Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben (eBook)

Mit einem Vorwort von Antje Ravic Strubel

(Autor)

eBook Download: EPUB
2014 | 1. Auflage
304 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-1130-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben -  Joan Didion
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Joan Didion erzählt von den Leitfiguren des American Dream wie Howard Hughes, Joan Baez oder John Wayne, vom Glanz Hollywoods und der Einsamkeit von Alcatraz, von der Aufbruchsstimmung der sechziger Jahre und der Ernüchterung, die ihr folgte. Dabei gelingt es ihr, die amerikanische Wirklichkeit in unvergessliche Bilder zu fassen.

Joan Didion, geboren 1934 in Sacramento, Kalifornien, arbeitete als Journalistin für verschiedene amerikanische Zeitungen und war Mitherausgeberin der Vogue. Sie gilt als eine der wichtigsten Stimmen der amerikanischen Literatur, die mit ihren fünf Romanen und zahlreichen Essaybänden das intellektuelle Leben der USA im 20. Jahrhundert entscheidend prägte. Joan Didion starb im Dezember 2021 in New York.

Joan Didion, geboren 1934 in Sacramento, Kalifornien, arbeitete als Journalistin für verschiedene  amerikanische Zeitungen und war u. a. Redakteurin der Vogue. Sie hat fünf Romane und zahlreiche  Sachbücher veröffentlicht, darunter Das Jahr magischen Denkens. Joan Didion lebt in New York City.

Das Spiel ist aus


How many miles to Babylon?
Three score miles and ten –
Can I get there by candlelight?
Yes, and back again –
If your feet are nimble and light
You can get there by candlelight.

Es ist leicht, den Anfang der Dinge zu sehen, schwieriger ihr Ende. Ich kann mich gut und mit einer Klarheit, bei der sich mir die Muskeln im Nacken versteifen, daran erinnern, wie meine Zeit in New York begann, aber ich kann nicht genau sagen, wann diese Zeit zu Ende war, ich kann durch die Unklarheiten, die Neuanfänge, die uneingelösten Versprechen nicht zu der Stelle auf der Seite vordringen, an der die Heldin nicht länger die Optimistin ist, die sie einmal war. Als ich New York zum erstenmal sah, war ich zwanzig, und es war Sommer, und ich stieg im alten Behelfsterminal von Idlewild in einem neuen Kleid aus einer DC 7. Das Kleid schien in Sacramento ziemlich schick gewesen zu sein, aber schon in diesem alten Behelfsterminal von Idlewild schien es nicht mehr so schick, und die warme Luft roch nach Moder, und eine instinktive Eingebung, gesteuert von all den Filmen, die ich gesehen und all den Liedern, die ich gehört und all den Geschichten, die ich über New York gelesen hatte, sagte mir, daß es nie wieder so sein würde wie zuvor. Und es ist nie wieder so gewesen. Wenig später lief in allen Jukeboxen der Upper East Side ein Lied, in dem es hieß: »aber wo ist die Schülerin, die ich einst gewesen bin«, und nachts, wenn es sehr spät war, fragte ich mich das auch. Ich weiß jetzt, daß sich das fast jeder früher oder später einmal fragt, egal, was aus ihm oder ihr geworden ist, aber zum zweifelhaften Segen der Jugend von zwanzig, einundzwanzig oder auch dreiundzwanzig gehört die Überzeugung, daß das, was man erlebt, allen Gegenbeweisen zum Trotz noch nie zuvor irgend jemand erlebt hat.

