Aufschreibung aus Trient (eBook)

Roman

(Autor)

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2012 | 1. Auflage
344 Seiten
Haymon (Verlag)
978-3-7099-7534-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Aufschreibung aus Trient -  Franz Tumler
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Ein Mann macht mit seiner Freundin eine Reise nach Italien. Kurz vor Trient hat er einen Unfall, der ihn zwingt, in der Stadt zu bleiben. Unversehens begegnet er dort seiner eigenen Vergangenheit und jener der Deutschen und Italiener, die sich so lange um das Land Südtirol gestritten haben. Auf den Spuren seines Vaters kommt er hinter das Geheimnis der Menschen, die dort leben. Schritt für Schritt fügt sich so ein Bild gemeinsamen Schicksals zusammen, ein Bild der Landschaft, ihrer eingesessenen und zugewanderten Bewohner, für die es nur die Möglichkeit gibt, zusammenzuleben. Auch Jahrzehnte nach Erscheinen hat Franz Tumlers Aufschreibung aus Trient nichts an Aktualität verloren. Sanft offenbart sein Blick, was den beiden Sprachgruppen gemeinsam ist und was sie trennt. Und damals wie heute fasziniert Tumlers Schreiben - so still und zurückgenommen, und dabei von einer Klarheit, die man nur mehr selten findet.

Franz Tumler, geboren 1912 in Gries bei Bozen/Südtirol, übersiedelte 1913 mit seiner Mutter nach Linz und lebte ab 1954/55 in Berlin, wo er 1998 starb. Tumler zählt zu den prägenden Gestalten der literarischen Moderne der 1950er und 1960er Jahre. Seine Romane und Erzählungen wurden vielfach ausgezeichnet und gelten bis heute als Marksteine moderner Erzählliteratur, u.a. Der Mantel (1959), Nachprüfung eines Abschieds (1961, Haymon 2012), Volterra. Wie entsteht Prosa (1961, HAYMONtb 2011) und Aufschreibung aus Trient (1965, Haymon 2012).

Franz Tumler, geboren 1912 in Gries bei Bozen/Südtirol, übersiedelte 1913 mit seiner Mutter nach Linz und lebte ab 1954/55 in Berlin, wo er 1998 starb. Tumler zählt zu den prägenden Gestalten der literarischen Moderne der 1950er und 1960er Jahre. Seine Romane und Erzählungen wurden vielfach ausgezeichnet und gelten bis heute als Marksteine moderner Erzählliteratur, u.a. Der Mantel (1959), Nachprüfung eines Abschieds (1961, Haymon 2012), Volterra. Wie entsteht Prosa (1961, HAYMONtb 2011) und Aufschreibung aus Trient (1965, Haymon 2012).

Erster Teil


1

Das Hotel klein, heiß, das heißt: unten geht es, auf dem Fußboden aus weißem Marmor. Aber wenn ich die Treppe in die Höhe gehe, die vier Stockwerke, schlägt mir die Hitze entgegen. Zuletzt aus dem Zimmer, in dem die Frau auf dem Bett liegt, mit Schweißperlen auf der Stirn und nackten Armen, und den Kopf nicht rührt. Nur die Augen rührt, die hin- und hergehen und sagen: Bitte Wasser. Und wenn ich sie stütze, trinkt sie, und das Wasser rinnt ihr über die Lippen auf die Haut, es ist eiskalt. – Und ich brauche es aus dem Hahn nicht lange laufen zu lassen, es ist im ersten Augenblick kalt, trotz der Hitze sonst hier, weil hier Gebirge ist, weil es aus dem Stein kommt, aus der harten dichten sofort eiskalten Steinmasse, auf der die Erde in den Tälern hier ein bißchen verwitterte Krume ist, nicht sehr tief, nicht locker, und von Steinen durchsetzt. – Aber sonst ist die Hitze im Zimmer – und hier auch auf dem weißen Marmor, aus dem das Waschbecken ist; und dem weißen Marmor, aus dem das Fenstergesims ist; und draußen auf den rostroten Ziegeln, engen Röhrchen nebeneinander, auf die ich hier sehen kann – auf die niederen Dächer. – Ich habe sie unter mir: die rostroten Ziegel, die Fliegen, die auf ihnen kriechen, die Schwalben, die über ihnen fliegen; und nur etwas ist grün – eine Wand ge­genüber, höher als die Ziegeldächer und auf der anderen Seite, der Platz dazwischen; dort steigt sie auf, höher auch als das Hotelzimmer: eine grüne Efeuwand an einer grauen Mauer. – In dem Efeu raschelt die trockene Hitze, in den grauen Mauersteinen sitzen Spinnweben, aber die zierlichen Fenster haben Stäbe und Bogen und Klee­blätter – und wieder aus weißem Marmor. Es sieht aus, als wären sie extra unterstrichen und nachgezeichnet, damit man sie deutlich sieht in der grauen Mauer und über der grünen Efeuwand, die sie allmählich umflutet: grün und grau, Efeu, Stein und Fensterloggia; das Kastell.

Ich sage der Frau den Namen, er steht im Reiseführer. Das Kastell Buonconsiglio, die Loggia gotisch. Ich lese es ihr vor, wie es dasteht: Der Mittelbau und der Flügel, der die Museen enthält, sind Renaissancebauten. Ich lese es ihr nicht mehr ganz wörtlich vor, aber sehe die Sätze, wie sie dastehen: Man besichtigt das Museo Nazionale Trentino mit Gegenständen aus archäologischen Grabungen in der Region, und das Museo del Risorgimento mit Erinnerungsstücken aus den Freiheitskämpfen bis zum Krieg 1915 bis 1918.

Aber nun höre ich zu lesen auf. Die Frau sieht mich an. Es ist nicht das erstemal, daß wir so aufhören mit Lesen oder Reden, weil uns die Stimme versagt, und daß wir uns ansehen und nur wissen, daß wir am Leben geblieben sind, und daß es ein anderes Leben sein wird, das beginnt. Die Frau denkt, es ist auch jetzt so. Aber ich lese weiter und höre noch einmal auf und lege ihr den Finger auf die Zeilen. Ich sage: Es ist die Hitze. Sie liest: Ferner werden als ein italienisches Nationalheiligtum die Zellen gezeigt, in denen die Patrioten Damiano Chiesa, von den Österreichern am 19. Mai 1916 füsiliert, Cesare Battisti und Fabio Filzi, am 12. Juli 1916 gehenkt, ihre letzten Stunden verbrachten, und der Graben der Märtyrer, wo sie den Tod fanden.

Ich sehe hinüber, sehe neben der Pforte eine weiße Tafel, ein Viereck aus Marmor, und davor ein Blechschild mit einem Pfeil. Ich bin hinübergegangen und bin wieder umgekehrt. Aber seither weiß ich, ich bin hier vor dieser Pforte. Und sehe jetzt von dem Hotelzimmer hinüber: von dem Zimmer mit dem Bett, in dem die Frau liegt, die sich nicht rühren kann. Aber es ist der erste Tag, und es wird besser – nein, keinen Arzt, sagt sie. Es ist nachmittag. Vormittag war ich drüben an dieser Pforte. Und alles ist Zufall: als sie uns in das Hotel brachten, war es finster; und der Mann, der uns brachte, war der Mann vom Abschleppdienst, der Besitzer, proprietario, ein höflicher älterer Mann mit einem Schnauzbart, einer dicken Frau, einer jungen Tochter, einem Hund im Auto. Und Zufall auch, und woran mich der Schnauzbart erinnert, so daß ich es hätte erkennen müssen: ein Mann, der noch in der österreichischen Armee gedient hatte – ja, so alt. Und jetzt Abschleppdienst, gewissenhaft, beruhigend, fährt sicher durch enge Straßen, die kaum breiter sind als sein großes Auto; fährt an grauen Mauern vorbei, an erleuchteten Springbrunnen, Efeugärten, Palmen – immer im Kreis, kommt mir vor, und lädt uns hier ab: hält vor dem Hotel mit seinem Auto, in dem wir fahren, weil es unser Auto jetzt nicht mehr gibt. Aber nichts ist geschehen. Und tritt noch an die Bar mit uns, trinkt ein Glas Wein mit uns. Die Frau kann den Kopf noch rühren. Aber allmählich, als sie sich beruhigt, kommt der Schmerz. Sie hält noch durch, bis der Wein ausgetrunken ist: dieses Glas und noch ein anderes Glas; und bis man alles genauer erkennen kann, was hier ist: den weißen Fußboden, der durch den Flur und die Bar bis in den Speisesaal geht, und auf dem weißen Stein die Schmutzspuren der Schritte, und draußen eine Schwingung von Platz, Brüstung, Mauer, grüne Efeuwand, das Kastell; und die roten Weintropfen auf dem weißen Stein der Bar – ein helles Rot, wie es dieser Wein hier hat. Sie trinkt und schleckt und sieht nun doch un­ruhig auf die Tür nach oben, aber hält aus, bis die Wirtin kommt, bis das Zimmer fertig ist – dann geht sie nach oben.

