Küche totalitär (eBook)

Das Kochbuch des Sozialismus von Wladimir und Olga Kaminer
eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
224 Seiten
Manhattan (Verlag)
978-3-641-09803-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Küche totalitär -  Wladimir Kaminer
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Wladimir Kaminer zeigt, wo in der russischen Küche der Löffel hängt
Es muss nicht immer Kaviar sein - für Russen schon gar nicht. Das wahre Symbol für Luxus und feine Lebensart ist in Russland die Ananas. Dieses Beispiel zeigt: Kulinarisch ist die ehemalige Sowjetunion hierzulande unbekanntes Terrain. Dank Wladimir Kaminer ist damit nun Schluss. Er führt durch Töpfe und Teller der alten Sowjetrepubliken, bringt dem Laien nebenbei Länder und Leute näher und natürlich die aufregendste Cuisine der Welt! Unterstützt wird er dabei von seiner Frau Olga, die die besten Rezepte aus ihrer Sammlung beisteuert ...

Unvergessliche Begegnungen mit der sowjetischen Küche und ausgefallene Rezepte - ein Hochgenuss!

Wladimir Kaminer wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit 1990 in Berlin. Mit seiner Erzählsammlung »Russendisko« sowie zahlreichen weiteren Bestsellern avancierte er zu einem der beliebtesten und gefragtesten Autoren Deutschlands.

Einleitung


Es gibt in Deutschland wenig Lokale, die russische Küche anbieten. Sie locken die Kundschaft mit solch ausgefallenen Gerichten wie »Hering mit Apfel« und »Russisch-Spätzle« an, und viele Touristen fallen darauf herein. Aber mir können sie nichts vormachen. Ich kenne die russische Küche sehr gut, ich bin mit ihr groß geworden und habe sie zwanzig Jahre lang ausgelöffelt  – im Kindergarten, in der Schulkantine und zu Hause. Die russische Küche ist einfach und sättigend. Sie besteht aus fünf Gerichten mit Variationen, die nur einem Zweck dienen: den Magen schnell zu füllen. Zum Verwöhnen war bei uns die sowjetische Küche bestimmt, dieser Gaumenkitzel des Totalitarismus. Systematisch hatte sie ein halbes Jahrhundert lang aus allen fünfzehn Republiken der Sowjetunion die besten Kochrezepte herausgelutscht, um all diese Küchen zu einer zu bündeln: die scharfe kaukasische, die milchige ukrainische, die exotische asiatische, die gesunde baltische und ein Dutzend anderer dazu.

Diese Küche würde bestimmt großen Erfolg in Deutschland haben, wenn die Russen nicht so faul wären. Aber der Restaurantbetrieb gilt hier als komplizierte Branche. Ein gutes Lokal zu unterhalten bedeutet viel Stress und wenig Gewinn. Meine Landsleute entscheiden sich lieber für wenig Stress und noch weniger Gewinn, eröffnen Sushi-Bars mit fertigen Küchenausstattungen aus Amerika und falschen Japanern aus Burjatien hinter dem Tresen. Nur manchmal entscheiden sie sich für ganz viel Stress mit ganz viel Gewinn, aber solche Geschäfte sind meist nicht gastronomischer Natur.

Deswegen wird die russische Küche in Deutschland in erster Linie von Deutschen gemacht, die einen Russenknall haben, eine hier zu Lande inzwischen weit verbreitete modische Abweichung vom mitteldeutschen Mainstream. Der Russenknall erklärt sich ganz einfach: Entweder hat die betreffende Person in Russland studiert oder dort an einer Eisenbahnlinie mitgebaut oder hier oder dort eine Russin geheiratet.

Nicht selten treffen alle drei Gründe gleichzeitig auf die betreffende Person zu, weil Russland nach wie vor den Gesetzen des Diamat, des dialektischen Materialismus, unterliegt. Nichts entwickelt sich dort einfach so, sondern das eine dialektisch aus dem anderen. Wenn ein Deutscher in Russland zum Beispiel mit dem Studium anfängt, dann ist auch die Eisenbahn mit abschließender Heirat nicht weit. Fängt er dagegen bei der Eisenbahn an, dann ist ein Studium mit Heirat quasi vorprogrammiert. Egal, wie es anfängt, es läuft immer auf das Gleiche hinaus: Man bekommt einen Russenknall.

