Aller Tage Abend (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2012
288 Seiten
Knaus (Verlag)
978-3-641-08149-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Aller Tage Abend - Jenny Erpenbeck
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Das Leben ist die Zeit, die dir bleibt
Wie lang wird das Leben des Kindes sein, das gerade geboren wird? Wer sind wir, wenn uns die Stunde schlägt? Wer wird um uns trauern? Jenny Erpenbeck nimmt uns mit auf ihrer Reise durch die vielen Leben, die in einem Leben enthalten sein können. Sie wirft einen scharfen Blick auf die Verzweigungen, an denen sich Grundlegendes entscheidet. Die Hauptfigur ihres Romans stirbt als Kind. Oder doch nicht? Stirbt als Liebende. Oder doch nicht? Stirbt als Verratene. Als Hochgeehrte. Als von allen Vergessene. Oder doch nicht? Meisterhaft und lebendig erzählt Erpenbeck, wie sich, was wir »Schicksal« nennen, als ein unfassbares Zusammenspiel von Kultur- und Zeitgeschichte, von familiären und persönlichen Verstrickungen erweist. Der Zufall aber sitzt bei alldem »in seiner eisernen Stube und rechnet«.



Jenny Erpenbeck, geboren 1967 in Ost-Berlin, debütierte 1999 mit der Novelle »Geschichte vom alten Kind«. Es folgten zahlreiche Veröffentlichungen, darunter Romane, Erzählungen und Theaterstücke. Von Publikum und Kritik gleichermaßen gefeiert, wurde sie vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Thomas-Mann-Preis, dem Uwe-Johnson-Preis, dem Hans-Fallada-Preis und dem Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland. Auch international gilt Erpenbeck als wichtige literarische Gegenwartsautorin. So wurde sie u.a. mit dem britischen Independent Foreign Fiction Prize (inzwischen bekannt als International Booker Prize) und dem italienischen Premio Strega Europeo geehrt. Ihr Roman »Heimsuchung« wird vom Guardian auf der Liste der »100 Best Books of the 21st Century« geführt. Die amerikanische Übersetzung ihres jüngsten Romans »Kairos« war in den USA für den National Book Award nominiert und wurde 2024 mit dem International Booker Prize ausgezeichnet. Erpenbecks Werk erscheint in über 30 Sprachen.

1

Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, hatte die Großmutter am Rand der Grube zu ihr gesagt. Aber das stimmte nicht, denn der Herr hatte viel mehr genommen, als da war – auch alles, was aus dem Kind hätte werden können, lag jetzt da unten und sollte unter die Erde. Drei Handvoll Erde, und das kleine Mädchen, das mit dem Schulranzen auf dem Rücken aus dem Haus läuft, lag unter der Erde, der Schulranzen wippt auf und ab, während es sich immer weiter entfernt; drei Handvoll Erde, und die Zehnjährige, die mit blassen Fingern Klavier spielt, lag da; drei Handvoll, und die Halbwüchsige, der die Männer nachschauen, weil ihr Haar so kupferrot leuchtet, wurde verschüttet; dreimal Erde geworfen, und es wurde auch die erwachsene Frau, die ihr, wenn sie selbst begonnen hätte, langsam zu werden, eine Arbeit aus der Hand genommen hätte mit den Worten: ach, Mutter, auch die wurde langsam von Erde, die ihr in den Mund fiel, erstickt. Unter drei Händen voll Erde lag eine alte Frau da im Grab, eine Frau, die selbst schon begonnen hat, langsam zu werden, zu der eine andere junge Frau oder ein Sohn manchmal gesagt hätte: ach, Mutter, auch die wartete nun darauf, dass man Erde auf sie warf, bis die Grube irgendwann wieder ganz voll sein würde, und ein wenig voller als voll, denn den Hügel über der Grube wölbt ja der Körper aus, wenn der auch viel weiter unten liegt, wo man ihn nicht mehr sieht. Über einem Säugling, der plötzlich gestorben ist, wölbt sich der Hügel fast gar nicht. Eigentlich aber müsste der Hügel so riesig sein wie die Alpen. Das denkt sie, und dabei hat sie die Alpen noch niemals mit eigenen Augen gesehen.

Sie sitzt auf derselben Fußbank, auf der sie als Kind immer saß, wenn ihre Großmutter ihr Geschichten erzählte. Diese Fußbank war das Einzige, was sie sich von der Großmutter für ihren eigenen Hausstand gewünscht hatte. Sie sitzt im Flur auf dieser Fußbank, lehnt sich an die Wand, hält die Augen geschlossen und rührt das Essen und Trinken, das eine Freundin vor sie hingestellt hat, nicht an. Sieben Tage wird sie jetzt so da sitzen. Ihr Mann hat versucht, sie hochzuziehen, aber gegen ihren Willen hat er es nicht geschafft. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, war sie froh. Noch am letzten Freitag hatte die Urgroßmutter der schlafenden Kleinen über den Kopf gestrichen und sie ihr Maideleh genannt. Sie selbst hatte durch die Geburt des Kindes ihre Großmutter in eine Urgroßmutter verwandelt, und ihre Mutter in eine Großmutter, aber jetzt waren all die Verwandlungen schon wieder aufgehoben. Vorgestern hatte ihre Mutter, die zu der Zeit noch eine Großmutter genannt werden konnte, ihr eine wollene Decke mitgebracht, die sollte sie sich umlegen, wenn sie an kalten Tagen mit dem Säugling im Park spazierenging. Angeschrien hatte ihr Mann sie in der Nacht, sie solle doch irgendetwas tun. Aber sie hatte nicht gewusst, was in solch einer Lage zu tun war. Nach seinem Schreien, und nach den wenigen Minuten in dieser Nacht, als sie nicht gewusst hatte, was tun, nach diesem einen Moment, in dem auch ihr Mann nicht gewusst hatte, was tun, hatte er kein Wort mehr mit ihr gesprochen. Sie war in ihrer Not zur Mutter gelaufen, die nun keine Großmutter mehr war, die Mutter hatte zu ihr gesagt, sie solle nach Hause zurückgehen und dort auf sie warten, sie schicke die Leute. Während ihr Mann im Wohnzimmer auf und ab ging, hatte sie nicht gewagt, das Kind noch einmal zu berühren. Sie hatte alle Eimer, die mit Wasser gefüllt waren, aus dem Haus gebracht und ausgeschüttet, hatte den Spiegel im Flur mit einem Laken verhängt, hatte die Fenster des Zimmers, in dem das Kind lag, zur Nacht hin geöffnet, und sich dann neben die Wiege gesetzt. Mit diesen Handgriffen hatte sie sich an den Teil des Lebens erinnert, der von Menschen besiedelt war. Das aber, was sich vor nicht einmal einer Stunde hier in ihrer Wohnung ereignet hatte, ließ sich von keiner Menschenhand greifen.

So war es auch bei der Geburt des Kindes gewesen, die noch nicht einmal acht Monate her war. Nach einer Nacht, einem Tag und wieder einer Nacht, in der das Kind nicht gekommen war, hatte sie sterben wollen. So weit entfernt hatte sie sich während dieser Stunden vom Leben: von ihrem Mann, der draußen wartete, von ihrer Mutter, die in einer Ecke des Zimmers auf einem Stuhl saß, von der Hebamme, die mit Wasserschüsseln und Tüchern hantierte, und längst auch von diesem Kind, das angeblich in ihrem Leib sein sollte, sich aber in der Unsichtbarkeit verkeilt hatte. Am Morgen nach der Geburt dann sah sie von ihrem Bett aus, wie alle einfach das taten, was zu tun war: Ihre Mutter, nun in eine Großmutter verwandelt, empfing eine Freundin, die gekommen war, um zu gratulieren, die in eine Urgroßmutter verwandelte Großmutter brachte die Kindbett-Zettel mit dem Psalm 21 und frischgebackenen Kuchen, und ihr Mann war ins Gasthaus gegangen, um auf das Wohl des Kindes zu trinken. Sie selbst hielt das Kind in den Armen, und das Kind trug die Wäsche, an der sie selbst, ihre Mutter und ihre Großmutter in den Monaten vor der Geburt gestickt hatten.

Auch für das, was jetzt passiert war, gab es Regeln. Die Leute waren bei Sonnenaufgang erschienen, hatten das Kind aus der Wiege genommen, es in ein Tuch gewickelt und auf eine große Bahre gelegt. So leicht und klein war das Bündel gewesen, dass einer es festhalten musste, als sie die Treppe hinuntergingen, sonst wäre es fortgerollt. Saj mojchl un fal mir mejne trep nit arunter. Sei so gut. Sie hatte gewusst, dass das Kind noch am selben Tag unter der Erde sein musste.

Jetzt sitzt sie auf dieser kleinen Fußbank aus Holz, die sie von ihrer Großmutter zur Hochzeit bekommen hat, sitzt da mit geschlossenen Augen, so wie sie andere in Zeiten der Trauer hat sitzen sehen. Manchmal war sie es, die Trauernden Essen gebracht hat, nun hat eine Freundin ihr selbst Schüsseln mit Essen vor die Füße gestellt. So wie sie gestern in der Nacht alles Wasser, das im Haus war, ausgeschüttet hat, weil es heißt, der Todesengel spüle darin sein Schwert, wie sie den Spiegel verhängt und das Fenster geöffnet hat, weil sie es andere so hat machen sehen, aber auch, weil die Seele des Kindes dann nicht wiederkehren, sondern für immer hinausfliegen würde, so wird sie jetzt sieben Tage da sitzen, weil sie andere so hat sitzen sehen, aber auch, weil sie anders gar nicht wüsste, wo bleiben, während sie diesen unmenschlichen Ort nicht mehr betreten will, der das Zimmer des Kindes in der letzten Nacht war. Wie Stege sind die Sitten der Menschen ins Unmenschliche hineingebaut, denkt sie, greifbare Gebilde, an denen ein Schiffbrüchiger sich wieder hinaufziehen könnte, wenn überhaupt. Schön wäre es, denkt sie, wenn der Zufall regieren würde, und nicht ein Gott.

Dass die Decke zu dick war, könnte doch der Grund gewesen sein. Dass das Kind auf dem Rücken schlief. Dass es sich womöglich verschluckt hat. Dass es krank war, und keiner es wusste. Dass durch die Türen das Schreien des Kindes beinahe gar nicht zu hören war. Im Zimmer des Kindes hört sie jetzt die Schritte ihrer Mutter und weiß, ohne hinzusehen, was diese dort macht: Sie nimmt Decken und Kissen aus der Wiege und zieht die Bettwäsche ab, sie streift den Stoff, der die Wiege überdacht, vom Holzgestell ab und schiebt die Wiege beiseite. Mit dem Arm voller Wäsche kommt sie jetzt aus dem Zimmer, geht an ihrer auf der Fußbank sitzenden Tochter vorbei, die hält die Augen noch immer geschlossen, und trägt alles in die Waschküche hinunter. Dass sie zu jung war, um zu wissen, was tun. Dass ihre Mutter nie über all das mit ihr gesprochen hat. Dass auch ihr Mann nicht gewusst hatte, was tun. Dass sie, im Grunde genommen, immer ganz allein war mit dem Kind, mit diesem Wesen, das am Leben zu halten war. Dass niemand ihr vorher gesagt hat, dass das Leben nicht funktioniert wie eine Maschine. Die Mutter kehrt wieder zurück. Sie nimmt im Vorbeigehen das Laken, das den Spiegel im Flur verhängt, ab, faltet es zusammen und bringt es ins Zimmer des Kindes. Zuunterst legt sie es in den Koffer, den sie eigens zu diesem Zweck mitgebracht hat, dann nimmt sie die Sachen des Kindes aus dem Schubfach in der Kommode und legt sie zu dem Tuch in den Koffer. In den Monaten vor der Geburt haben sie, die Schwangere, ihre Mutter und ihre Großmutter an diesen Jacken, Kleidern und Mützen genäht, gestickt und gestrickt. Ihre Mutter schiebt jetzt die leere Schublade zu. Oben auf der Kommode liegt das Spielzeug mit den silbernen Glöckchen. Als sie es wegnimmt, klirren die Glöckchen. Gestern haben sie auch geklirrt, als die Tochter selbst noch eine Mutter war und mit ihrem Kind gespielt hat. Das Klirren hat in den vierundzwanzig Stunden, die seither vergangen sind, seinen Klang nicht verändert. Ihre Mutter legt das Spielzeug jetzt zuoberst in den Koffer, dann schließt sie den Koffer und hebt ihn auf, sie kommt aus dem Zimmer, trägt den Koffer durch den Flur, an der Tochter vorbei, und bringt ihn in den Keller. Vielleicht aber doch, dass das Kind noch nicht getauft und die Ehe der Eltern nur eine sogenannte Notzivilehe war. Nach jüdischem Brauch haben sie es heute begraben, und nach jüdischem Brauch wird sie nun auf der Fußbank sitzen für sieben Tage, doch der Mann spricht nicht mit ihr. Sicherlich ist er jetzt in der Kirche und betet für die Seele des Kindes. Wo kann denn die Seele des Kindes nun hin? Ins Fegefeuer, ins Paradies oder die Hölle? Oder war es so, wie manche sagen, dass das Kind eines von denen war, die nur kurze Zeit brauchen, um irgend etwas aus einem anderen Leben, von dem die Eltern nichts wissen, zu Ende zu bringen, und deshalb so bald schon dahin zurückkehren, woher sie kamen? Ihre Mutter kommt wieder, geht in das Zimmer des Kindes und schließt dort...

Erscheint lt. Verlag 20.8.2012
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20.Jahrhundert • 20. Jahrhundert • 21.Jahrhundert • Berlin • booker prize shortlist • Deutsche Literatur • Deutscher Buchpreis • eBooks • Familie • Familiengeschichte • Galizien • Gegenwartsliteratur • Gehen, ging, gegangen • Geschichte vom alten Kind • Heimsuchung • Hotel Lux Moskau • Individuum • Kulturgeschichte • Leben • Macht des Zufalls • Menschen • Österreich • Preisgekrönte Autorin • Roman • Romane • Schicksale • Schicksalshafter Tod • Spanische Grippe • Wien • Zeitgeschehen
ISBN-10 3-641-08149-1 / 3641081491
ISBN-13 978-3-641-08149-2 / 9783641081492
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