Dmitri / Die Übergangsgesellschaft / Nibelungen / Limes. Mark Aurel / Was wollt ihr denn (eBook)
303 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74242-6 (ISBN)
<p>Volker Braun, 1939 in Dresden geboren, arbeitete in einer Druckerei in Dresden, als Tiefbauarbeiter im Kombinat <em>Schwarze Pumpe</em> und absolvierte einen Facharbeiterlehrgang im Tagebau Burghammer. Nach seinem anschließenden Philosophiestudium in Leipzig wurde er Dramaturg am Berliner Ensemble. 1983 wurde Volker Braun Mitglied der Akademie der Künste der DDR, 1993 der (gesamtdeutschen) Akademie der Künste in Berlin. 1996 erfolgte die Aufnahme in die Sächsische Akademie der Künste und in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Im Wintersemester 1999/2000 erhielt er die Brüder-Grimm-Professur an der Universität Kassel. Von 2006 bis 2010 war Volker Braun Direktor der Sektion Literatur der Akademie der Künste. Er erhielt zahlreiche Preise, u.a. den Georg-Büchner-Preis im Jahr 2000. Volker Braun lebt heute in Berlin.</p>
1
Reichstag in Polen. Die Großen laufen über die Bühne und präparieren simultan ihre Rollen, der König seine stumme.
GNESEN
SO IST DENN DIESER STÜRMEVOLLE REICHSTAG
ZUM GUTEN ENDE GLÜCKLICH EINGELEITET
KÖNIG UND STÄNDE SCHEIDEN WOHLGESINNT
DER ADEL WILLIGT EIN SICH ZU ENTWAFFNEN
DER WIDERSPENSTIGE ROKOSZ SICH ZU LÖSEN
Rokosz sich zu lösen
DER KÖNIG ABER GIBT SEIN HEILIG WORT
ABHÜLF ZU LEISTEN DEN GERECHTEN KLAGEN
und nicht seinen Sohn auf den Thron zu hieven, nicht wahr, weil wir eine Republik sind
MNISCHEK?auswendig:
HIER IST NICHT MOSKAU NICHT DESPOTENFURCHT
SCHNÜRT HIER DIE FREIE SEELE ZU HIER DARF
DIE WAHRHEIT WANDELN MIT ERHABNEM HAUPT
ICH WILLS NICHT HOFFEN EDLE HERRN DASS HIER
ZU KRAKAU AUF DEM REICHSTAG SELBST DER POLEN
DER CZAR VON MOSKAU FEILE SKLAVEN HABE
LEMBERG
WER ABER SOLL GERECHT SEIN AUF DER ERDE
WENN ES EIN GROSSES TAPFRES VOLK NICHT IST
DAS FREI IN HÖCHSTER MACHTVOLLKOMMENHEIT
NUR SICH ALLEIN BRAUCHT RECHENSCHAFT ZU GEBEN
UND UNBESCHRÄNKT VON hier gehts nicht weiter VON den blöden Rücksichten auf Sitten und die Anmaßung der Spitze und der verrotteten Völker, mit denen wir Frieden halten, wenn sich kein Vorwand findet, sie rechtens anzugreifen,
DER SCHÖNEN MENSCHLICHKEIT GEHORCHEN KANN
KRAKAU
ES IST DIE GROSSE SACHE ALLER STAATEN
UND THRONEN DASS GESCHEH WAS RECHTENS IST
DA FREUT SICH JEDER SICHER SEINES ERBS
UND ÜBER JEDEM HAUSE JEDEM THRON
SCHWEBT DER VERTRAG WIE EINE CHERUBSWACHE
DOCH WO
SICH STRAFLOS FEST SETZT IN DEM FREMDEN ERBE
DA WANKT DER STAATEN FESTER FELSENGRUND
SAPIEHA
DIE MEHRHEIT
WAS IST DIE MEHRHEIT MEHRHEIT IST DER UNSINN
VERSTAND IST STETS BEI WENGEN NUR GEWESEN
BEKÜMMERT SICH UMS GANZE WER NICHTS HAT
HAT DER BETTLER EINE FREIHEIT EINE WAHL
ER MUSS DEM MÄCHTIGEN DER IHN BEZAHLT
UM BROD UND STIEFEL SEINE STIMM VERKAUFEN
MAN SOLL DIE STIMMEN WÄGEN UND NICHT ZÄHLEN
DER STAAT MUSS UNTERGEHN FRÜH ODER SPÄT
WO MEHRHEIT SIEGT UND UNVERSTAND ENTSCHEIDET
GNESEN?unterbricht den Lärm:
UND NUN IM INNERN FRIED IST KÖNNEN WIR
aber wohin mit den Truppen, die noch im Feld stehn?
