Wilde Schwäne (eBook)

Die Frauen meiner Familie

(Autor)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
768 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-43424-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wilde Schwäne -  Jung Chang
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Jung Chang erzählt die Geschichte ihrer eigenen Familie und damit Chinas von der Kaiserzeit über die Herrschaft Maos bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Großmutter, Mutter und sie selbst müssen erfahren, wie die rücksichtslose Umsetzung politischer Ideen Millionen Menschen das Leben kostet, und das Überleben nur unter großem Leid möglich macht.

Jung Chang wurde 1952 in der Provinz Sichuan in China geboren. Mit vierzehn Jahren wurde sie Mitglied der Roten Garden und arbeitete als Bäuerin, als 'Barfußärztin', als Stahlarbeiterin und Elektrikerin, bevor sie ihr Englischstudium aufnahm und später Assistentin an der Sichuan Universität werden konnte.1978 verließ sie ihre Heimat und ging nach England, wo sie 1982 an der York Universität in London promovierte; sie war damit die erste Chinesin, die einen Doktortitel der britischen Universität erhielt. Heute lebt die gefeierte Bestsellerautorin, die mit einem Buch über Mao 2005 ihren persönlichen Rückblick auf China abschloss, in London.

Jung Chang wurde 1952 in der Provinz Sichuan in China geboren. Mit vierzehn Jahren wurde sie Mitglied der Roten Garden und arbeitete als Bäuerin, als "Barfußärztin", als Stahlarbeiterin und Elektrikerin, bevor sie ihr Englischstudium aufnahm und später Assistentin an der Sichuan Universität werden konnte.1978 verließ sie ihre Heimat und ging nach England, wo sie 1982 an der York Universität in London promovierte; sie war damit die erste Chinesin, die einen Doktortitel der britischen Universität erhielt. Heute lebt die gefeierte Bestsellerautorin, die mit einem Buch über Mao 2005 ihren persönlichen Rückblick auf China abschloss, in London.

Kapitel 1


»Zwei kleine goldene Lilien«

Die Konkubine eines Provinzgenerals
(1909–1933)

Mit fünfzehn Jahren wurde meine Großmutter die Konkubine eines Provinzgenerals, der zugleich Polizeichef der schwachen chinesischen Zentralregierung war. Man schrieb das Jahr 1924, in ganz China regierte das Chaos. Provinzgenerale beherrschten die einzelnen Teile des Landes, darunter auch die Mandschurei, und bekämpften sich gegenseitig. Mein Urgroßvater hatte die Verbindung eingefädelt. Er war Polizeibeamter in der kleinen Provinzstadt Yixian im Südwesten der Mandschurei, ungefähr hundertsechzig Kilometer nordöstlich von Beijing.

Wie fast alle Städte in China glich auch Yixian einer Festung. Rings um die Stadt lief eine knapp zehn Meter hohe, zinnenbewehrte Mauer, die noch aus der Zeit der Tang-Dynastie (618–907 n. Chr.) stammte. Die Mauer war fast vier Meter dick und so breit, daß man mit einem Pferd bequem darauf entlangreiten konnte. In regelmäßigen Abständen wurde die Stadtmauer von insgesamt sechzehn Bastionen überragt. Nach jeder Himmelsrichtung öffnete sich ein Stadttor mit einem zweiten, äußeren Schutztor. Rund um die Befestigungsanlage verlief als zusätzliche Sicherung ein tiefer Graben.

Das auffälligste Bauwerk der Stadt, ihr Wahrzeichen, war ein hoher, reichgeschmückter Glockenturm aus dunkelbraunem Gestein. Der Glockenturm stammte aus dem 6. Jahrhundert, der Zeit, als der Buddhismus in die Mandschurei vorgedrungen war. Jede Nacht schlug die Glocke und zeigte die Zeit an, sie wurde auch geläutet, wenn Feuer oder Hochwasser die Einwohner bedrohten. Yixian war ein wohlhabender Marktflecken. In den ausgedehnten Ebenen rund um die Stadt wuchsen Baumwolle, Mais, Sorghum, Sojabohnen und Sesam, außerdem Birnen, Äpfel und Trauben. Auf den Weideflächen und Hügeln im Westen grasten Schafe und Rinder.

