Wenn das man gut geht! (eBook)

Aufzeichnungen 1956-1970

Dirk Hempel (Herausgeber)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
624 Seiten
Knaus (Verlag)
978-3-641-08851-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wenn das man gut geht! -  Walter Kempowski
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Ein literarisches Ereignis von Rang!
Kurz vor seinem Tod hat Walter Kempowski seinen langjährigen Mitarbeiter Dirk Hempel mit der Herausgabe des sogenannten »Sockeltagebuchs« betraut. Darin wird nicht nur die geistige Verfassung der jungen Bundesrepublik dokumentiert, sondern auch sein Werdegang zum Schriftsteller. Das Werk mit bisher unveröffentlichtem Material komplementiert seine bereits veröffentlichten vier Tagebücher.

Walter Kempowski wurde am 29. April 1929 als Sohn eines Reeders in Rostock geboren. Er besuchte dort die Oberschule und wurde gegen Ende des Krieges noch eingezogen. 1948 wurde er aus politischen Gründen von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach acht Jahren im Zuchthaus Bautzen wurde Walter Kempowski entlassen. Er studierte in Göttingen Pädagogik und ging als Lehrer aufs Land. Seit Mitte der sechziger Jahre arbeitete Walter Kempowski planmäßig an der auf neun Bände angelegten 'Deutschen Chronik', deren Erscheinen er 1971 mit dem Roman 'Tadellöser & Wolff' eröffnete und 1984 mit 'Herzlich Willkommen' beschloss. Kempowskis 'Deutsche Chronik' ist ein in der deutschen Literatur beispielloses Unternehmen, dem der Autor das mit der 'Chronik' korrespondierende zehnbändige 'Echolot', für das er höchste internationale Anerkennung erntete, folgen ließ.

Walter Kempowski verstarb am 5. Oktober 2007 im Kreise seiner Familie. Er gehört zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Nachkriegszeit. Seit 30 Jahren erscheint sein umfangreiches Werk im Knaus Verlag.

1957

Ein Mann ohne Tagebuch

ist, was ein Weib ohne Spiegel.

Gottfried Keller

Hamburg Mi 2. Januar 1957

Arbeiten!

Am 1. Januar war ich mit Hildegard in der Christuskirche, mäßige Predigt. »Nun laßt uns gehn und treten« (Gemeinde langsam, Orgel schnell). Nach Tisch kam Edith noch kurz, dann mit H. allein. Kaffee, Erich kam. Nach dem Kaffeetrinken gingen beziehungsweise fuhren H. und ich in die Stadt, um uns die Innenstadt bei Nacht anzusehen. Weg: Dammtor-Bahnhof, Lombardsbrücke (die neue), Hauptbahnhof, Mönckebergstraße, Rathausmarkt, Jungfernstieg, Kolonnaden, Dammtor.

Heute früh, um 11 Uhr, bin ich mit H. nach Othmarschen gefahren. Von dort aus zu Fuß durch die verschneiten, diesigen Straßen bis zur Övelgönne. Nachdem wir die Övelgönne ein Stück hinaufgegangen waren, sind wir wieder zurück und immer an der Elbe entlang bis nach Teufelsbrück. Ein schöner Weg. H. war dann ziemlich erschöpft, es war doch wohl etwas viel. Heute nachmittag, nachdem H. und ich zwei Stunden Einsamkeit oder besser: Alleinsein genossen hatten, saßen Mutter, H. und ich gemütlich beim Kaffee. Die Kerzen brannten vor dem Kruzifix und auf dem Kaffeetisch, und Mutter las einige Psalmen vor. Es war eine besinnliche Stunde, wenngleich ich nicht wenig mit meinem »religiösen Schamgefühl« zu kämpfen hatte. Dann war es soweit. Ich mußte H. zur Bahn nach Altona bringen. Dort entschloß ich mich, noch bis zum Hauptbahnhof mitzufahren. Dann schieden wir, merklich einsilbiger geworden.

Hamburg Fr 4. Januar 1957

Heute morgen war ich mit Erich beim Heimkehrerverband. Wieder das Übliche. Nach Vorwürfen wurde gequatscht. Ich bin gezwungen, den ganzen Papiermist abzuschreiben. Widerlich.

