Ein Tag im Jahr (eBook)

1960-2000

(Autor)

eBook Download: EPUB
2014 | 1. Auflage
702 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73307-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein Tag im Jahr -  Christa Wolf
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1960 nahm Christa Wolf ein ganz besonderes Tagebuch-Projekt in Angriff: Vierzig Jahre lang porträtierte sie jeden 27. September, notierte die Erlebnisse, Gedanken und Gefühle eines jeden dieser Tage. Entstanden ist eine erstaunliche persönliche Chronik, ein beeindruckendes Zeugnis ihrer Existenz als Autorin, als Frau, Mutter, als Bürgerin der DDR und schließlich der BRD.

<p>Christa Wolf, geboren 1929 in Landsberg/Warthe (Gorz&oacute;w Wielkopolski), lebte in Berlin und Woserin, Mecklenburg-Vorpommern. Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen, darunter dem Georg-B&uuml;chner-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Uwe-Johnson-Preis, ausgezeichnet. Sie verstarb am 1. Dezember 2011 in Berlin.</p>

Mittwoch, 27. September 1961


Amselweg, Halle/S.

Gestern, als eigentlich der »Tag des Jahres« sein sollte – eine Tradition, die ich doch anfangen möchte –, habe ich den ganzen Tag über nicht daran gedacht, erst heute früh, beim Erwachen, fiel es mir ein, kein lustvoller Einfall, ich spürte Unlust, mich pflichtgemäß schreibend an gestern zu erinnern. In älteren Tagebüchern blätternd, sah ich wieder, was alles man vergißt, wenn man es nicht aufschreibt: Fast alles. Besonders die wichtigen Kleinigkeiten. Also aufschreiben. Und zugleich ein Test, was ich vom gestrigen Tag noch weiß, was ich aus der schnell verblassenden Erinnerung festhalten, »retten« kann. Und die Frage wegschieben: Wozu retten? Was ist denn wichtig an einem durchschnittlichen Tag in einem durchschnittlichen Leben? Was bringt mich dazu, die früh eingeprägte Mahnung: Nimm dich doch nicht so wichtig! zu mißachten? Selbstüberhebung? Aber ist Selbstüberhebung, sich wichtig nehmen, nicht die Wurzel allen Schreibens?

(In Klammern vermerkt, da es eigentlich peinlich ist: In der letzten Woche, da ich leider wieder krank war – die alte Krankheit: Herzschmerzen, Schlaflosigkeit, Müdigkeit –, las ich eine Zusammenstellung von Dokumenten aus Goethes Leben: Dichtung und Wahrheit, Briefe, Tagebuchblätter, und dachte wieder: Man muß aufschreiben, und sei es, jeden Tag nüchtern zu registrieren. Nicht »schön« schreiben wollen. Stichworte, Tatsachen. Keine Seelenergüsse.)

Am ehesten hält sich das Gerüst des Tages, das Gerüst der meisten Tage, das aus härterem Stoff ist als die Füllmasse, das eigentliche Leben, das jeden Tag ein bißchen anders ist. Der Wecker um halb sieben, der erste Blick aus dem Fenster auf den Amselweg, ein bezogener Himmel, Wolken gehen, doch Regen scheint nicht anzustehen. Frühherbstliche Blattfärbung. Einige Fahrradfahrer, die zu ihren Betrieben müssen, darunter sicher manche, die zum Waggonwerk Ammendorf fahren. Der Name ist ein Signal, das eine Bilderfolge in mir auslöst, bestimmte Wege im Werk weiß ich inzwischen auswendig und kann sie auf meiner inneren Landkarte nachgehen, mit einer gewissen Genugtuung: Etwas Fremdes habe ich mir angeeignet.

