Irisches Tagebuch (eBook)

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2009 | 1. Auflage
144 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30054-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Irisches Tagebuch -  Heinrich Böll
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Diese Aufzeichnungen sind eine Hommage an das Land, in das Heinrich Böll 1954 seine erste wirkliche Auslandsreise unternahm und das ihm in den darauffolgenden Jahren mehr und mehr zur Wahlheimat wurde. »Das Geheimnis dieses Buches, des liebenswertesten Buches von Heinrich Böll, ist, daß kaum ein Wort über die verzwickte Ökonomie und die noch verzwicktere Geschichte dieses kleinen Staates gesagt wird und daß dennoch das ganze Irland in diesem Tagebuch eingefangen zu sein scheint.« (Stuttgarter Zeitung). Marcel Reich-Ranicki sieht darin 'ein verstecktes Deutschlandbuch, denn mit seinen Reisenotizen strebt Böll eine mittelbare Kritik der einheimischen Verhältnisse an: Irland wird immer wieder als Gegensatz zur Bundesrepublik betrachtet.' Das Irische Tagebuch wurde ein wesentlicher Auslöser der Irland-Reisewelle, die wenige Jahre nach seiner Veröffentlichung in Deutschland einsetzte. Informieren Sie sich auch über das größte editorische Unternehmen in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch: Heinrich Böll, Werke 1 - 27 Kölner Ausgabe

Heinrich Böll, 1917 in Köln geboren, nach dem Abitur 1937 Lehrling im Buchhandel und Student der Germanistik. Mit Kriegsausbruch wurde er zur Wehrmacht eingezogen und war sechs Jahre lang Soldat. Seit 1947 veröffentlichte er Erzählungen, Romane, Hör- und Fernsehspiele, Theaterstücke und zahlreiche Essays. Zusammen mit seiner Frau Annemarie war er auch als Übersetzer englischsprachiger Literatur tätig. Heinrich Böll erhielt 1972 den Nobelpreis für Literatur. Er starb im Juli 1985 in Langenbroich/Eifel.

Heinrich Böll, 1917 in Köln geboren, nach dem Abitur 1937 Lehrling im Buchhandel und Student der Germanistik. Mit Kriegsausbruch wurde er zur Wehrmacht eingezogen und war sechs Jahre lang Soldat. Seit 1947 veröffentlichte er Erzählungen, Romane, Hör- und Fernsehspiele, Theaterstücke und zahlreiche Essays. Zusammen mit seiner Frau Annemarie war er auch als Übersetzer englischsprachiger Literatur tätig. Heinrich Böll erhielt 1972 den Nobelpreis für Literatur. Er starb im Juli 1985 in Langenbroich/Eifel.

2 Ankunft II


Eine Tasse Tee, so bei Sonnenaufgang, wenn man fröstelnd im Westwind steht, während die Insel der Heiligen sich noch im Morgendunst vor der Sonne verbarg; auf dieser Insel also wohnt das einzige Volk Europas, das nie Eroberungszüge unternahm, wohl selbst einige Male erobert wurde, von Dänen, Normannen, Engländern – nur Priester schickte es, Mönche, Missionare, die – auf dem seltsamen Umweg über Irland – den Geist thebäischer Askese nach Europa brachten; vor mehr als tausend Jahren lag hier, so weit außerhalb der Mitte, als ein Exzentrikum, tief in den Atlantik hineingerutscht, Europas glühendes Herz… So viele grün-graue Reisedecken waren eng um schmale Schultern gezogen, so viele strenge Profile sah ich und an so manchem hochgeschlagenen Priesterkragen als Reserve die quergesteckte Sicherheitsnadel, an der zwei, drei, vier weitere Nadeln leise baumelten … schmale Gesichter, übernächtigte Augen, im Waschkorb der Säugling, der seine Flasche trank, während der Vater am Teeschalter vergebens um Bier kämpfte. Langsam stach die Morgensonne weiße Häuser aus dem Dunst heraus, ein Leuchtfeuer bellte rot-weiß dem Schiff entgegen, langsam schnaufte der Dampfer in den Hafen von Dun Laoghaire. Möwen begrüßten ihn, die graue Silhouette von Dublin wurde sichtbar, verschwand wieder: Kirchen, Denkmäler, Docks, ein Gasometer: zögernde Rauchfahnen aus einigen Kaminen: Frühstückszeit, für wenige nur: noch schlief Irland, Gepäckträger rieben sich unten am Kai den Schlaf aus den Augen, Taxichauffeure fröstelten im Morgenwind. Irische Tränen begrüßten die Heimat und die Heimkehrenden. Namen flogen wie Bälle hin und her.