Heute nachmittag kam zunächst Detlef, dann Ulli Friedeberg aus Rostock. Schließlich erschien Kurt Kunze. Ein ordentlicher, gebildeter Mann. Er tat mir leid. Dann um 18.30 Uhr ging ich mit Erich ins Kino: »Der blaue Engel«. Der Film hat auf uns beide einen außerordentlichen Eindruck gemacht Der Verfall der Filmkunst wird an diesem wunderbaren Werk von 1930 deutlich. So etwas gibt es heute nicht mehr.

Im Zug Di 8. Januar 1957

[] Abends dann Koffer gepackt, vorher noch mit Robert in den Rock-and-Roll-Film »Außer Rand und Band«. Der Film war eine Mischung von Hollywood-Kitsch und Kolchosenfilm. Eine Zeiterscheinung wie der besagte Tanz ist, ihn so tierisch ernst zu nehmen … Mir ist meine Zeit zu schade dazu. Es sind doch immer dieselben Probleme.

Göttingen Di 15. Januar 1957

Ich kann mich eigentlich jetzt beschränken, nur noch hin und wieder etwas einzutragen. Kein meine Ruhe erschütterndes Ereignis tritt ein, Haferbrei und Wurststullen dazu. Milch mit Sahne tut das Übrige. Hildegard, hinter diesem Namen ohne Klang, ist die Erfüllung aller meiner Wünsche.

1936

Das erste bewußte Jahr. Reich an Erlebnissen.

1942

Das erste Katastrophenjahr. Jahr meiner ersten Wandlung.

1946

Dieses Jahr heißt: Hans Siegfried und ist deshalb schön, weil wir gelitten haben.

Zweite Wandlung

1948

Wiesbaden und der Tod. Das zweite Katastrophenjahr.

1950

»Detlef« heißt es und bedeutet die wichtige dritte Wandlung.

Es hätte keinen Tag weniger haben dürfen.

1953

Die 3 ist das Symbol dieses Jahres. Saal, Einzelhaft und Vorbereitung.

1954

Vierte Wandlung. Es hätte gut und gerne noch 100 Tage mehr haben dürfen und besteht wie 1950 aus einem einzigen Guß von seltenem Ebenmaß.

1956

Ein Katastrophenjahr, das zum Glücksjahr oder noch besser, zum Gottesjahr wurde.

Kampf

Arbeit

Kastanien

Blumen

Gitter

Wein

Jazz

Bilder

Kindheit

1936 1942 1946 1948 1950 1953 1954 1956.

Die Menschen, die in mir leben.

Kindheit

Frau Klauß, die Näherin

Herr Schomann, Märchen

Tante Lisbeth, Frau Sorge

Mutter, Musik und Liebe, Stil

Vater, Musik, Arbeit und Lachen, Stil

Märtin, der Lehrer

Tunn, der Kleinbürger, Translateur

Niemann, der Vikar

Görlitz, Zinnsoldaten

v. Malbrandt, Gnomen

Großvater Kempowski, Hafen und Tradition, Geld und Humor, Stil

Später Jenss, der Rechtsanwalt, Stil

Lademann, das Ehepaar in Scheidung, Stil

Robert, Jazz, Stil

Gronow, das geistreiche Skelett und Warnemünde, Stil

Ruth, das Mädchen, das ein Junge war

Gennerich, der Fabrikbesitzer und Offizier

Troitzsch, der Märchen erzählende Professor

Lahl, der dicke Junge mit den guten Ideen

Hintz, der Konsul, den ich nie zu sehen bekam

Kortüm, ein nachdenklicher Freund, mit dem man sich gut balgen konnte

Fischer, in Brasilien gibt es auch Kleinbürger

Hellmers, drei Zimmer für einen Jungen, Stil

Best, Pilze sammeln und Pusterohr konstruieren, Hund und Wald

Gosselck, der Lehrer mit dem Uhu-Gesicht, Natur, Honig und Bauernhäuser

Ulla, Yachtclub und Jungmädchenzimmer, Stil

Horst Gilfert, Pimpfenerlebnisse

Später Hansi Ditten, Kult im Dunkeln, Totenkopf und Spitzbogen, Stil

Marianne Saß, Gesundheit und Schönheit, Stil

Burmesters, Schloß, See und Wald, Liebe und Sonne, Korn und Pferde

Collasius, der Großvater-Aristokrat, Stil

RSBB[24], »Als ich noch ein Tangojüngling war«[25], Hausfeste und Jazz

Erika Düwel, meine erste Liebe, die ich nie kennenlernte

Isenberg, der greise Pastor

Rüther, der Träumer, der so früh starb

Steinbeck, »Scheiße« kann man auch sagen, wenn man vornehm ist

Ib, Politik in der Familie

Jahn, der blinde Organist

Kollwitzens, warum stinken arme Leute?

Schura, Rußland

Später Hans Siegfried, die Hyazinthe, Nächte, Aufbruch und Schlafmittel, ein Hauptdarsteller, Stil

Boness

Ehlers, von den letzten 3 Mark eine Flasche Parfüm

Göttingen Do 17. Januar 1957

War gestern abend bei Professor Wolf, der mir überraschenderweise als ein mir unbekannter Mensch einen Kuraufenthalt von vier Wochen höchstwahrscheinlich in der Schweiz in Aussicht stellte. Das besonders Erfreuliche an diesem Vorschlag ist, daß auch Mutti diese Kur ermöglicht wird. Daneben will er dafür sorgen, daß mir meine Schulden bezahlt werden. Eine unerwartete Überraschung, so recht bezeichnend für dies neue Jahr. Mund steckt dahinter.

Heute Mathematikarbeit, besser, als zu erwarten war. Es ist die letzte vor dem Abitur. Ich rechne mit einer 3+. Heute abend Wintermantel angesehen, nicht 100% mein Fall. Farbe zu auffällig, aber immerhin gute Qualität. Auch ganz schön teuer. Dann bei Hildegard. Wir unterhielten uns, das heißt, ich erzählte ihr von meiner Heimat. Das war schon längst einmal fällig, sie muß ja auch mal die Atmosphäre kennenlernen, der ich entstamme.

Göttingen Fr 18. Januar 1957

Als ich heute abend von Hildegard schied, hatte ich die Absicht, ins Bett zu gehen. Und doch tat ich es nicht, sondern ging ins Kino. »Richard III.«, eine Verfilmung des Dramas von Shakespeare. Gemütsverfassung und tiefes Erlebnis bereiteten mir einen festlichen Abend. Angesichts der Größe dieses Dramas kann man nur Ekel und Mitleid mit dem allgemeinen Filmschaffen haben. Nun, nichts weiter: Es war herrlich. Allerdings ist es mir im Augenblick gleichgültig, ob es auf der Bühne echter gewirkt hätte oder nicht. Es hat mich ergriffen, das ist, denke ich, genug. []

Die Last meiner Schuld macht mich unfroh und unfrei. Vielleicht, weil mein Reuegefühl, so lange herbeigebetet, sich langsam und verstärkt einstellt. Meine Vergangenheit empfinde ich, wie auch meine Gegenwart, als so ungewöhnlich, daß es eben nicht zu einer Reue kam. Eine nicht glaubhafte Wirklichkeit, nun liebe ich meine Mutter sehr viel mehr, als es früher möglich war, und wenn ich schon das Vergangene nicht glauben kann, so steht...

Erscheint lt. Verlag 28.9.2012
Reihe/Serie Tagebücher
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20.Jahrhundert • Adenauer-Zeit • Aufzeichnungen • Bautzen • Biografie • Biographien • DDR • Deutsche Chronik • Deutschland • eBooks • Echolot • Erinnerungen • Fritz J. Raddatz • Literarisches Leben der Nachkriegszeit • Memoiren • Nachkriegszeit • Nartum • Notizen • Schriftsteller • Sockeltagebuch • Tagebuch • Texte
ISBN-10 3-641-08851-8 / 3641088518
ISBN-13 978-3-641-08851-4 / 9783641088514
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