DIE AUGEN AUF DAS AUSLAND RICHTEN –
Kronbeamte, Woiwoden, Landboten stürzen auf die Bühne.
DER REICHSTAG?Während man hört, daß gewisse Herren schon den Angriff auf Rußland machinieren. / Gewisse Herren schon den Angriff machinieren. / Es gibt keinen?Anlaß?für einen Krieg./ SAPIEHA Ich hab mit Moskau Frieden abgeschlossen. / Rußland ist schwach. / Am Boden. / Noch nie war die Gelegenheit so günstig. / Die Beute der Tataren. / Rußland bricht den Frieden. / Rußland ist reich. / SAPIEHA Frieden abgeschlossen, und ich bin Mann dafür, daß man ihn halte. / Es gibt keinen?Anlaß?für einen Krieg.
Man verharrt in Schweigen.
Es heißt, der Zarewitsch von Moskau lebt. / Wer lebt. / Der Zarewitsch von Moskau lebt. / Wer sagt das. / Wer sagt das. Gelächter. Dmitri ist nicht ermordet? / Er wurde in Uglitsch erstochen dermalen vor vierzehn Jahren im Alter von sieben von Boris Godunow weiland dem Thronverwalter jetzt Zar in Moskau. / Er lebt. Gelächter. MNISCHEK Ein entlaufner Russe, jetzt mein Knecht, wurde erkannt bei Gelegenheit eines Tractaments, das er empfing. / Eines Tractaments? / MNISCHEK beiläufig: Weil er das Handtuch nicht in die Badstube bringt sondern auf Pferden reitet, ich erzürne mich und gebe ihm eins aufs Maul und nenne ihn einen Hurensohn, er stellt sich, als wenn ihm das zu Herzen ginge, fängt in der Badstube an zu weinen und spricht: wenn du wüßtest wer ich bin, du würdest mich nicht einen Hurensohn nennen, und vielweniger um so geringer Ursache wegen an Hals schlagen. Mein baldiger Schwiegersohn, und Palatin, faßt ihn an und sagt mir: du drischst wohl den Zar von Rußland. Der Knecht wirft ihn in Dreck. Sapieha lacht. Mnischek lacht mit. Wenn er der Zarewitsch ist / Hat er Beweise? / Wer sagt das. Stille. Alle sagens! / Der Sohn Iwans, des Großen. / Gerüchte! / Dann hat er Anspruch auf den Thron. / Dann muß ihm Polen auf seinen Thron helfen! / MNISCHEK Hier ist nicht Moskau. Nicht Despotenfurcht schnürt hier die freie Seele zu. Hier darf die Wahrheit wandeln mit erhabnem Haupt. / Tumultuarisch: Demetrius. / KRAKAU Es ist die große Sache aller Staaten und Thronen, daß gescheh was rechtens ist. / Krieg mit Rußland! / Es ist nichts bewiesen. / LEMBERG Wer aber soll gerecht sein, wenn es ein großes tapfres Volk nicht ist, das frei und unbeschränkt etc. der schönen Menschlichkeit gehorchen kann. / Krieg Krieg mit Rußland! / Die Mehrheit will es. / SAPIEHA Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn. / Die Mehrheit! / SAPIEHA Verstand ist stets bei Wengen nur gewesen. / Sammelt die Stimmen. Truppen für Dmitri! / SAPIEHA Man soll die Stimmen wägen und nicht / Hier ist nicht Moskau / Was rechtens ist / Der schönen Menschlichkeit / Krieg Krieg!
Großes Getöse. Alles rennt hinaus.
