Das Ende vom Paradies (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
616 Seiten
Domowina Verlag
978-3-7420-2335-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Ende vom Paradies -  Christian Schneider
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Inmitten der Oberlausitz, am Heiderand versteckt, liegt eine idyllische Fünf-Häuser-Siedlung, die 'Paradies' genannt wird. Dort wohnt der sorbische Bauunternehmer Paul Schuster mit seiner Frau, seiner zweiten, und er könnte den wohlverdienten Ruhestand genießen, stünde da nicht als bitteres Fazit: 'Alles falsch gemacht im Leben'. Gedrängt von seinem Sohn, verbringt Schuster seine alten Tage damit, sich an das Erlebte zu erinnern. Christian Schneider fügt die Erinnerungen des Vaters und die des Sohnes zu einem dokumentarischen Epochenroman, der sich dem Leben einer Familie über drei Generationen widmet, ausgehend vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis in dessen 80er Jahre. Bewegend schildert er all die Wirren, die die Schusters durchlebt haben. Das Einbeziehen historischer Ereignisse macht den Roman zu einem lebendigen Zeugnis der jüngeren Geschichte.

- * 1938 in Lömischau, lebt in Grubschütz - Journalistik- und Agrarstudium, war als Redakteur und Chefredakteur der obersorbischen Kinderzeitschrift 'P?omjo' und als Verlagslektor tätig, - - freier Schriftsteller - Schriftsteller

Prolog


Lasst mich in Ruhe! Es hörte sich an, als hätte eine Frau geschrien. Aber es war keine Frauenstimme, es war die Stimme von Paul Schuster, auch Zement-Schuster genannt. Eigentlich war er immer darauf bedacht, mit gesetzter, mit männlicher Stimme zu sprechen, doch wenn ihn Ärger übermannte, vergaß er es. So auch an diesem Morgen.

Für eine Weile blieb alles still, bis dann wieder das Klopfen zu hören war, das Schlagen der Schreibmaschinentypen auf die Walze seiner Rheinmetall. Seine Frau, die zweite in seinem Leben, war nach dem Schrei in die Küche geflohen. Sie hatte ihn gefragt, was er zum Frühstück haben möchte. Mehlsuppe – was ihm am liebsten war – oder vielleicht ein Ei? Sie wusste: Wenn er morgens zeitig aufsteht und ohne zu frühstücken die schwere Breitwagenschreibmaschine auf den Tisch stellt, ist mit ihm schwer auszukommen. Dann hämmert er all das, was ihn in der Nacht nicht schlafen ließ, in die Tasten.

Er hatte seine zweite Frau beim Kirchentag der evangelischen Sorben in Malschitz, ihrem Geburts- und Wohnort, angesprochen, hatte unverhofft neben ihr Platz genommen. Sie, seit Kriegszeiten Witwe, hielt ihn, der so plötzlich neben ihr saß, für einen Spaßvogel. Was er da redete, konnte sie nicht ernst nehmen.

Es roch schon nach Kaffee im Saal, da sagte er ihr mit verschmitztem Lächeln: Meine liebe Nachbarin, Sie könnten meine Königin sein! Wenn wir beide den Willen hätten, könnten wir beide im Paradies leben. Sie werden Königin sein, ich der Diener, der sich um alles kümmert, was zum Leben im Paradies gehört. Ich habe vorgesorgt. Namaj – er hätte es nicht anders über die Zunge gebracht, als im Dual mit ihr zu sprechen. Wenn es um zwei Personen geht, um zwei Dinge, zwei Tätigkeiten, zwei Eigenschaften, dann wird im Sorbischen nicht wie im Deutschen in der Mehrzahl gesprochen, sondern in der Zweizahl: Es wird uns beiden an nichts fehlen.

Paul Schuster wird sie wohl schon längere Zeit im Auge gehabt haben – die schlanke Frau mit den dunkelbraunen Augen. Die Leute aus ihrem Dorf warnten sie: Ins Paradies? Du wirst doch nicht da runter in die Heide ziehen, bleib was du bist! Sie hatte nach dem Krieg gesiedelt, war alleinstehende Bäuerin gewesen. Dann war sie als eine der Ersten in die Genossenschaft eingetreten und hatte im Kälberstall gearbeitet. Und bedenke: Über ihn wird so manches geredet. Er verliert schnell die Fassung und soll überhaupt ein Mensch sein, mit dem nicht leicht auszukommen ist! Seine Frau ist ihm davongelaufen. Frag ihn doch mal, warum sie sich von ihm scheiden ließ!