Mein Urgroßvater Yang Ru-shan wurde 1894 geboren. Damals herrschte ein Kaiser von Beijing aus über ganz China. Die Herrscherfamilie der Mandschu hatte China im Jahr 1644 von ihrem Stammland aus, der Mandschurei, erobert. Die Yangs gehörten zur Volksgruppe der Han-Chinesen. Sie waren in das Gebiet nördlich der Großen Mauer gezogen, um dort ihr Glück zu machen.

Mein Urgroßvater war der einzige Sohn und damit für seine Familie außerordentlich wichtig. Nur ein Sohn konnte den Familiennamen weitertragen, ohne Stammhalter war die Familie zum Aussterben verdammt, und das bedeutete für einen Chinesen den schlimmsten Betrug an seinen Vorfahren. Mein Urgroßvater wurde auf eine gute Schule geschickt. Es war der sehnlichste Wunsch der Familie, daß er die Staatsprüfungen bestehen und eines Tages Mandarin, Staatsbeamter, sein würde. Diesen Wunsch hegte damals fast jeder männliche Chinese, denn Staatsbeamter sein hieß mächtig sein, und Macht bedeutete Geld. Ohne Macht und ohne Geld war man vor den Plünderungen der Beamtenschaft oder vor zufälligen Gewalttaten nie sicher. In China hatte es noch nie ein funktionierendes Rechtssystem gegeben, die Rechtsprechung erfolgte willkürlich, grausame Strafen waren durchaus üblich, und die Launen einzelner taten ein übriges. Ein Beamter mit Amtsgewalt war das Gesetz. Wer aus einer nicht zur Aristokratie zählenden Familie stammte, konnte diesem Kreislauf von Ungerechtigkeit und Angst nur entrinnen, indem er Mandarin wurde. Yangs Vater hatte entschieden, daß sein Sohn nicht das väterliche Filzmachergeschäft übernehmen sollte. Die Familie brachte große Opfer, damit er das Geld für die Ausbildung seines Sohnes aufbringen konnte.

Die Frauen der Familie übernahmen Heimarbeit für die Damen- und Herrenschneider am Ort und stickten jeden Tag bis spät in die Nacht. Um Geld zu sparen, drehten sie ihre Öllampen ganz klein und ruinierten sich damit die Augen. Ihre Fingergelenke waren von der stundenlangen gekrümmten Haltung ganz geschwollen.

Wie es damals üblich war, heiratete mein Urgroßvater früh, mit vierzehn Jahren, seine Frau war sechs Jahre älter. Es galt traditionsgemäß als eine Pflicht der Ehefrau, ihren Mann mit großzuziehen.

Die Geschichte seiner Frau, meiner Urgroßmutter, ist typisch für die von Millionen anderer Frauen ihrer Zeit. Sie stammte aus einer Gerberfamilie namens Wu. In einer wenig gebildeten Familie, in der niemand einen Beamtenposten innehatte, bekam ein Mädchen nicht einmal einen Namen. Da sie die zweite Tochter der Familie war, nannte man sie einfach »Mädchen Nummer zwei« (Er-ya-tou). Ihr Vater starb, als sie noch sehr klein war, und sie wuchs bei einem Onkel auf. Eines Tages, sie war gerade sechs Jahre alt, kam ein Freund ihres Onkels zum Essen. Die Frau des Freundes erwartete ein Kind, und die beiden Männer vereinbarten während des Tischgesprächs, daß das ungeborene Kind, sofern es ein Junge würde, im angemessenen Alter von vierzehn Jahren mit der Nichte verheiratet werden sollte. Meine Urgroßmutter und mein Urgroßvater sahen sich vor ihrer Hochzeit nicht ein einziges Mal. Sich zu verlieben galt geradezu als unanständig und als Schande für die Familie. Dabei hatte das Ideal der romantischen Liebe in China traditionell durchaus einen hohen Stellenwert – nur durften junge Leute gar nicht in eine Situation kommen, in der es dazu kommen konnte. Teils galt es als unanständig, wenn junge Leute sich trafen, teils wurde die Ehe vor allem als Pflicht betrachtet, als eine Vereinbarung zwischen zwei Familien. Mit etwas Glück verliebten sich die Eheleute nach der Heirat ineinander.

Mein Urgroßvater hatte ein sehr behütetes Leben geführt und war mit vierzehn, zum Zeitpunkt der Hochzeit, noch ein Kind. In der Hochzeitsnacht wollte er nicht in das eheliche Schlafgemach gehen, er legte sich im Schlafzimmer seiner Mutter ins Bett und mußte schlafend zu seiner Braut getragen werden. Obwohl er ein sehr unselbständiges Kind war und sich nicht einmal alleine anziehen konnte, wußte er laut Auskunft seiner Frau, wie »man Kinder zeugt«. Meine Großmutter kam binnen eines Jahres nach der Hochzeit zur Welt, am fünften Tag des fünften Monats im Jahr 1909. Es erging ihr insofern besser als ihrer Mutter, als sie immerhin einen eigenen Namen bekam: Yu-fang. Yu bedeutet »Jade« und ist ein Generationsname, der allen Nachkommen einer Generation gegeben wird, fang heißt »duftende Blumen«.

Meine Großmutter wurde in eine Welt völliger Ungewißheit hineingeboren. Die Mandschu-Dynastie, die China über zweihundertsechzig Jahre regiert hatte, war erschüttert. In den Jahren 1894 und 1895 tobte der Japanisch-Chinesische Krieg, China erlitt schwere Niederlagen und Gebietsverluste. Im Jahr 1900 wurde der nationalistische Boxeraufstand von acht fremden Armeen niedergeschlagen, Teile dieser Armeen blieben anschließend in China, in der Mandschurei und entlang der Großen Mauer. In den Jahren 1904 und 1905 führten Japan und Rußland in den weiten Ebenen der Mandschurei erneut Krieg, und Japan wurde durch seinen Sieg zur beherrschenden ausländischen Macht in der Mandschurei. 1911 wurde der fünfjährige Kaiser von China, Pu Yi, entmachtet. China war nun eine Republik, an ihrer Spitze stand für kurze Zeit der charismatische Führer Sun Yat-sen.

Die neue, republikanische Regierung brach bald zusammen, und das Reich zerfiel in einzelne, von mächtigen Provinzgenerälen beherrschte Einflußgebiete. In der Mandschurei hinterließ das republikanische Intermezzo besonders wenig Spuren, da die Kaiserfamilie aus diesem Gebiet stammte. Ausländische Mächte, allen voran Japan, hatten ihre Bemühungen verstärkt, das Gebiet für sich zu gewinnen. Unter diesen Belastungen brachen viele alte Institutionen zusammen, ein Machtvakuum entstand, Moral und Autorität waren untergraben. Viele versuchten, sich durch die Bestechung von lokalen Potentaten einen Weg nach oben zu bahnen, aber das erforderte teure Geschenke in Form von Gold, Silber oder Schmuck. Mein Urgroßvater war nicht so reich, daß er sich einen lukrativen Posten in einer großen Stadt kaufen konnte. Mit seinen dreißig Jahren hatte er es nicht weit gebracht: Er war ein kleiner Schreiber in der Polizeistation eines Provinznestes namens Yixian, seiner Geburtsstadt. Aber er hatte große Pläne. Und er hatte einen Trumpf – seine Tochter.

 

Meine Großmutter war eine Schönheit. Sie hatte ein ovales Gesicht mit blaßrosa Wangen und einer wunderbaren Haut. Ihr langes, glänzendes Haar war zu einem dicken Zopf geflochten, der ihr bis zur Hüfte reichte. Wenn es von ihr erwartet wurde – und das ...

Erscheint lt. Verlag 25.6.2015
Übersetzer Andrea Galler, Karlheinz Dürr
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte China • China Geschichte • Erfahrungen und Schicksale • Erfahrungen und wahre Geschichten • Erfahrungsberichte • Familie • Generation • geschichtliches Sachbuch • Kaiserzeit • Leben in China • Lebensgeschichte • MAO • Politik • Politische Ideologie • Schicksal • wahre Familiengeschichte • wahre Geschichte Bücher
ISBN-10 3-426-43424-5 / 3426434245
ISBN-13 978-3-426-43424-6 / 9783426434246
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