angst, dass vielleicht ein paar Geldhaufen von unseren Nachbarn rüberwehen und Miguel sie zusammenfegen muss?«

»Ich möchte«, erklärte Mildred, »dass du eine Therapie machst.«

Millvina Van Runkle wurde auf dem malerischen Dorffriedhof in Kilchberg am Zürichsee bestattet, weil sie dort ihre Steuern gezahlt hatte. In Kilchberg. Jedenfalls den größten Teil. Ronaldo Riviera, den Millvina im Voraus dafür überaus üppig honoriert hatte, hatte alle Hände voll zu tun und buchstäblich Tag und Nacht an der Vorbereitung der Veranstaltung gearbeitet. Denn Millvina Van Runkles Beerdigung war der Anlass der Saison, und Ronaldo wusste das. Jeder wusste das. Natürlich war Ronaldo Riviera kein richtiger Name. Im Grunde war nichts an Ronaldo echt – bis auf seinen Instinkt für den sozialen Aufstieg und die Mechaniken der Gesellschaft, die diesen beförderten. Kaum dass Millvina ihren letzten Atemzug getan, hatte er einen Anruf von Gwendolyne Rosenstock erhalten, die ihm von diesem traurigen Ereignis und Markstein der Gesellschaftschronik Meldung machte (dies mit der Hoffnung verknüpfend, er könne vielleicht ihren eigenen nächsten Anlass ausrichten und ihr darüber hinaus einen guten Platz in der Dorfkirche von Kilchberg sichern). Eine weitere Minute später befand sich Ronaldo schon in fernmündlichen Verhandlungen mit Ferdinand, Millvinas letztem und langjährigen Chauffeur, der eigentlich von Alwine Smid fristlos entlassen worden war. Ronaldo bot Ferdinand Geld. Damit er die Einladungen zur Trauerfeier mit der Limousine zustellen würde. Ferdinand sagte zu, und zufrieden gab Ronaldo ihm die Reihenfolge der Adressen durch, die unbedingt einzuhalten wäre. Er liebte es, das Personal zu instruieren.

Seitdem waren ein paar Tage vergangen, und diese Tage waren die besten im Leben von Ronaldo Riviera gewesen. Denn die Dorfkirche von Kilchberg war klein, und jeder wollte eine Einladung. Offiziell war die Zürcher Gesellschaft in Trauer. Soirées wurden abgesagt. Evchen von Klattersteig musste eine lange geplante Wohltätigkeitsauktion zugunsten der Kunstgesellschaft streichen, was sie, nachdem sie sich lange mit der Sitzordnung beschäftigt hatte, ein kleines bisschen stresste, doch natürlich verstand sie es. Gwendolyne Rosenstock (und nicht nur sie) brachte sich kurz vor dem kritischen Datum noch einmal telefonisch bei Ronaldo in Erinnerung, um ihre Einladung an den Empfang zu sichern, der gleich im Anschluss an die Abdankungsfeier im Hotel Baur au Lac stattfinden sollte, das stets eines der liebsten Hangouts von Millvina gewesen war, früher jedenfalls, besonders zu ihren Zeiten mit Hektor.

Ja, das waren gute Tage für Ronaldo Riviera, der in Wahrheit Thorsten Mischwitzky hieß und in einem deutschen Städtchen namens Wuppertal als Schaufensterdekorateur angefangen hatte und nun also zu einer jener typischen Randfiguren im Orbit der höheren Sphären aufgestiegen war, die ihre Karriere der Laune der Mode verdanken und für die es gefährlich wird, wenn sie das vergessen. Reiche, bekannte und angesehene Menschen schätzte und verehrte Ronaldo auf eine taxierende und unterwürfige Weise; Gefallene, Abgestiegene und Bittsteller aller Art aber verachtete er mit der ganzen Kraft seiner schlichten Lakaienseele. Jedoch missglückte ihm bisweilen die Unterscheidung zwischen den beiden Kategorien. Er selbst war in seiner eindimensionalen Ambition zwar ohne Weiteres durchschaubar, zumal ihm jeder Charme und Humor abging, doch er war...

Erscheint lt. Verlag 1.9.2015
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alter Ego • Capote • Dr. Phil • Farce • Gegenwartsliteratur • Gesellschaft • Humor • Milieukritik • Moral • Oberflächlichkeit • Psyche • Roman • Satire • Schriftsteller • Schweiz • Seelenbotox • Seelenshaping • Therapie • Tingler • Werte • Zürich
ISBN-10 3-0369-9315-0 / 3036993150
ISBN-13 978-3-0369-9315-7 / 9783036993157
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