Müde taumelte ich vom Schiff in den Zug, aus dem Zug nach wenigen Minuten in den großen dunklen Bahnhof Westland Row, von dort auf die Straße: vom Fensterbrett eines schwarzen Hauses nahm gerade eine junge Frau einen orangefarbenen Milchtopf ins Zimmer; sie lächelte mir zu, und ich lächelte zurück.

Wäre ich von so ungebrochener Naivität gewesen wie der deutsche Handwerksbursche, der in Amsterdam Leben und Tod, Armut und Reichtum des Herrn Kannitverstan erforschte – so wäre ich in Dublin fähig gewesen, Leben und Tod, Armut, Ruhm und Reichtum des Herrn Sorry zu erforschen, denn wen ich auch fragte, nach was ich auch fragte, ich bekam die einsilbige Antwort: Sorry. Nun wußte ich zwar nicht, aber ahnte, daß die Stunden zwischen sieben und zehn Uhr morgens die einzigen sind, in denen die Iren zur Einsilbigkeit neigen, und so entschloß ich mich, meine geringen Sprachkenntnisse nicht anzuwenden, und fand mich betrübt damit ab, nicht so ungebrochen naiv zu sein wie der beneidenswerte Tuttlinger Handwerksbursche in Amsterdam. Wie schön wäre es gewesen, zu fragen: Wem gehören die großen Schiffe da im Hafen?– Sorry. Wer steht so hoch da droben, einsam im Morgennebel auf einer Denkmalssäule? – Sorry. Zu wem gehören diese zerlumpten, barfüßigen Kinder? – Sorry. Wer ist dieser geheimnisvolle junge Mann, der von der hinteren Plattform des Omnibusses aus so täuschend ähnlich ein Maschinengewehr nachahmt – tak tak tak tak – im Morgendunst? – Sorry. Und wer reitet so früh da mit Stöckchen und grauem Zylinder durch Morgen und Wind? – Sorry.

Ich beschloß, mehr meinem Auge als meiner Zunge und dem Ohr der anderen zu vertrauen und mich am Studium der Ladenschilder schadlos zu halten, und da kamen sie als Buchhalter, Wirte, Gemüsehändler auf mich zu: die Joyce und Yeats, McCarthy und Molloy, O’Neill und O’Connor, sogar Jackie Coogans Spuren schienen hierhinzuführen, und ich mußte mich entschließen, mir selbst einzugestehen, daß der Mann so hoch da droben auf der Denkmalssäule, immer noch einsam wirkend in der Morgenkühle, natürlich nicht Sorry hieß, sondern Nelson.

Ich kaufte mir eine Zeitung, eine Zeitschrift, die Irischer Digest hieß, und ließ mich von einem Ladenschild, das Bed and Breakfast reasonable versprach, verführen, »vernünftiges Bett und vernünftiges Frühstück« übersetzte ich mir dieses Versprechen, und entschloß mich zunächst zu einem vernünftigen Frühstück.

Gleicht der kontinentale Tee einem vergilbten Postscheckbrief, so gleicht er auf diesen Inseln westlich von Ostende den dunklen Tönen auf russischen Ikonen, durch die es golden durchschimmert, bevor die Milch ihm eine Farbe ähnlich der Hautfarbe eines überfütterten Säuglings verleiht; auf dem Kontinent serviert man den Tee dünn, aber aus kostbarem Porzellan, hier gießt man aus ramponierten Blechkannen gleichgültig ein Engelsgetränk zu des Fremden Labsal, und spottbillig dazu, in dicke Steinguttassen.

Das Frühstück war gut, der Tee des Ruhmes würdig, und kostenlos hinzu gab es das Lächeln der jungen Irin, die ihn servierte.

Ich blätterte in der Zeitung und fand als erstes einen Leserbrief, der forderte, daß Nelson so hoch da droben gestürzt und durch eine Muttergottesstatue ersetzt werden müsse. Noch ein Brief, der Nelsons Sturz forderte, noch einer…