Natürlich hätte es eine andere Stadt sein können, wären die Umstände andere gewesen, wäre die Zeit eine andere gewesen und wäre ich eine andere gewesen, es hätte Paris oder Chicago oder San Francisco sein können, aber weil ich von mir spreche, spreche ich von New York. In jener ersten Nacht öffnete ich das Fenster im Bus, der mich in die Stadt brachte, und hielt Ausschau nach der Skyline, aber alles, was ich sah, waren die Brachen von Queens und große Schilder mit der Aufschrift: MIDTOWN-TUNNEL DIESE SPUR, und dann die Sturzflut eines Sommerregens (schon das schien bemerkenswert und exotisch, da ich aus dem Westen kam, wo es keinen Sommerregen gab), und die nächsten drei Tage saß ich in Decken gewickelt in einem Hotelzimmer, in dem die Klimaanlage auf 2 Grad gestellt war, und versuchte, eine schlimme Erkältung mit hohem Fieber auszusitzen. Ich kam nicht auf die Idee, einen Arzt zu rufen, denn ich kannte keinen, und obwohl ich auf die Idee kam, die Rezeption anzurufen und darum zu bitten, die Klimaanlage auszuschalten, rief ich nicht an, denn ich wußte nicht, wieviel Trinkgeld ich der Person, die dann hochkommen würde, geben sollte – war jemals jemand so jung? Ich werde Ihnen davon erzählen, daß jemand tatsächlich so jung gewesen ist. Alles, was ich in diesen drei Tagen tun konnte, war, in Ferngesprächen mit dem Jungen zu reden, von dem ich schon wußte, daß ich ihn im Frühling nicht heiraten würde. Ich würde in New York bleiben, sagte ich ihm, nur sechs Monate, und von meinem Fenster könnte ich die Brooklyn Bridge sehen. Wie sich herausstellte, war es die Triborough Bridge, und ich blieb acht Jahre.

Rückblickend scheint es mir, als seien die Tage, bevor ich die Namen all der Brücken kannte, glücklicher gewesen als die, die danach kamen, aber vielleicht werden Sie das im Laufe der Zeit selbst bemerken. Ich möchte Ihnen unter anderem erzählen, wie es ist, in New York jung zu sein, wie aus sechs Monaten acht Jahre werden können und zwar mit der trügerischen Leichtigkeit einer filmischen Überblendung, denn genau auf diese Weise tauchen die Jahre jetzt wieder vor mir auf, eine lange Abfolge sentimentaler Überblendungen und altmodischer Trickaufnahmen – die Fontänen vor dem Seagram-Gebäude werden zu Schneeflocken, ich gehe mit zwanzig in eine Drehtür und komme ein ganzes Stück älter und an einer anderen Straße wieder heraus. Aber vor allem möchte ich Ihnen, und damit vielleicht auch mir, erklären, warum ich nicht mehr in New York lebe. Oft heißt es, daß New York eine Stadt für sehr Reiche oder für sehr Arme sei, weniger oft heißt es, daß New York auch, wenigstens für die unter uns, die nicht von dort kommen, eine Stadt ausschließlich für die ganz Jungen ist.

Ich erinnere mich, wie ich an einem klaren, kalten Dezemberabend einem New Yorker Freund, der sich darüber beschwerte, daß er schon zu lange in der Stadt war, vorschlug, mit mir auf eine Party zu gehen, wo es, wie ich ihm mit der einfallsreichen Aufgewecktheit von dreiundzwanzig versicherte, »neue Gesichter« geben würde. Er lachte, bis er keine Luft mehr bekam und ich das Taxifenster herunterkurbeln und ihm auf den Rücken klopfen mußte.

»Neue Gesichter«, sagte er dann, »erzähl mir nichts von neuen Gesichtern.« Auf der letzten Party, für die ihm »neue Gesichter« versprochen worden waren, hatte es offenbar fünfzehn Gäste gegeben, und mit fünf der Frauen hatte er bereits geschlafen und allen Männern, bis auf zwei, schuldete er Geld. Ich lachte mit ihm, aber der erste Schnee war gerade gefallen, die großen Weihnachtsbäume auf der Park Avenue glitzerten gelb und weiß, soweit ich sehen konnte, und ich trug ein neues Kleid, und es würde noch eine Weile dauern, ehe ich den tieferen Sinn dieser Geschichte verstand.

Es würde einfach deshalb eine Weile dauern, weil ich New York liebte. Ich meine mit »liebte« nicht irgendeine Floskel, ich meine, daß ich New York liebte, wie man die erste Person liebt, die einen je berührt, und wie man niemand anderen jemals mehr liebt. Ich erinnere mich, wie ich einmal in diesem ersten Frühling bei Dämmerung die zweiundsechzigste Straße überquerte oder auch im darauffolgenden Frühling, für eine Weile waren sie alle gleich. Ich kam schon zu spät zu meiner Verabredung, kaufte aber trotzdem einen Pfirsich auf der Lexington Avenue, blieb an einer Ecke stehen, um ihn zu essen, und wußte, daß ich aus dem Westen gekommen war und eine Fata Morgana erreicht hatte. Ich schmeckte den Pfirsich und spürte den weichen Wind an meinen Beinen, der aus einem U-Bahngitter kam, ich roch Flieder und Abfall und teures Parfüm, und ich wußte, daß das früher oder später seinen Preis haben würde – denn ich gehörte nicht hierher, ich kam nicht von hier –, aber wenn Sie zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig sind, denken Sie sich, daß Sie später eine große emotionale Stabilität besitzen und in der Lage sein werden, den Preis zu zahlen, koste es, was es wolle. Ich glaubte damals noch an Möglichkeiten, hatte noch dieses für New York so wesentliche Gefühl, daß jede Minute etwas Außergewöhnliches passieren könnte, jeden Tag, jeden Monat. Ich verdiente nur 65 oder 70 Dollar die Woche (»Begib dich in die Hände von Hattie Carnegie«, riet mir ein Redakteur der Zeitschrift, für die ich arbeitete, ohne eine Spur von Ironie), das war so wenig, daß ich in manchen Wochen, um überhaupt etwas zu essen, in der Lebensmittelabteilung von Bloomingdale’s anschreiben ließ, was in den Briefen, die ich nach Kalifornien schrieb, unerwähnt blieb. Ich sagte meinem Vater nie, daß ich Geld brauchte, denn dann hätte er welches geschickt, und ich hätte nie herausfinden können, ob ich es allein schaffte. Auf eigenen Füßen zu stehen, schien mir zu dieser Zeit wie ein Spiel, ein Spiel mit willkürlichen, aber ziemlich starren Regeln. Und mit Ausnahme bestimmter Winterabende – um halb sieben auf Höhe der Siebziger Straßen, sagen wir mal, wenn es dunkel war und ein eisiger Wind vom Fluß hoch fegte und ich zu einer Bushaltestelle hastete und hinter den erleuchteten Fenstern der Backsteinhäuser Köche in sauberen Küchen sah und mir vorstellte, wie eine Etage höher Frauen Kerzen anzündeten und wieder eine Etage höher hübsche Kinder gebadet wurden – mit Ausnahme solcher Nächte fühlte ich mich nie arm; ich hatte das Gefühl, mir Geld besorgen zu können, wann immer ich welches brauchte. Ich konnte für mehrere Zeitschriften eine Kolumne für Teenager unter dem Namen »Debbi Lynn« schreiben, oder ich konnte Gold nach Indien schmuggeln, oder ich konnte mich als 100-Dollar-Callgirl verdingen, und nichts davon spielte eine Rolle.

Nichts war unwiderruflich, und alles war erreichbar. Hinter jeder nächsten Ecke gab es irgend etwas Besonderes, etwas Interessantes, etwas, das ich nie zuvor gesehen, getan oder gekannt hatte. Ich konnte auf eine Party gehen und jemanden kennenlernen, der sich Mr. Emotional Appeal nannte und das Emotional Appeal Institute leitete, oder Tina Onassis Blandford oder einen Proleten aus Florida, der ein Stammgast der »Big C« war, wie er es nannte, der Nachtclubs der Southampton-El Morocco-Tourneeroute (»Ich habe gute Kontakte zu den Big C, Schätzchen«, sagte er zu mir bei Kohlgemüse auf seiner riesigen geborgten Terrasse), oder ich konnte die Witwe des Selleriekönigs vom Harlemer Markt kennenlernen oder einen Klavierhändler aus Bonne Terre in Missouri, oder einen, der schon zweimal ein Vermögen in Midland, Texas, gemacht und wieder verloren hatte. Ich konnte mir und anderen Versprechen geben und hatte alle Zeit der Welt, sie zu halten. Ich konnte die ganze Nacht wach bleiben und Dummheiten machen, und nichts davon würde zählen.

Sehen Sie, ich war in New York in einer seltsamen Lage: Mir kam nie der Gedanke, daß ich ein wirkliches Leben lebte. In meiner Vorstellung war ich immer nur noch für ein paar Monate da, nur noch bis Weihnachten oder bis Ostern oder bis zum ersten...

Erscheint lt. Verlag 5.12.2014
Übersetzer Antje Rávik Strubel
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte American dream • Annabelle Dunne • Céline • Dokumentation • Erzählungen • Essay • Essays • Geschichten • Griffin Dunne • Hollywood • Howard Hughes • Jim Morrison • Joan Baez • John Wayne • Kalifornien • Netflix • Popkultur • Populärkultur • Prominente • Subkultur • The Center Will Not Hold • USA • White album
ISBN-10 3-8437-1130-5 / 3843711305
ISBN-13 978-3-8437-1130-2 / 9783843711302
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