Das Hotel klein, heiß. Und unten der Mann vom Abschleppdienst, der auf mich wartet. Er vertreibt sich die Zeit, indem er aus einer Art Aquarium, das mit Luft gefüllt ist, Zigarettenpackungen fischt. Er wirft eine Münze ein und bewegt eine Angel, die wie ein winziger Greifbagger ist, im Innern eines gläsernen Kastens. Ein leises Surren kommt aus dem Kasten, solange er auf die Hebel drückt. Dann kommt Stille, und die Angel geht langsam nach unten. Sie streift an künstliche Korallenbäume, Blüten, schwankt ein wenig; der Mann kneift das Auge zu, als wolle er schießen, er kann die Angel stoppen. Vorsichtig dirigiert er sie, hält sie an, läßt sie ein Stück in die Tiefe. Aber nun kommt der Augenblick, in dem die Greifklauen die Packung berühren, und nun kommt das Surren wieder, sie werden sich schließen. Dem Mann gelingt es, die Packung zu fassen, sie geht ein Stück hoch über dem künstlichen Schottergrund, aber nun rutscht sie aus – rutscht nicht ganz heraus aus den Greifklauen, schwebt zwischen den Korallen­ästen. Bravo, sagt jemand, es ist der Wirt, der herzugetreten ist, er sagt es mit ernster Miene in dem jungen Gesicht, das immer aussieht, als habe er alles mögliche zu bedenken. Und er nimmt sich auch nur einen Augenblick Zeit, das Ereignis zu notieren, dann geht er hinter die Bar und schenkt zwei Gläser Wein ein. Der Mann vom Abschleppdienst richtet sich auf. Er hat eine Packung amerikanischer Zigaretten gewonnen. Er bietet mir eine an. Er bietet mir ein Glas Wein an, die zwei Gläser an der Bar sind für uns bestimmt, er hat sie bestellt. Er fragt: Und wie geht es der Frau? – und er spricht leise, schonungsvoll, beruhigend, so wie ich ihn von gestern kenne. Er war der Mann, der uns zur Ruhe brachte nach dem Schock, er und dieser andere ältere Mann, der Carabiniere-Major, ihm merkwürdig ähnlich, als wären sie Brüder; aber er war der erste Mann, mit dem wir ohne Schwierigkeit sprechen konnten. Jetzt bringt er mir die Rechnung und das Ergebnis der Untersuchung des Wagens. Er läßt sich reparieren, sagt er, Sie können wieder fahren. – Und dann hat er noch unsere Pässe. Und nun plötzlich blickt er lebhaft über seinem Schnauzbart und sagt: Ich habe gesehen, Sie sind in Bozen geboren, dann sind Sie ja hier zu Hause!

Ich weiß nicht mehr, wie das Gespräch wörtlich ging, aber er verstand dann, daß ich hier doch nicht zu Hause war, sondern anderswo aufgewachsen war, wohnte, lebte, nur geboren war hier. Und ich sage ihm diese Geschichte, die ich immer erzählen muß: als Kind schon weggekommen, weil der Vater gestorben ist, den Vater nicht gekannt, aber manchmal als Besuch wiedergekommen – ich sage: früher beinahe jedes Jahr, aber jetzt schon lange nicht mehr, das letzte Mal vor fünf Jahren. – Er sieht mich an und sagt: Das ist aber merkwürdig. Jemand, der in seine Heimat fährt, und dann passiert ihm das hier. – Er wirft eine Münze ein. Und stellen Sie sich vor, sagt er, als er die Angel bewegt, – wenn es nun anders ausgegangen wäre. Stellen Sie sich vor, und dann eine Notiz in der Zeitung …

Ich weiß, was er meint. Er sagt: So etwas gibt es. Hier sind Sie geboren, kommen wieder in Ihre Heimat, und eine winzige Drehung anders … – Die Angel greift zu, die Packung schwebt in die Höhe, aber nun rutscht sie aus und fällt auf den Kiesgrund. Er sagt: Und Ihre brave Frau, die brave. Er sieht mich aufmerksam an. Ich sage es immer – es ist mehr als Zufall in einer solchen Sache. – Er versucht es mit einer dritten Münze. Aber der Apparat streikt. Er rüttelt an dem gläsernen Kasten, aber die Münze fällt zurück, die Greifklauen rühren sich nicht. Er sagt: Aber nun war es ja anders, nun sind Sie nur gestoppt worden hier, und nichts ist passiert, und übermorgen werden Sie fahren. Oder in drei Tagen – er rechnet nach: Samstag, Sonntag; in fünf Tagen, sagt er, wenn Sie die Reparatur haben wollen – Sonntag können wir fertig sein!

Er greift nach dem Glas an der Bar, trinkt mir zu, und nach ein paar Worten sind wir uns einig: ich werde ihn besuchen in der Werkstatt bei seinem Kompagnon. Der wird mir alles vorrechnen, was zu machen ist, was es kostet; und dann werde ich mich entscheiden....

Erscheint lt. Verlag 14.8.2012
Nachwort Sieglinde Klettenhammer
Verlagsort Innsbruck
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1950er • 1960er • Belletristische Darstellung • Berlin • Deutschland • Erzählliteratur • Italien • Literarische Moderne • literarischen Moderne • Nachkriegszeit • Sprachgruppe • Südtirol-Frage • Werkausgabe
ISBN-10 3-7099-7534-4 / 3709975344
ISBN-13 978-3-7099-7534-3 / 9783709975343
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