Stille im Kinderzimmer. Im Bad die gewohnten Prozeduren und Handgriffe. Gerd ist schon in der Küche und hat angefangen, Frühstück zu machen, geht ins Bad. Leider muß ich jetzt Annette wecken. Als ich vorsichtig die Tür zum Kinderzimmer aufmache, stellt sich heraus, daß beide wach sind, mucksmäuschenstill in ihren Betten sitzen und lesen. Jedenfalls nennt Tinka die Beschäftigung mit ihren Bilderbüchern, die sie auf ihrem Bett aufgehäuft hat, »lesen«, worüber Annette sich mit mir durch einen mitleidig-nachsichtigen Blick verständigt. Man muß der kleinen Schwester ihre Defizite ja nicht aufs Butterbrot schmieren. Sie selbst ist in ein Märchenbuch vertieft. Manchmal fragt sie, ehe sie ein neues Märchen anfängt, ob es »gut« oder »schlimm« ausgeht. Wie ich sie verstehe! Aber was ist gut, was schlimm? Annette ist da ganz sicher: Wenn der Gute recht bekommt und siegt, geht das Märchen gut aus. Einmal habe ich versucht, einen leisen Zweifel in ihre Gewißheit zu säen: Tue es ihr nicht leid, wenn die böse Stiefmutter am Ende in glühenden Pantoffeln tanzen muß? O nein. Hauptsache, Schneewittchen ist wieder lebendig und hat ihren Prinzen geheiratet. Die Schicksale der Nebenpersonen sind unerheblich, und die böse Gegenspielerin muß unbedingt bestraft werden. Ich habe als Kind in Annettes Alter der Hexe auf der Abbildung in meinem Märchenbuch die Augen ausgekratzt. Annette hat im Sommer mit den Kindern aus dem Haus und aus der Umgebung »Rotkäppchen« aufgeführt, sie als die Älteste war Regisseurin, ganz ernst hat sie ihre Aufgabe genommen – wie jede Aufgabe –, vor der Aufführung mit Publikum aus der Nachbarschaft war sie aufgeregt wie ein echter Regisseur vor seiner Premiere. Sie hat sich einen Bestand von Lieblingsmärchen angelegt, die gut ausgehen und die sie wieder und wieder liest. Was ist es heute früh? – Aschenputtel. – Komm, aufstehen. – Erst zu Ende lesen. – Aber du weißt ja, wie es ausgeht. – Trotzdem. Tinka gibt von ihrem Bett aus den altklugen Kommentar, daß man nicht mitten in einer Geschichte aufhören kann, dann muß man nämlich immerzu daran denken. Sie steckt zur Zeit voller Lebensweisheiten.

Wir finden einen Kompromiß, Annette sitzt rechtzeitig am Frühstückstisch, löffelt ihre Haferflocken, verdreht auf die vorsichtige Frage, ob sie ihre Mappe gepackt hat, die Augen und muß dann, nachdem sie schon die Treppe runter war, noch mal zurückkommen, weil sie vergessen hat, ihr Russischbuch einzupacken. Klug enthalte ich mich jeglichen Kommentars, und Annette enthält sich jeglichen Anzeichens von Einsicht. So sind wir quitt.

Ich stelle mich auf den kleinen Erkerbalkon an Gerds Arbeitszimmer und blicke ihr nach. Sie hat die dunkelblaue Jacke mit den karierten Aufschlägen an, ihr Pferdeschwanz wippt, ihre Kniekehlen blitzen. Strumpfhosen kommen noch nicht in Frage, wurden entrüstet abgelehnt. Wie jeden Morgen zieht sich mir das Herz ein wenig zusammen, wenn sie weggeht. Wie jeden Morgen frage ich mich, ob wir ihr die andere Schule hätten zumuten sollen, die weiter weg liegt, zu der sie mit der Straßenbahn fahren muß, bloß weil es eine Russischschule ist, an der die besten Schüler aus allen Schulen von Halle gesammelt werden. Ich warte, daß sie sich noch einmal umdreht. Als es fast zu spät ist, tut sie es, ich winke, sie winkt zurück. Dieser Gruß tröstet mich jeden Morgen, unvernünftigerweise.

Tinka hat sich teilweise angezogen, steht im Bad, täuscht eine Wäsche vor, imitiert etwas wie Zähneputzen, schielt dabei zu mir hoch, ich bleibe ernst und bemerke nichts.

Während sie sich die Strümpfe anzieht, wobei ich etwas nachhelfe, weil sie neu und eng sind, erläutert sie beiläufig ihrem abgeschabten Teddy, dem sie großmütig erlaubt hat, in ihrem Bett weiterzuschlafen, daß es leider keine Zahnbürsten für Teddys gibt, sonst würde sie ihm eine kaufen und jeden Morgen und Abend aufpassen, daß er sich gründlich die Zähne putzt. Der Teddy setzt sich mit meiner tiefen Stimme zur Wehr. Er hat Angst vorm Zähneputzen, er glaubt, die Zahnpasta schmecke scheußlich und das Putzen würde den Zähnen weh tun. Da ist ja nun Tinka ganz anderer Meinung, die Zahnpasta schmeckt ein bißchen nach Himbeere, und die Zähne merken nichts vom Putzen. Höchstens fangen sie an, weh zu tun, wenn man sie nicht putzt. Aber der Teddy ist störrisch und uneinsichtig, Tinka muß zuerst sanft, dann immer heftiger auf ihn einreden, er leistet Widerstand bis zuletzt und ruft uns, als wir aus dem Kinderzimmer gehen, in ungehörigem Ton noch nach, daß er sich nie und nimmer die Zähne putzen werde. Tinka schimpft lautstark zurück, sie ist ernsthaft besorgt und entrüstet. Sie weiß ja einerseits genau, mit wessen Stimme der Teddy gesprochen hat, andererseits ist sie überzeugt, daß sie mit ihm geredet hat, mit niemand anderem. Die beiden einander widersprechenden Einsichten und Meinungen laufen in ihrem Kopf unangefochten nebeneinanderher; ich denke, ob Erwachsenwerden bedeutet, Vorstellungswelt und Wirklichkeit streng voneinander trennen zu können – jedenfalls in unseren Breiten. Naturvölker leben in einer Welt, in der die Tiere sprechen und die Elemente Persönlichkeiten sind. Wenn man sie zwingt, »erwachsen« zu werden, flüchten sie sich in den Alkohol. In welchen Ersatz haben sich unsere Vorfahren geflüchtet, als man ihnen die durch Nymphen und Elfen und Götter beseelte Natur nahm, um sie in nutzbare Bestandteile zu zerlegen?

»Honigbrot« ist das Losungswort für jedes Frühstück, es hätte keinen Sinn, Tinka etwas anderes anzubieten. Des langen und breiten erörtert sie mit ihrem Vater den Charakter des Teddys, der macht es sich zu leicht mit der Behauptung, Teddys seien von Natur aus schwierig, und hat dann zu tun, sich von seinem Standpunkt wieder zurückzuziehen, nachdem Tinka ihm viele Beweise für die Sanftmut ihres Teddys geliefert hat. Endlich ist sie bereit, Schuhe und Anorak anzuziehen, ihr Stullentäschchen zu schultern und mit mir zum Kindergarten zu gehen. Ich memoriere im Kopf, was ich einkaufen muß, aber Tinka will noch ein Problem besprechen. In der Nachbarschaft hat ein junges Paar geheiratet, Tinka hat die Einzelheiten der Zeremonie erfahren. Warum kriegt jeder einen Ring, wenn er heiratet? möchte sie wissen. – Damit die anderen Leute sehen, daß man verheiratet ist. – Tinka überlegt. Dann: Ach so. Dann sucht sich ein Mann, der keine Frau hat, nur eine ohne Ring. – So ungefähr. – Aber wenn nun alle Mädchen einen Ring haben, und trotzdem hat der Mann noch keine Frau? – Dann bleibt er alleine übrig. Das kommt vor. – Kann er dann wenigstens Kinder kriegen? – Kaum. Dazu gehören immer Vater und Mutter. – Schade. Dann ist der aber traurig, was?

Ich gebe sie im Kindergarten ab, der merkwürdigerweise »Freie Scholle« heißt. Ich darf ihr keinen Abschiedskuß geben oder ihr nachwinken. Mit steifem Rücken geht sie hinein.

Es muß halb neun gewesen sein, gestern, an dem Tag, den ich beschreibe. Das gehört zu seinem Gerüst, daß es halb neun ist, wenn ich vom Kindergarten nach Hause gehe, dabei das Nötigste einkaufe, Milch, Butter, Äpfel, Schabefleisch, und in Gedanken versinke. Gestern könnte ich, wie öfter in den letzten Tagen, mir überlegt haben, was eigentlich die zwei Jahre in Halle uns bis jetzt gebracht haben. Auf jeden Fall: Einblick in neue, uns vorher ganz unbekannte Verhältnisse. Eine Stadt, die von der Industrie um sie herum bestimmt ist – dadurch allerdings auch von Luftverschmutzung. Der Kontakt mit den Waggonbauern in Ammendorf ist...

Erscheint lt. Verlag 14.4.2014
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Berichte • Ch • Christa • Deutsche Demokratische Republik • Deutschland • Erinnerungen • ST 4007 • ST4007 • suhrkamp taschenbuch 4007 • Tagebuch 1960-2000 • Wolf • Wolf, Ch
ISBN-10 3-518-73307-9 / 3518733079
ISBN-13 978-3-518-73307-3 / 9783518733073
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