Nicht sie hat sich von ihm scheiden lassen, hat sie den Leuten geantwortet, er hat sich von ihr getrennt. Und das ist wohl ein Unterschied. Sie und seine Kinder haben ihn ausgenutzt, bis es nicht mehr ging.

Worüber sie mit niemandem sprach, war das Papier, das er ihr übergeben hatte, handgeschrieben und von einem Notar gestempelt. Er werde ihr als Schenkung sein Vermögen überlassen – falls er früher als sie sterben sollte, schließlich sei sie ja zehn Jahre jünger als er. Ich gebe Dir alles, was ich habe, meinen Kindern und der Ersten nichts mehr! Sie haben es nicht verdient.

Am Tag ihrer Umsiedlung ins Paradies, an einem Dienstagvormittag Ende September 1969, schien die Sonne, als wollte sie den Sommer zurückholen. Sie schickte ihre Strahlen schräg ins Zimmer. Im ersten Augenblick war sie sich nicht sicher, ob es das Wohn- oder das Schreibzimmer war, in dem sie ihre Koffer abgestellt hatte. Es war kein Schreibtisch darin. Nur ein großer dreiteiliger Wohnzimmerschrank mit einem Mittelteil aus Glas, dahinter gelb-schwarze Leitzordner. Das Zimmer erschien ihr groß, weil fast leer. Ein Sessel mit abgeschabter Rückenlehne und ein massiver Tisch standen wie zufällig abgestellt da. Der Tisch, ohne Tischdecke, war so dunkel wie der Schrank. Der grünliche Kachelofen gleich am Eingang war kalt.

Paul Schuster hatte sich den einzigen Stuhl im Zimmer herangezogen, hielt sein Ohr ans Radio, an einen großen Radioapparat. Der stand auf dem Tisch, mit der Stirnseite zum Ofen hin. Er drehte an einem Knopf, versuchte den Sender deutlicher einzustellen. Dabei brummelte er vor sich hin, die Augen geweitet: Dieser Gomułka wollte Polen retten. Nun schickt er die Polizei mit Hunden gegen seine Leute. Wie soll Polen über den Winter kommen, wenn im Land nicht mehr gearbeitet wird? Da merkte sie: Das war nicht für mich bestimmt. Er winkte: Kannst gehen, durchs Haus!

Er wohnte im oberen Stockwerk. Zwei Zimmer nebenan waren völlig leer. Das Eckzimmer zur Morgen- und Mittagsseite war sein Schlafzimmer, mit zwei Betten, einer weißen niedrigen Bettstelle mit Federbett und einem höheren schwarzen Bett aus alter Zeit mit hohen Seitenbrettern. Wo früher der Strohsack hineinkam, lagen jetzt mehrere dicke Zudecken. Sie machte ein Fenster weit auf. Das war das Fenster zur Morgenseite, über die Straße zum Nachbarn, zu einem niedrigen Häusel mit einem Erkerzimmer. Sie lehnte sich hinaus, ihr Blick schweifte über das nahe Feld, einen schmalen Streifen, der in den nahen Kiefernwald hineinreichte. Da entdeckte sie auf der frisch aufgegangenen Saat die Rücken zweier Rehe. So etwas hatte sie noch nie gesehen.

Sie wusste: Der Hochwald hinter dem Feld verdeckt die Aussicht nach Straschow und Subornitz. Das waren die zwei größeren Orte der Umgebung. In Straschow war der Bäcker, wo sie das Brot holen würde. Subornitz kannte sie besser, weil dort, als sie noch auf dem Gut in Malschitz in Stellung war, Kohle gefördert wurde. Nachdem die Grube abgesoffen war, entstand daraus der Olba-See mit der Insel. Das Paradies gehörte zu Subornitz, zur Gemeinde Subornitz.

Sie ging von Fenster zu Fenster, von Zimmer zu Zimmer. Wie eine Schutzmauer umsäumte der Kiefernwald die Lichtung. Nur an einer Stelle, zur Wetterseite, war der Ring unterbrochen. Sie sah einen Teil des nahe gelegenen Dorfes, wusste: Das Dorf heißt Lemmisch, ist kleiner als Straschow. Eine Telefonleitung an Holzmasten zieht sich von seinem Haus an einem Feldweg entlang ins Dorf. Wenn Post ins Paradies geschickt wird, muss Lemmisch draufstehen und die Hausnummer dazu. Alle fünf Häuser im Paradies haben die Nummer 9, mit Zusatzbuchstaben. Sein Haus ist Nummer 9 B.