KÖNIG?Viel Worte liebch ni. Das Ganze sieht mir noch zu roh aus. Ich werd ni wegen eines ungewissen Glicks einen gewissen Krieg anfang. Den Fehler mach ich ni und zieh mir vom schwedschen Kenig gefährliche Würkungen aufs Haupt. Aber derwegen werd ichs ni hindern, wenn die Woiwoden Lust haben, auf ihre Unkosten Demetrium beizuspring und ihm in Moskau zu führen, was sei Recht is.
2
Dmitri blass und starr auf einem Stuhl. Um ihn im Halbkreis sitzen Mnischek, Gnesen, Lemberg, Krakau, ein Priester, sehn ihn erwartungsvoll / streng / grinsend an. Hinter Mnischek stehnd der Palatin, im Arm die füllige Marina. Langes Schweigen.
MNISCHEK?Es geht ein wenig schnell. Er kannte sich nicht.
Die Großen hüsteln geduldig.
Du bist in Rußland geboren. Zum Palatin: Es stimmt alles. – Als welches ein finstres Land. Deine Mutter eine schöne Frau, mit Brüsten wie Schnee, vor der man sich verbeugte. – Die Zarin. – Der Mörder kam mit einem Messer in das Schloß. Das Feuer. Ihr seid gerannt. Der Himmel glutrot.
Dmitri schweigt gehetzt.
Gerettet, genau. Verwechselt mit dem Balg der Amme, das im Blut lag. Ins Kloster geflüchtet. Hat sich nicht mehr gekannt.
PRIESTER?Eine Tragödie.
Dmitri wieder versunken.
MNISCHEK?Er spricht drei Sprachen. Zu Pferd eine gesengte Sau. Er hat bei meinen Reitern allen Krieg gelernt.
Die Großen raunzen erfreut.
Ließ sich nicht an Hals schlagen. Manieren, wie ein Fürst.
PALATIN?Angeboren.
MNISCHEK?Seht ihn an!
Dmitri hebt aufgeregt den Kopf.
Wenn mans nicht wüßte, seine Fähigkeiten würden ihn entdecken. Wo ist einer so qualifiziert? Er hat alle Eigenschaften eines Zaren.
Dmitri vor Hoffnung von stummem Lachen geschüttelt.
PRIESTER?Er glaubt sich nicht.
MNISCHEK?Er schläft bei mir im Stall! Springt auf: Verzeiht mir, Herr. – Holt die Bojaren. – Bojarenkinder, Flüchtlinge aus Moskau. Sag ihnen, wer du bist.
Palatin bringt drei junge Russen. Sehn Dmitri erstaunt an.
Was gibts?
RUSSEN?Die Ähnlichkeit. Herr, wie Ihr sagt.
MNISCHEK?Was sag ich.
RUSSEN?Die Warze unterm Auge.
Dmitri faßt sich ans Auge.
Der Arm. Sein Arm ist kurz. Er zeigt seinen Arm.
MNISCHEK?Hatte der Zarewitsch einen kurzen Arm?
Russen treten erregt zurück, rudern mit den Armen.
Dann ist ers.
RUSSEN?Die helle Haut. Sein zarter Körper. Sein Alter. Er ist da!
Fallen auf den Boden. Die Großen stehn überrascht auf. Mnischeks Gesinde in den Türen. Dmitri erhebt sich halb.
MNISCHEK?Du hasts geahnt. Gefühlt. Du bist kein Knecht.
Dmitri reißt mechanisch seinen Knechtsrock entzwei.
PALATIN?betreten: Ich hatte einen Scherz gemacht: feixt er sei der Zar –
MNISCHEK?Wie, so einen Gast hast du nicht erwartet bei deiner Hochzeit...
Erscheint lt. Verlag | 14.4.2014 |
---|---|
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Literatur ► Lyrik / Dramatik ► Dramatik / Theater | |
Schlagworte | Dresdner Kunstpreis 2012 • Nibelungen • Ordre des Arts et des Lettres (Chevalier) 2012 • Prix international Argana de la Poésie 2015 • specatculum • Theaterstück |
ISBN-10 | 3-518-74242-6 / 3518742426 |
ISBN-13 | 978-3-518-74242-6 / 9783518742426 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 4,6 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich