Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (eBook)

(Autor)

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2013 | 2. Auflage
163 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73197-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert -  Christa Wolf
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Es ist ein ganz gewöhnliches Datum, doch für Christa Wolf war es über fünfzig Jahre lang ein besonderes: Seit 1960 beschrieb sie Jahr für Jahr ihren 27. September, fasziniert von der »Bedeutung, die ein durchschnittlicher Tag bekommt, wenn man wahrnimmt, wie viele Lebenslinien in ihm zusammenlaufen«. Als sie dann 2003 Ein Tag im Jahr. 1960-2000 veröffentlichte, war die Resonanz überwältigend: »Eine unvergleichliche Chronik unserer Gegenwart« (Berliner Zeitung), »ein monumentales Tagebuch ... eines ihrer wichtigsten Werke« (Der Spiegel). Auch im neuen Jahrhundert setzte Christa Wolf diese Arbeit fort und ging dem Zusammenspiel von Privatem, Subjektivem und großen zeitgeschichtlichen Ereignissen auf den Grund. Sie erzählt von Deutschland nach dem 11. September 2001, von der eigenen Arbeit etwa an ihrem letzten großen Werk Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud, aber auch von der kräftezehrenden Auseinandersetzung mit dem Altern. Eine persönliche Chronik und gleichzeitig ein einzigartiges Dokument der Zeitgenossenschaft: Christa Wolf führt mit der ihr eigenen präzisen Reflexion und mutigen Offenheit die Aufzeichnungen ihres großartigen Tagebuchs Ein Tag im Jahr fort.

<p>Christa Wolf, geboren 1929 in Landsberg/Warthe (Gorz&oacute;w Wielkopolski), lebte in Berlin und Woserin, Mecklenburg-Vorpommern. Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen, darunter dem Georg-B&uuml;chner-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Uwe-Johnson-Preis, ausgezeichnet. Sie verstarb am 1. Dezember 2011 in Berlin.</p>

Donnerstag, 27. September 2001


Berlin


 

 

Ich erwache von einer Stimme, die laut sagt: Ein Riß im Gewebe der Zeit. Ich lausche dieser Stimme nach, beglückt über die Wahrheit, die sie ausspricht, ehe mir bewußt wird, wo ich bin; daß es früher Morgen ist, daß ich im Bett liege, und je mehr Realität mein Bewußtsein widerwillig zuläßt, um so mehr schwindet das Gefühl der Beglückung; ich habe lernen müssen, daß Wahrheit nicht glücklich macht, weil sie allein nichts bewirkt. Aufdringlich, so als gehörten sie zur Realität (und sie gehören ja auch dazu), entstehen auf meinem inneren Bildschirm die letzten Bilder von CNN, die ich heute nach Mitternacht noch gesehen habe und mit denen ich schwer einschlafen konnte, obwohl ich nicht versäumt hatte, die zwei Kapseln Baldrian-Dispert zu nehmen: Der Sender verzichtete nicht auf das Wort Krieg: »America's War Against Terrorism«.

Mit einem Schlag sind die Gefühle von Spannung und Angst wieder da, die dieser Realität entsprechen und die schon so oft in meinem Leben den Tagesanfang begleiteten. Heute also die Frage: Haben die Amerikaner heute nacht ihren angedrohten Vergeltungsschlag gegen Afghanistan – oder gegen wen sonst? – unternommen? Da ich mir einreden kann, es sei noch zu früh, um aufzustehen, drücke ich mich noch etwas vor der Antwort – ganz anders, erinnere ich mich, als damals, als der Golfkrieg begann: Da hockte ich um vier Uhr nachts vor dem Fernseher und sah, was ich sehen sollte: Das Feuer, das der Landung der amerikanischen Truppen an der Küste Kuwaits vorausging. Ich weinte und mußte dann in der Zeitung lesen, ich sei gegen Israel, wenn ich diesen Krieg nicht gutheiße, um viel später zu erfahren, daß die junge Frau, die mit ihrem Augenzeugenbericht über die von entmenschten Irakern ermordeten kuwaitischen Babys die letzte moralische Rechtfertigung für die Bombardements geliefert hatte, die Tochter eines Angehörigen der kuwaitischen Botschaft in den USA war, die kein ermordetes Baby zu Gesicht bekommen hatte.

Ich gebe mir also noch eine Frist, ehe ich aufstehe, und ziehe aus den verrutschenden Bücherstapeln auf meinem kleinen gläsernen Nachttisch dasjenige Buch heraus, das zu »den Ereignissen« – so nennt man sie inzwischen – der letzten Wochen am besten, was heißt: unheimlich genau zu passen scheint: »City of God« von E. L. Doctorow, welches man, wenn man wollte, als einen Beweis mehr dazu gebrauchen – mißbrauchen? – könnte, daß für sensible Einwohner von New York lange schon eine Vorahnung von Katastrophen in der Luft gelegen haben muß, die sie zu einer intensiven Suche nach einem Grund für ihre Angst und für ihre moralische Unruhe trieb. »Es bleibt vielleicht nicht mehr viel Zeit. Wenn die Demographen recht haben, werden um die Mitte des kommenden Jahrhunderts zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben. Gigantische Megastädte überall auf dem Planeten, voller Menschen, die um dessen Ressourcen kämpfen. Unter solchen Umständen werden die Gebete der Menschen als Schreie zum Himmel schallen. Und unseren Hoffnungen auf ein Leben, wie es sein könnte, werden solche Schändungen, solche Schocks widerfahren, daß das zwanzigste Jahrhundert zum verlorenen Paradies werden wird.«

Jenes zwanzigste Jahrhundert, denke ich, das Historiker doch, nicht einmal zwei Jahre ist das her, mit dem Signum »grauenvollstes Säculum der Menschheitsgeschichte« verabschiedet hatten; das mich nur einmal direkt in eine seiner Katastrophen hineingezogen, es mir sonst aber gestattet hatte, an einer seiner gefährlichsten Konfliktstellen zwar spannungsreich, äußerlich aber vergleichsweise unbehelligt zu leben. – Die Denkmaschine ist also wieder angesprungen. Ich stehe auf, ziehe den Vorhang zurück, ein trüber Tag, wie all die trüben Tage seit dem 11. September.

Gerd ist schon in der Küche, Kaffee oder Tee? fragt er. Tee. Im Bad drücke ich sofort auf den Knopf des kleinen schwarzen Radios. Nein. Es ist noch nicht Krieg. Der Kreuzzug hat noch nicht begonnen. Der Ring der Antiterrorkoalition um Afghanistan schließt sich. Auch die ehemaligen Sowjetrepubliken Turkmenistan, Aserbaidschan und Usbekistan gehören dazu. Der Westen, höre ich, sprich: die USA hätten seit längerem ein Interesse an ungestörtem Öltransport durch Afghanistan. Während ich dusche, mich anziehe – bequeme Sachen, vorläufig kann ich zu Hause bleiben –, höre ich, Hunderttausende von Flüchtlingen verlassen Afghanistan in Richtung Pakistan, oder sie ziehen sich aus den von Bombardements bedrohten Städten aufs Land zurück – in beiden Fällen haben sie keine Nahrungsmittel, die UNO warnt vor einer »humanitären Katastrophe« und fordert Millionen, um das Schlimmste zu verhindern, und ich, unverbesserlich, muß mir für den Bruchteil einer Sekunde vorstellen, die an dem künftigen, schon als unausweichlich akzeptierten Krieg beteiligten Länder, allen voran die USA, würden die Hälfte der Milliarden Dollar, die dieser Krieg verschlingen wird, nicht auf die Unterstützung ihrer Rüstungsindustrie durch die Erzeugung neuen Bedarfs verwenden, sondern diese Unsummen den vom Hungertod bedrohten Menschen für Nahrungsmittel, Medikamente, für den Aufbau ihres schon jetzt zerstörten Landes und für die Bestechung ihrer anscheinend käuflichen Stammesführer geben und so womöglich künftigen Terroristen Boden entziehen … Unrealistisch? Um so schlimmer für die Realität. Rasend schnell, denke ich, gleitet die gute alte »Wirklichkeit« ins Absurde ab, die Grenzen des Erzählbaren scheinen immer mehr zu schrumpfen. Darüber wäre zu schreiben, denke ich. – Doch wozu?

Wortkarg sitzen wir am Frühstückstisch, Gerd hat seine geliebten Körner gemacht, Buchweizengrütze, die wir nebst ihrer authentischen Herstellungsart einst in Moskau kennengelernt haben, die wir uns manchmal von dort mitbrachten und jetzt in jedem Bioladen kaufen können. Wir reichen uns mit knappen Bemerkungen die Zeitungsblätter zu, Bin Laden, »der meistgesuchte Mann der Welt«, ist also angeblich untergetaucht, die Taliban behaupten, ihn nicht zu finden, die USA, heißt es, legen es im Bündnis mit der »Nordallianz« darauf an, die Taliban zu vernichten, die Afghanistan unter ihrer Knute halten – besonders die Frauen, die rechtlos und grotesken Bestrafungen ausgesetzt sind, wenn sie die Gesetze übertreten, welche angeblich aus dem Koran abgeleitet wurden. Ich überfliege die Nachrichten, einige davon noch vor wenigen Jahren unvorstellbar – Putins Auftritt vor dem Bundestag, die CDU in Hamburg, die vier Prozent bei den Wahlen verloren hat, sieht darin den klaren Wählerauftrag, die Regierung zu bilden, und zwar mit Herrn Schill, dessen rechte Partei aus dem Stand fast zwanzig Prozent erreichte, die USA verzichten auf den militärischen Beistand der NATO, die Deutschen übernehmen die Führung bei der neuen Mazedonien-Mission, Peres und Arafat beschließen neue Sicherheitskooperation, der DAX, der in den letzten Tagen in den Keller gerutscht war, hat sich etwas erholt: Dies, denke ich, ist die wichtigste Nachricht, die »Normalität«, die die Global Players anstreben und die wohl auch wir, wenig DAX-interessiert, wünschen müssen, frage ich mich, denn nolens volens sitzen wir alle in dem Boot, dessen Kurs die Börse bestimmt. Fragezeichen. Obwohl auch die Rückkehr zum Business as usual, so sehr Tausende von Schicksalen daran geknüpft sein mögen, eher zu den virtuellen Phantomen gehört, von denen ich mich umgeben sehe, und nicht zur Wirklichkeit, denke ich.

Denn »wirklich«, wenn dieses Wort noch etwas bedeutet, ist der Riß im Gewebe der Zeit. Das weiß ich, obwohl ich es da noch nicht so ausdrücken konnte, seit jener Minute am Nachmittag des 11. September, als auf dem Fernsehschirm im Zimmer meines Lektors (wo wir an einem Text gearbeitet hatten, jäh unterbrochen durch Gerds Anruf: Schaltet den Fernseher an!) kurz nacheinander zwei Flugzeuge in die Zwillingstürme von New York rasten und, während mein Gehirn noch ungläubig nach Erklärungen suchte, mein Körper schon begriffen hatte und jenes unangenehm ziehende Gefühl erzeugte, das mir immer anzeigt, daß etwas Unwiderrufliches, zumeist Schreckliches passiert und daß ich die Umstände, unter denen ich diesen Augenblick erlebe, nie vergessen werde: Kriegsbeginn 1939. Flucht aus der Heimatstadt Januar 1945. Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei 1968. – Im Alter wäre ich gerne von Geschichte verschont geblieben. Wie gerne hätte ich meine Enkelkinder in ein friedlicheres Jahrhundert entlassen.

Ich erinnere mich, daß zwei Fragen kurz nacheinander in mir auftauchten, während ich, hypnotisiert von unglaubwürdigen Fernsehbildern, in dem fremden Zimmer stand: Fängt so der Dritte Weltkrieg an? Und: Ist das der Anfang vom Ende? Ich fing an, mich an diesen Fragen abzuarbeiten, während ich mein Manuskript zusammenpackte und dann lange auf das Taxi warten mußte, das ein ganz alltäglicher Stau aufgehalten hatte, während über das Autoradio die aufgeregten fassungslosen Stimmen der Reporter kamen und der Fahrer, ein bedächtiger Mann, zu meiner Erleichterung Erschrecken und Mitgefühl zeigte; seitdem haben diese Sätze mich begleitet, als Behauptungen, als Zweifelssätze, als Fragesätze, und sie haben wechselnde Antworten hervorgetrieben, von denen keine mir genügt. – Ich weiß noch, wie auf jener unwirklichen Taxifahrt die Gesichter meiner amerikanischen Bekannten und Freunde in mir auftauchten und wie ich gleichzeitig, da ich die ganze Zeit aus dem Autofenster blickte, die Häuser,...

Erscheint lt. Verlag 11.3.2013
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Berichte • Biografien • Christa • Deutschland • Erinnerungen • ST 4505 • ST4505 • suhrkamp taschenbuch 4505 • Wolf • Wolf, Christa
ISBN-10 3-518-73197-1 / 3518731971
ISBN-13 978-3-518-73197-0 / 9783518731970
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