Pariser Trilogie. Abendgesellschaft, Außenbezirke, Familienstammbuch (eBook)

Drei Romane
eBook Download: EPUB
2014 | 1. Auflage
359 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73979-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Pariser Trilogie. Abendgesellschaft, Außenbezirke, Familienstammbuch -  Patrick Modiano
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Drei Bücher hat Patrick Modiano unter dem Titel Pariser Trilogie zusammengefaßt: Abendgesellschaft, Außenbezirke und Familienstammbaum. Wie wird man zum Verräter, wie läßt es sich verhindern? Diese Fragen stellt sich ein junger Franzose, der sich, für die Gestapo arbeitend, einer Résistance-Gruppe anschließt. In einer ebenso sanften wie unnachgiebigen Erzählung nähert sich Modiano einer Vergangenheit an, die er selbst nicht erlebt hat. Mit seiner unverwechselbaren Musikalität erweckt er Worte zum Leben und überführt sie in eine fantastisch anmutende Abendgesellschaft. In den Außenbezirken, außerhalb von Paris, sucht Serge Alexandre seinen Vater. Wieder befinden wir uns in der Zeit der Besatzung. Wer ist dieser Vater? Was macht er, als Jude unter all den zwielichtigen Gestalten? Warum erkennt er seinen Sohn nicht mehr? Bis zuletzt folgt der Erzähler den Spuren seines geisterhaften Vaters. »Ich war siebzehn, und es blieb mir nichts anderes übrig, als ein französischer Schriftsteller zu werden«, schreibt Modiano im Familienstammbuch und legt uns in 14 Erzählungen seine Jugenderinnerungen vor. Autobiographisches, aber auch Imaginiertes.

<p>Patrick Jean Modiano wurde am 30.7.1945 in Boulogne-Billancourt als Sohn einer flämischen Schauspielerin und eines jüdischen Emigranten orientalischer Abstammung geboren. Sein Vater lebte während der deutschen Besatzungszeit im Untergrund und schlug sich mit Schwarzmarktgeschäften durch. Modiano erlebte eine chaotische Nachkriegskindheit: häufige Abwesenheit der Mutter, früher Tod des Bruders und Trennung der Eltern. Modiano widmete sich schon früh dem Schreiben und bereits mit 21 Jahren beendete er seinen ersten Roman. Seitdem publizierte er zahlreiche Romane, Kinderbücher sowie Theaterstücke und Drehbücher. 2014 ist Modiano mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet worden. Der Autor lebt in Paris.</p>

Außenbezirke


Wenn ich doch an irgendeinem Punkt
der französischen Geschichte eine
Spur von mir fände!
Aber nein, nichts.

Rimbaud

 

Für Rudy
Für Dominique

 

 

 

Der Dickste von den dreien ist mein Vater. Murraille neigt sich zu ihm herüber, als wollte er ihm leise etwas sagen. Marcheret, der ein Lächeln andeutet, steht mit leicht vorgewölbter Brust, die Hände an den Revers des Jacketts, im Hintergrund. Weder die Farbe ihrer Anzüge noch die ihrer Haare läßt sich genau erkennen. Es scheint, daß Marcheret einen sehr weit geschnittenen Kammgarnanzug trägt und daß er eher blond ist. Auffällig der lebhafte Blick von Murraille und der besorgte Blick meines Vaters. Murraille scheint lang und dünn zu sein. Aber der untere Teil seines Gesichts ist gedunsen. An meinem Vater ist alles schlaff, bis auf die Augen, die fast aus den Höhlen treten.

Holztäfelung und ein gemauerter Kamin: Man befindet sich in der Bar der »Auberge du Clos-Foucré«. Nicht zu vergessen die Zigarette, die zwischen Murrailles Lippen hängt. Mein Vater hält seine Zigarette zwischen Ringfinger und kleinem Finger. Eine müde, affektierte Geste. Am äußersten Ende des Raumes eine weibliche Gestalt: Maud Gallas, die Geschäftsführerin vom »Clos-Foucré«. Die Sessel, in denen Murraille und mein Vater sitzen, sind bestimmt aus Leder. Da ist ein vager Reflex auf der Rückenlehne, genau unterhalb der Stelle, wo sich Murrailles linke Hand festklammert. Sein Arm liegt um den Nacken meines Vaters in einer Haltung, die etwas Beschützendes haben könnte. An seinem Handgelenk protzt eine teure Uhr mit rechteckigem Zifferblatt. Marcherets athletische Gestalt verdeckt zur Hälfte Maud Gallas und die Reihen der Apéritifs. An der Wand hinter der Bar entdeckt man, ohne daß es besonderer Anstrengung bedürfte, einen Wandkalender. Sauber abgerissen unter dem Vierzehnten. Unmöglich, den Monat oder das Jahr zu erkennen. Wenn man jedoch diese drei Männer und die weiche Silhouette von Maud Gallas genauer betrachtet, wird man annehmen, daß die Szene in sehr ferner Vergangenheit spielt.

Ein altes, zufällig auf dem Grunde einer Schublade entdecktes Foto, von dem man vorsichtig den Staub abwischt. Der Abend bricht an. Die gespenstischen Gestalten sind, wie gewohnt, in der Bar des »Clos-Foucré« eingekehrt. Marcheret hat sich auf einem Barhocker niedergelassen. Die beiden anderen haben die Sessel genommen, die vor dem Kamin stehen. Sie haben Cocktails bestellt, ein widerliches, sinnloses Gemisch, das Maud Gallas hergestellt hat, unterstützt von Marcheret, der ihr zweifelhafte Komplimente macht, indem er sie »meine dicke Maud« oder »meine Tonkinesin« nennt. Sie scheint darüber nicht entrüstet, und, als Marcheret eine Hand in ihren Ausschnitt schiebt und eine Brust tätschelt – was bei ihm jedesmal eine Art von Wiehern hervorruft –, bleibt sie völlig ungerührt, mit einem Lächeln, bei dem man sich fragt, ob es Verachtung oder heimliches Einverständnis ausdrückt. Sie ist eine Frau um die Vierzig, blond und üppig, mit einer tiefen Stimme. Die strahlenden Augen – sind sie nachtblau oder malvenfarben? – überraschen in diesem recht gewöhnlichen Gesicht. Welchen Beruf übte Maud Gallas aus, bevor sie die Leitung dieses Lokals übernahm? Wahrscheinlich denselben, aber in Paris. Sie und Marcheret spielen häufig auf Beaulieu an, ein Nachtlokal im Quartier des Ternes, das seit zwanzig Jahren geschlossen ist. Sie sprechen davon mit leiser Stimme, wie von einem Kind, das gestorben ist. Animierdame? Ehemalige Varietékünstlerin? Marcheret kennt sie zweifellos schon lange. Sie nennt ihn Guy. Während sie beim Bereiten der Apéritifs kleine unterdrückte Lacher ausstoßen, tritt Grève ein, der Oberkellner, und fragt Marcheret: »Was möchte der Herr Graf speisen?« Worauf Marcheret unweigerlich antwortet: »Der Herr Graf wird Scheiße essen«, und er schiebt das Kinn vor, kneift die Augen zusammen und verzieht gelangweilt und angeekelt sein Gesicht. Dann läßt mein Vater regelmäßig ein kleines beifälliges Lachen hören, um Marcheret zu zeigen, daß er diese Replik genießt und daß er ihn, Marcheret, für den geistreichsten Mann der Welt hält. Der ist von der Wirkung, die er auf meinen Vater hat, entzückt und ruft ihm zu: »Hab ich nicht recht, Chalva?« Und mein Vater pflichtet ihm hastig bei: »Oh, natürlich, Guy!« Murraille bleibt von diesem Humor ungerührt. An dem Abend, da Marcheret, mehr in Form als gewöhnlich, den Rock von Maud Gallas hochhebt und erklärt: »Das, das nenne ich mir einen Schenkel!«, nimmt Murraille einen spitzen weltmännischen Ton an: »Entschuldigen Sie ihn, teure Freundin. Er glaubt sich noch immer in der Fremdenlegion.« (Diese Bemerkung wirft ein neues Licht auf die Persönlichkeit von Marcheret.) Murraille seinerseits befleißigt sich feiner Manieren. Er drückt sich gewählt aus, moduliert den Tonfall seiner Stimme, um sie möglichst geschmeidig klingen zu lassen, und entwickelt nahezu parlamentarische Beredsamkeit. Er begleitet seine Worte mit ausladenden Handbewegungen, versäumt nicht, Kinn und Brauen effektvoll einzusetzen, und die Bewegung seiner Finger erinnert an einen sich entfaltenden Fächer. Er kleidet sich sehr gewählt: englische Stoffe, Hemden und Krawatten in sorgfältig aufeinander abgestimmten Grautönen. Warum dann noch dieses aufdringliche Parfum de Chypre, das ihn umschwebt? Und dieser Siegelring aus Platin? Man betrachtet ihn von neuem: die Stirn ist hoch, und die hellen Augen haben einen munteren, freimütigen Ausdruck. Aber weiter unten läßt die im Mundwinkel hängende Zigarette seine Lippen noch weichlicher erscheinen. Die kraftvolle Struktur des Gesichts zerbröckelt im Bereich der Kiefer. Das Kinn weicht zurück. Hören wir zu: Seine Stimme wird hin und wieder brüchig. Einige vulgäre Worte platzen hervor gleich den Fürzen eines derben Schankwirts. Am Ende fragt man sich beunruhigt, ob er nicht aus dem gleichen groben Stoff gemacht ist wie Marcheret.

Dieser Eindruck bestätigt sich noch, wenn man die beiden gegen Ende der Mahlzeit betrachtet. Sie sitzen nebeneinander, meinem Vater gegenüber, von dem man nur den Nacken sieht. Marcheret spricht sehr laut mit schallender Stimme. Das Blut steigt ihm in die Wangen. Murraille hebt ebenfalls die Stimme, und sein schrilles Lachen überdeckt Marcherets eher gutturales Gelächter. Sie zwinkern sich zu und klopfen einander kräftig auf die Schulter. Eine Komplizenschaft bildet sich zwischen ihnen, ohne daß sich ein Grund dafür erkennen ließe. Man müßte an ihrem Tisch sitzen und ihr ganzes Gerede mitanhören. Von weitem dringen nur ein paar Gesprächsfetzen zu uns herüber, wirr und unzusammenhängend. Jetzt stecken sie geheimnisvoll die Köpfe zusammen, und ihr Gekicher verliert sich in diesem großen menschenleeren Speisesaal. Eine bleischwere Spannung senkt sich über die Tische, die Täfelung, den normannischen Schrank, die Köpfe von Hirschen und Rehböcken, die an der Wand hängen. Ein grelles Licht liegt über dem Saal wie eine Watteschicht und erstickt den Ton ihrer Stimmen. Kein einziger Schatten, außer dem Rücken meines Vaters. Man fragt sich, warum dieses grelle Licht ihn ausspart. Indessen tritt sein Nacken ganz klar unter dem Licht der Hängelampe hervor, und man entdeckt sogar eine kleine rosa Narbe in der Mitte. Dieser Nacken ist derart geneigt, daß er sich einem unsichtbaren Fallbeil darzubieten scheint. Mein Vater trinkt jedes Wort aus ihrem Munde. Er nähert seinen Kopf bis auf wenige Zentimeter dem ihren. Es fehlt nicht viel, und er würde mit seiner Stirn gegen die von Murraille oder Marcherets stoßen. Wenn das Gesicht meines Vaters dem Marcherets etwas zu nahe kommt, packt dieser mit Daumen und Zeigefinger seine Wange und dreht sie mit sanfter Gewalt ein wenig herum. Mein Vater rückt sogleich etwas ab, aber Marcheret läßt nicht los. So hält er ihn einige Minuten lang, und der Druck seiner Finger nimmt noch zu. Offenbar spürt mein Vater einen lebhaften Schmerz. Schließlich bleibt ihm davon ein rotes Mal auf der Wange. Er legt ängstlich die Hand darüber. Marcheret sagt zu ihm: »Das wird dich lehren, Chalva, nicht zu neugierig zu sein …« Und mein Vater: »O ja, Guy … Du hast recht, Guy …« Er lächelt.

Grève bringt die Liköre. Seine Haltung und seine zeremoniellen Bewegungen kontrastieren mit der Lässigkeit der drei Männer und der Frau. Murraille, das Kinn auf die Hand gestützt, mit stumpfem Blick, macht den Eindruck totaler Erschöpfung. Marcheret hat den Knoten seiner Krawatte gelockert und stützt sich mit seinem ganzen Gewicht auf die Rückenlehne seines Stuhls, so daß dieser sich nur noch auf zwei Beinen im Gleichgewicht hält. Man fürchtet, er könnte jeden Augenblick umkippen. Mein Vater neigt sich so zudringlich vor, daß er mit der Brust fast den Tisch berührt. Ein kleiner Schubs genügte, und er würde über die Teller fallen. Die wenigen Worte, die man jetzt noch vernimmt, werden von Marcheret mit belegter Stimme gesprochen. Im nächsten Moment gibt er nur noch Verdauungsgeräusche von sich. Liegt es an dem allzu üppigen Mahl (sie bestellen immer Gerichte mit Saucen und verschiedene Sorten Wild) oder an dem übermäßigen Genuß der Getränke (Marcheret bestellt stets schwere Burgunderweine aus der Vorkriegszeit), daß sie so abstumpfen? Grève, hinter ihnen, hält sich sehr aufrecht. Wie beiläufig sagt er zu Marcheret: »Wünschen der Herr Graf noch ein zweites Glas Likör?«, wobei er auf jede Silbe von »der Herr Graf« besonderen Nachdruck legt. Und noch gewichtiger artikuliert er alsdann: »Sehr wohl, Herr Graf.« Will er Marcheret zur...

Erscheint lt. Verlag 10.11.2014
Übersetzer Walter Schürenberg
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel La ronde de nuit, Les boulevards de ceinture, Livret de famille
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Abend • Autobiografie • Besatzung • Bezirk • Erinnerungen • Familie • Frankreich • Gesellschaft • Gestapo • Juden • Jugend • Paris • Patrick Modiano • résistance • Roman • ST 4618 • ST4618 • Stammbuch • suhrkamp taschenbuch 4618 • Trilogie • Verräter • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-518-73979-4 / 3518739794
ISBN-13 978-3-518-73979-2 / 9783518739792
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 4,8 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99