Celans Kreidestern (eBook)

Ein Bericht. Mit Briefen und anderen unveröffentlichten Dokumenten
eBook Download: EPUB
2010 | 1. Auflage
266 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73420-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Celans Kreidestern -  Brigitta Eisenreich
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Erst vierzig Jahre nach seinem Tod offenbart Brigitta Eisenreich die Geschichte ihrer Liebe, die sie zehn Jahre mit dem Dichter Paul Celan verband. Die Beziehung beginnt 1952, kurz nachdem Celan Gisèle de Lestrange geheiratet hat, und ist eine seiner längsten und zugleich verborgensten. Heimlich besucht er Brigitta, die beiden lesen zusammen, diskutieren und manchmal gönnen sie sich einfach ein gutes Essen. Bei ihr findet Celan, der im Alltag Französisch spricht, die Sprache seiner Mutter wieder. Sprach- und Liebesakt werden eins.

<p>Die Anthropologin Brigitta Eisenreich war Maître de conférences für die Wissenschaftsgeschichte ihres Faches an der Ecole des hautes études en sciences sociales (EHESS) und lebt bei Paris. Forschungen und Beiträge zu diesem Thema im 18. und 19. Jahrhundert wie auch zu den historischen Wurzeln des Rassismus. Sie publizierte, hauptsächlich in Frankreich, unter dem Autorennamen Britta Rupp-Eisenreich.</p>

Autobiographische Einleitung:
Von Linz nach Paris


Kindheit und Jugend (1928-1951)