Warum Lemmisch Lemmisch hieß, hatte Paul Schuster ihr schon erklärt – verständlich: Vor fünfhundert Jahren, als auch diese Gegend gerodet und gepflügt wurde, mussten die slawischen Erstsiedler mit Ochsen im Joch vor dem Pflug die Erde und die Wurzeln aufbrechen – mit dem Lemeš, wie sie das scharfe Eisenschar nannten. Und aus Lemeš wurde Lemmisch.

Die Rehe waren aufgestanden. Sie nickte: Sein Paradies – er hat nicht übertrieben. Die Sonne wärmte die Dielung. Sie spürte die Wärme durch die wollenen Strümpfe und ihr war zumute, als würde die Sonne hier nie untergehen.

Von ganz oben, vom Bodenzimmer aus, einem großen Raum mit zwei Fenstern zur Sonnenseite, könne sie bei klarem Wetter die spitzen Türme der Stadt sehen, hatte er ihr erzählt. An diesem, ihrem ersten Tag im Paradies fand sie sie nicht. Dafür sah sie, weit entfernt, die Konturen der blauen Berge – als wären sie ein Teil des Himmels.

Wieder hinunter vom Boden, ging sie zur Nordseite. Sie öffnete das Korridorfenster und merkte, dass es lange Zeit nicht geöffnet worden war. Eine große Spinne eilte davon. Kiefernsamen mit Flügeln lagen auf dem Fensterbrett. In die Ortschaften in dieser Richtung war sie noch nie gekommen. Gehört hatte sie, dass es weiter unten in der Heide, spreeabwärts, durch Kießlitz gehe und dass sich dort, gleich hinter der Spreebrücke, das nächste Dorf anschließe: Kaschel. Auch von Klitten hatte sie gehört, einem größeren Ort, schon im Preußischen. Doch aus ihrem Malschitz da hinunterzufahren, dafür hatte es nie einen Grund gegeben. Das wird sich nun ändern. Mit ihm werde ich nun auch nach Kießlitz und Kaschel fahren, denn er stammt ja von dort und hat dort seine Verwandten.

Ein Grünspecht, von ihr überrascht, flog laut kichernd davon. Sie schaute ihm nach. Im Kiefernwald rief er noch einmal Kijau-kijau-kijau. Das hörte sich an, als lache er sie aus.

Und dann die erste Zeit im Paradies: Er wies sie ein, seine Königin. Ich zeige dir, wo was ist und was auf dich zukommt. Er sprach väterlich mit ihr, mit angenehm warmer Stimme. Fürs Einkaufen der Lebensmittel sei sie zuständig, dafür bekomme sie Kostgeld. Abrechnen am besten nach jedem Einkauf. Bisschen Ordnung muss ja sein, sagte er – und sagte auch sie.

Nach dem ersten Abrechnen lehrte er sie das Subtrahieren. Minus? Darin war sie nicht geübt. Und überhaupt hatte sie fürs Schreiben, Rechnen, Lesen keine Zeit gehabt. Ihre Hände schwitzten und der Bleistift klebte zwischen den Fingern. Er saß ihr gegenüber, schob die Mittelschiene seines metallenen Rechenschiebers, mit dem er die Statik eines Bauprojekts berechnete, hin und her. Sie versuchte die Preise untereinanderzuschreiben und von der Summe, die sie von ihm erhalten hatte, abzuziehen. Nach einer Weile hielt er inne und meinte: Was meine Erste auf Anhieb geschafft hat, wird dir wohl nie gelingen.

Bevor er sich seine Zweite geholt hat, hatte er – Maurermeister in jungen Jahren, dann Bauunternehmer und Architekt, schließlich, schon in fortgeschrittenem Alter, diplomierter Bauingenieur – in seinem VEB-BMK gut verdient. Nachdem er dann seine Arbeitsstelle endgültig verlassen hatte, ging er als Rentner seiner Lieblingsbeschäftigung nach, der Arbeit am Zeichenbrett. Für staatliche und genossenschaftliche Firmen, auch für private Besteller fertigte er Bauzeichnungen an. In der vom Staat gelenkten Wirtschaft wurde pausenlos gebaut. Neben geplanten Großbauvorhaben wuchsen in...

Erscheint lt. Verlag 1.4.2015
Nachwort Jurij Koch
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Epochenroman • Oberlausitz • Oberlausitz, Sorben, Epochenroman • Sorben
ISBN-10 3-7420-2335-7 / 3742023357
ISBN-13 978-3-7420-2335-3 / 9783742023353
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