Wenn die betreffende Person nach Hause zurückkehrt, pachtet sie eine stadttypische Eckkneipe, dekoriert sie mit hundert Holzpuppen und Wodkaflaschen, nennt sie »Balalaika«, »Samowar« oder ganz ausgefallen »Perestroika« und lässt die Ehefrau kochen: Bortsch, Pelmenis und Kaliningrader Klopse zu Wodka – das ist die russische Küche in Deutschland.

Die echte russische Küche, mit Singen und Hopsen statt Klopsen findet bei uns in Berlin unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, in einem fast schon untergründigen Lokal am Ende des Kudamms, neben einer Tankstelle und einer Brücke. Wenn man an diesem Laden vorbeigeht, sieht man nur eine allein stehende Baracke mit geschwärzten undurchsichtigen Schaufenstern. Man würde das protzige Innere dahinter nicht vermuten. Die meiste Zeit hat das Restaurant geschlossen, aber an manchem Samstag zu später Stunde wundert sich der zufällige Passant über die verschwitzten russischen Männer in schicken Anzügen und die aufgehübschten Damen in Abendkleidern, die mit lautem Lachen aus dem Innern des Lokals an die frische Luft strömen. Haben die etwa Drogen genommen?, würde ein unerfahrener Beobachter rätseln. Doch der erfahrene weiß, dass diese Leute von der russischen Küche gekostet haben, der einzigen Küche der Welt, bei der das Essen selbst unwichtig ist.

Die Russen gehen nämlich nicht ins Restaurant, um zu essen oder zu trinken – das können sie auch zu Hause. Sie gehen aus, um zu feiern. Und dann muss alles, was sie sich zu Hause aus Sicherheitsgründen nicht trauen, erlaubt sein: Es darf gesungen, gebauchtanzt, am Kronleuchter geschwungen werden.

Die wichtigste Zutat der russischen Küche ist die Laune des Kochs. Hat er einen guten Tag, kann er einen mit Kaviar gefüllten Stör aus dem Ärmel zaubern und mit Spießen am Tisch jonglieren, Wodka schlucken und Feuer spucken. Wenn er einen schlechten Tag hat, kann es sogar noch abenteuerlicher werden. Man muss auf jeden Fall immer alles aufessen, weil die russischen Köche sehr nachtragend sind.

In ein solches Restaurant sollte man am besten zusammen mit irgendwelchen Russen gehen, am besten einen Tisch an der Wand nehmen, damit niemand von hinten an einen herankommen kann, am besten vor dem Besuch irgendwo an der Ecke einen kleinen Schnaps trinken und einen Tag davor nichts essen. Dann Mut sammeln und einfach eintreten, die Menschen freundlich begrüßen und sich diskret räuspern. Nur wenn man direkt vor dem Lokal zehn oder mehr nagelneue schwarze BMWs stehen sieht, sollte man nicht hineingehen, sondern sofort auf die andere Stra-ßenseite laufen und so tun, als wollte man ganz woanders essen, es aber in der nächsten Woche noch einmal versuchen. Sie können aber auch gleich bei sich zu Hause ein russisches Essen organisieren: viel Alkohol und Salzgurken kaufen, Freunde anrufen, die Musik laut aufdrehen, die Nachbarn einladen – fertig.

Das letzte Mal war ich in Berlin russisch essen, als mein Vater siebzig wurde. Zu Hause gemütlich mit der Familie zusammen zu feiern, fand er zu kleinkariert, nein: Er wollte protzen und lud die ganze Verwandtschaft in das bereits erwähnte authentische Restaurant am Rande der Stadt ein. Der Laden galt seit Jahren als eine Art geheime Zaubertür in die Vergangenheit, für Touristen und Einheimische nicht sichtbar. Russen kochen dort für Russen und machen sie glauben, sie wären nie ausgereist. Ein paar Mal war ich bereits dort gewesen, hatte diese magische Verbindung genossen und jedes Mal erleichtert aufgeatmet, wenn ich in das nächtliche Berlin zurückgekehrt war. Zuletzt schien diese Zaubertür jedoch technische Probleme zu haben: Ich rief mehrmals dort an, um herauszufinden, an welchem Tag sie geöffnet hatten, doch nie ging jemand ans Telefon. Schließlich gelang es mir aber doch, den einzig möglichen Termin für unseren Zeittransport zu vereinbaren – einen Samstag.

Der Abend fing ganz normal an. Außer uns saßen noch etwa ein Dutzend Gäste im Restaurant; an einem Tisch feierte ein Junge namens Micha mit Freunden seinen zwanzigsten Geburtstag, an einem anderen tranken zwei Schnurrbärte Wodka, rauchten dabei und schwiegen. Eine festlich gekleidete Sängerin kam auf die Bühne und erkundigte sich nach den Namen der beiden anwesenden Geburtstagskinder. Dann tippte sie irgendetwas in ihren Musik-Computer, und der Raum füllte sich mit Musik. Das junge Geburtstagskind wurde mit einem russischen Schlager geehrt, der den Refrain hatte: »Ohne dich, Micha, sterbe ich, Micha, jede Nacht, Micha, träume ich von dir, Micha …«

Mein Vater wollte auch namentlich besungen werden, bekam stattdessen aber nur einen georgischen Rentnerheuler vom Musik-Computer geschenkt: »Mein Alter hat mich reich gemacht, und wenn ich bald schon gehen muss …«

»Ich fühle mich aber noch ganz gut!«, rief mein Vater von seinem Stuhl aus, aber der Computer war vorprogrammiert, selbst die Sängerin konnte nichts machen. Sie ging von der Bühne, noch bevor der Rentnerheuler zu Ende war. Das Lied sang sich von alleine weiter.

Kaum hatten wir bestellt und unsere Gläser gefüllt, kam die Sängerin zurück.

»Hört alle auf zu essen!«, kam ihre Stimme aus den Lautsprechern. »Steht alle auf! Jetzt wird getanzt!«

Ihr Computer spuckte Russentechno aus, so laut, dass man sich nicht mehr unterhalten konnte. Aber niemand wollte ihrer Aufforderung folgen, alle warteten geduldig, bis der Spuk vorbei war. Die Sängerin tanzte eine Weile allein und verschwand wieder in der Küche.

Mein Vater inspizierte kritisch seinen Teller, das junge Geburtstagskind Micha am Nebentisch sprach plötzlich Hochdeutsch mit einer Blondine, die Schnurrbärte gingen nacheinander aufs Klo und betranken sich anschließend weiter. Dann wurde es plötzlich still im Raum. Der Musik-Computer war kaputt, er gab nur noch merkwürdige Piep-Töne von sich, und die Sängerin kam, um ihn zu reparieren. Sie schlug mit der flachen Hand gegen den Kasten, der wollte aber nicht anspringen.

»Lasst uns zusammen singen!«, rief sie ins Mikrofon. »Seid ihr Russen oder was?«

Alle saßen still an ihren Tischen. Irgendwas stimmte nicht mit unserer Zeitreise. Mein Vater stocherte mit der Gabel auf seinem Teller herum, hob ein Stück Fleisch hoch und betrachtete es im Licht der Kerze. »Also, früher, mein Sohn«, fing er nachdenklich an, »war alles besser …«

»Brauchst du mir nicht zu erzählen«, unterbrach ich ihn. »Lass uns lieber noch einen trinken!«

Nachts stand ich auf dem Kudamm mit dem alten Geburtstagskind am Arm. Es hatte seine Krawatte in der Hand und winkte damit den vorbeifahrenden Autos. Das junge Geburtstagskind Micha stand neben uns mit einer abgebrochenen Zigarette im Mund.

»Ich hole euch jetzt ein Taxi«, sagte er, sprang auf die Fahrbahn und hielt beide Hände hoch. Man hörte Bremsen kreischen und Fahrer fluchen, mehrere Wagen blieben stehen, und einer davon war tatsächlich ein Taxi. Mein Vater wünschte Micha viel Glück und nannte ihn dabei »Kolja«. Am nächsten Morgen ging es ihm nicht gut, er verbrachte den Tag im Bett.

Die Zaubertür, die letzte geheime Verbindung zur Vergangenheit, hatte sich eindeutig geschlossen....

Erscheint lt. Verlag 31.10.2012
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte eBooks • Erzählungen • Essen • Geschichten • Humor • Klischee • Kochbuch • Kochbücher • Kochen • Küche • Kulinarik • lustig • lustige • Russland • Sowjetunion • Stereotype • typisch • Unterhaltung
ISBN-10 3-641-09803-3 / 3641098033
ISBN-13 978-3-641-09803-2 / 9783641098032
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