Ich wurde am 11. August 1928 in Linz als drittes Kind meiner Eltern, Josef und Elisabeth Eisenreich, geboren. Mein Vater – ursprünglich Präzeptor für Latein, Griechisch und Mathematik in einem adeligen Haushalt im oberösterreichischen Innviertel, wo auch meine Mutter Deutsch, Englisch und Französisch unterrichtete – war später Bankbeamter in der Linzer Hypothekenanstalt. Er verstarb schon im Jahr 1931 im Alter von nur 38 Jahren. Meine Kindheit und frühen Jugendjahre habe ich nicht unweit von Linz, in Enns, verbracht – der historisch nicht unbedeutenden Stadt, angeblich die älteste Österreichs, nahe der Ennsmündung in die Donau auf einem Hügel gelegen, von wo aus der Blick zum ersten Mal die weiten Ebenen des Ostens, fast schon Pannoniens, erahnt. Wir wohnten in einer der kleinen Villen mit Garten im alten Vorort Lorch, dem römischen Lauriacum, auf dessen versunkenen Resten unser Haus stand. Meine Eltern, die längere Perioden ihres Lebens bei österreichischen Großadelsfamilien in jetzt zu Italien oder Böhmen gehörenden Gegenden verbracht hatten, stammten noch aus der alten Welt der Habsburgermonarchie, insbesonders meine 1885, noch in der Blütezeit des 19. Jahrhunderts, in Südtirol geborene, in Meran ausgebildete Mutter war ihr in unverbrüchlicher Treue verbunden. Trotz aller materiellen Schwierigkeiten ihrer Witwenschaft hat sie es nie bereut, dem guten Kaiser Franz Joseph gegen Ende des Ersten Weltkriegs ihr kleines Vermögen überschrieben zu haben – eine verlorene Staatsanleihe, für die sie einen metallenen, bleifarbenen Ring erhielt, in den »Gold gab ich für Eisen« eingraviert war. Staunend habe ich ihn als Kind betrachtet. Zunächst wurde ich einer Kinderfrau anvertraut, mit der ich die meiste Zeit in Küche und Garten verbrachte, bis sie unseren verarmten Haushalt verlassen mußte. Ich war kein gefügiges Kind, gelegentlich lief ich davon, und die Geschichte mit Gott, trotz aller Frömmigkeit meiner Mutter, schien mir schon sehr bald verdächtig. Nur an die Engel glaubte ich fest – es waren ja die Toten, mein Vater und ein Brüderchen »im Himmel«, die durch die Lüfte flogen und dort sonst nichts zu tun hatten, als auf mich wohlwollend herabzublicken. In Enns habe ich auch die Volksschule und dann die Hauptschule, bis zu meinem 14. Lebensjahr, frequentiert. Ich galt als begabt, aber nicht gerade fleißig – »wenn sie nur wollte«, hieß es. Dann wurde ich »Fahrschülerin«, um die damals so genannte Mädchenoberschule im zwanzig Kilometer entfernten Linz zu besuchen (1942-1944), wobei ich das letzte Jahr zumeist im Luftschutzkeller verbringen mußte. Dann, bis zum Herbst 1945, wurden die Schulen gesperrt, nachdem die Jugendlichen noch gezwungen worden waren, am letzten Aufgebot des »totalen Kriegs« teilzunehmen. Die 17- bis 18jährigen, also die Mädchen der Altersklasse vor mir, mußten sich als »Flak-Helferinnen« ausbilden lassen. Verwandte von mir – alte Reservisten und blutjunge Rekruten – wie auch so manche Spielgefährten aus früher Zeit sind nicht aus dem Krieg zurückgekommen, einer verlor in Berlin, als unfreiwilliger »Volksstürmer«, ein Auge; Klassenkameradinnen kamen schwarzgekleidet, dem Vater oder dem Bruder nachtrauernd, in den Unterricht. Die noch jüngeren Mädchen, also auch ich, wurden zu allerlei Zivildiensten eingesetzt – Schutt der zerbombten Häuser wegräumen, im Kindergarten aushelfen, nächtliche Hilfsdienste bei den durch die Stadt ziehenden Flüchtlingsströmen aus dem Osten leisten; ich mußte bei der Post als Telegrammausträgerin mit meinem Fahrrad über Land fahren – bis in die entlegensten Bauernhöfe. Häufig handelte es sich um Todesanzeigen gefallener Söhne. Ganz zum Schluß sollte ich helfen, am Ufer der Enns Schützengräben als Wall gegen die herannahende Rote Armee auszuheben. Gemeinsam mit anderen, noch viel jüngeren Kindern aus dem Städtchen wurde ich von Gendarmen geholt; wir sollten Schaufeln mitbringen, die meisten aber hatten nur kleine Kohlenschaufeln, ein junger übereifriger Leutnant überwachte uns. Der Boden erwies sich als vollständig von den Wurzeln der Weiden durchwachsen und also undurchdringlich. Ich war zunächst guten Willens, weil ich mir dachte, daß vielleicht irgendein Soldat in dem Loch seine Haut retten könnte. Dann aber sagte ich dem Leutnant, wie unsinnig das Unternehmen wäre, worauf er drohend mit seiner Pistole herumfuchtelte und wir einander böse in die Augen blickten. Die Kinder nützten die Gelegenheit, sich aus dem Staub zu machen, und auch ich und der Leutnant zogen ab. Auch die Stadtbevölkerung weigerte sich, Bollwerke aufzustellen, wie die bei Kriegsende dort stationierte und immer noch anwesende SS-Einheit es forderte. Enns war eine alte Garnisonstadt mit einer Heeresschule und einer Dragonerkaserne, die aus k. u. k. Zeiten stammten und dann, nach einem Zwischenspiel im Rahmen der Ersten Republik Österreich, in die Hände der deutschen Wehrmacht übergegangen waren. In der sogenannten »Dollfuss-Zeit«, die die Zeit meiner Kindheit war, gab es dort eine Ansammlung von weiß uniformierten »Einjährig-Freiwilligen« hoch zu Roß, meist Söhnen des alten Adels, die ich als Kind noch selbst durch die Straßen hatte reiten sehen und bei denen ich, da einer von ihnen bei uns Quartier genommen hatte, aufgeregt und herzklopfend sogar einmal aufsitzen durfte. Im Verlauf des Krieges bildete sich in den Kasernen eine Widerstandsgruppe heraus, von deren Existenz ich bei Kriegsende Kenntnis hatte, deren tatsächlich unternommene Aktionen jedoch lange geheim blieben, wie es die Natur der Sache forderte. In der dort befindlichen Reitschule aber, in einer Zeit, da es noch keine Medien gab, wurde die Bevölkerung zusammengetrommelt, um Hitlers und Goebbels’ Reden anzuhören – auch ich mußte dem einmal beiwohnen, jedoch erinnere ich mich nicht, daß die Reden, die aus den Lautsprechern dröhnten, eine besondere Begeisterung ausgelöst hätten; die Leute rund um mich verhielten sich schweigend.

Das Schlüsselerlebnis meiner Kindheit war der Einmarsch der deutschen Truppen im Jahr 1938 gewesen, der sogenannte »Anschluß«, als ich noch nicht ganz 10 Jahre alt war. Neugierig stand ich am Straßenrand der Wiener Landstraße, die dann Wiener Reichsstraße hieß, und sah die fremdartigen Gesichter unter den Helmen und die staubbedeckten Stiefel, sah die blumenwerfende Menge, die aber so gar nicht der üblichen Bevölkerung, sondern eher dem Pöbel glich, sah daheim die Verzweiflung meiner Mutter und ihrer Freunde, aber auch den stillen Jubel einer von mir sehr verehrten Lehrerin, die bei uns wohnte. Zum ersten Mal verstand ich, was, im Gegensatz zum österreichischen Selbstbehauptungsgefühl der ersten Republik und des Ständestaats, der Begriff »großdeutsch« bedeutete, daß es eine andere Welt gab als die mir bekannte und daß diese Welt, ganz allgemein, nicht so einfach war, wie ich sie bisher erlebt hatte. Die sogenannte »großdeutsche Lösung« – das heißt der Zusammenschluß der deutschsprachigen Minorität des 1918 aufgelösten Großreichs Österreich-Ungarn mit der Weimarer Republik – wurde allseits, auch von den Sozialisten, was heute vielfach in Vergessenheit geraten ist, aktiv unterstützt und unterscheidet sich dadurch vom gesetzeswidrigen »Heim-ins-Reich«-Streben der bis 1938 in Österreich »illegalen« Nationalsozialisten. Unvergeßlich sind mir die zuvor überall plakatierten pathetischen Aufrufe des Bundeskanzlers Schuschnigg – in einer Kastanienallee auf dem Schulweg sehe ich mich noch davor stehen und begreifen lernen; auch an die aufgeregten Gespräche der potentiellen Nein-Sager – darunter meine Mutter – anläßlich der von den neuen Machthabern organisierten Volksabstimmung kann ich mich gut erinnern. In Enns, mit seinen ungefähr fünftausend Einwohnern, gab es schließlich deren zehn oder zwölf, und jedermann wußte, daß es die alten Monarchisten waren, Barone, Grafen, ausgediente Generäle und Offiziere der ehemals kaiserlichen Armee, von denen etliche in Enns ansässig waren. Der Rest der Bevölkerung, auch durch kirchliche Aufrufe des Wiener Erzbischofs Innitzer dazu aufgemuntert, stimmte dem Anschluß zu. Oder hatte Angst vor den vorhersehbaren Folgen jedweder ablehnenden Haltung – allgemein wurde angenommen, daß die Wahl »Für« oder »Wider« nicht geheim war. Wie mit einem Schlag begriff ich damals, daß hinter dem Gartenzaun die große, vielleicht böse Welt begann.

In der übrigens ausgezeichneten, noch von der bekannten Glöckel-Reform5 her bestimmten Volksschule wurde meine Lehrerin von heute auf morgen abgesetzt; eine von den neuen Machthabern in den Kreisen der »Illegalen« willkürlich erwählte Privatperson sollte an ihre Stelle treten. Da sich erwies, wie unfähig diese war, eine Klasse zu führen, kam bald darauf die angestammte, sehr katholische Lehrkraft wieder zurück. Im »Österreichischen Liederquell«, Grundlage der Gesangsstunden, mußte die Bundeshymne durch das »Deutschlandlied« überklebt werden, die Kreuze in den Klassen wurden abgeschafft, der Religionsunterricht wurde durch »Leibesübungen« ersetzt, neue Lieder mußten gesungen werden, darunter jenes von den »morschen Knochen« mit dem berüchtigten Refrain: »Wir werden weiter marschieren, / Wenn alles in Scherben fällt, / Und heute gehört uns Deutschland / Und morgen die ganze Welt.« (So wurde gesungen. Der Originaltext des Kampfliedes der SA von Hans Baumann, der noch vom »Hören« bzw. Gehörtwerden der Bewegung spricht, findet sich in diesem Lied schon kurz vor Kriegsbeginn in Eroberungsgelüste umgemünzt.) Die Kinder wagten es gelegentlich, den Religionslehrer,...

Erscheint lt. Verlag 16.11.2010
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Briefe • Celan • Celan Paul • Celan, Paul • Paul • Quelle • ST 4256 • ST4256 • suhrkamp taschenbuch 4256
ISBN-10 3-518-73420-2 / 3518734202
ISBN-13 978-3-518-73420-9 / 9783518734209
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