Acht Uhr war es geworden, Gesprächigkeit flammte auf, bezog auch mich ein: ich wurde mit Worten überschüttet, von denen ich nur ein einziges verstand: Germany. Ich beschloß, freundlich, aber bestimmt, mit der Waffe des Landes, mit dem Sorry zurückzuschlagen, das kostenlose Lächeln der schlampigen Teegöttin zu genießen, bis ein plötzliches Brausen, ein Donnern fast, mich aufschreckte. Konnte der Zugverkehr auf dieser merkwürdigen Insel so lebhaft sein? Das Donnern hielt an, artikulierte sich, der vehemente Einsatz zum Tantum ergo wurde von Sacramentum – veneremur cernui an klar und sauber hörbar, bis zur letzten Silbe ausgesungen klang es über die Westland Row aus der St.-Andreas-Kirche gegenüber, und so, wie die ersten Tassen Tee so gut waren wie die vielen, die ich noch trinken würde – in verlassenen, schmutzigen kleinen Nestern, in Hotels und an Kaminfeuern –, so blieb auch der Eindruck einer überwältigenden Frömmigkeit, wie sie kurz nach dem Tantum ergo die Westland Row überschwemmte: so viele Menschen würde man bei uns nur nach der Ostermesse oder nach dem Weihnachtsgottesdienst aus der Kirche kommen sehen; aber die Beichte der Ungläubigen mit dem scharfen Profil hatte ich noch nicht vergessen.

Acht Uhr morgens war es erst, Sonntag, zu früh noch, den Gastgeber aus dem Schlaf zu wecken: doch der Tee war kalt geworden, im Café roch es nach Hammelfett, die Gäste rafften Kartons und Koffer zusammen, strebten ihren Omnibussen zu. Lustlos blätterte ich im Irischen Digest, übersetzte mir stockend einige Anfänge von Artikeln und Kurzgeschichten, bis eine Einzeilenweisheit auf Seite 23 mich aufmerksam machte: ich verstand den Aphorismus lange, bevor ich ihn mir hatte übersetzen können: unübersetzt, nicht in Deutsch gefaßt und doch verstanden, wirkte er fast noch besser als ins Deutsche übertragen: Die Friedhöfe, stand da, liegen voller Menschen, ohne die die Welt nicht leben konnte.

Diese Weisheit schon schien mir eine Reise nach Dublin wert zu sein, und ich beschloß, sie tief in meinem Herzen zu verschließen, für die Augenblicke, in denen ich mir wichtig vorkommen würde (später erschien sie mir wie ein Schlüssel zu dieser merkwürdigen Mischung aus Leidenschaft und Gleichmut, zu jener wilden Müdigkeit, mit Fanatismus gekoppelten Wurschtigkeit, der ich so oft begegnen sollte).

Kühle, große Villen lagen hinter Rhododendron, hinter Palmen und Oleandergebüsch versteckt, als ich mich entschlossen hatte, trotz so barbarisch früher Zeit den Gastgeber zu wecken; Berge wurden im Hintergrund sichtbar, lange Baumreihen.

Acht Stunden später schon wurde mir von einem deutschen Landsmann kategorisch erklärt: »Hier ist alles schmutzig, alles teuer, und Sie werden nirgendwo eine richtige Karbonade bekommen«, und schon verteidigte ich Irland, obwohl ich erst zehn Stunden im Lande war, zehn Stunden, von denen ich fünf geschlafen, eine gebadet hatte, eine in der Kirche gewesen war, eine mich mit dem Landsmann stritt, der ein halbes Jahr gegen meine zehn Stunden setzte. Ich verteidigte Irland leidenschaftlich, kämpfte mit Tee, Tantum ergo, Joyce und Yeats gegen die Karbonade, die für mich um so gefährlicher war, als ich sie gar nicht kannte (erst als ich längst wieder zu Hause war, mußte ich im Duden nachschlagen, um sie zu identifizieren: Gebratenes Rippenstück las ich dort), dunkel nur ahnte ich, als ich gegen sie kämpfte, daß es ein Fleischgericht sein müsse – aber mein Kampf war vergebens; wer ins Ausland geht, möchte die Nachteile des eigenen Landes – oh, diese Hetze zu Hause! – zwar gern missen, dessen Karbonaden aber mitnehmen; wahrscheinlich wird man nicht ungestraft in Rom Tee trinken, sowenig wie man ungestraft – es sei denn bei einem Italiener – in Irland Kaffee trinkt. Ich gab den Kampf auf, fuhr im Bus zurück und bewunderte die endlosen Menschenschlangen vor den Kinos, deren es reichlich zu geben schien: Morgens, dachte ich, drängen sie sich in und vor den Kirchen, abends offenbar in und vor den Kinos; an einer grünen Zeitungsbude erlag ich wieder dem Lächeln einer Irin, kaufte Zeitungen, Zigaretten, Schokolade, dann fiel mein Blick auf ein Buch, das unbeachtet zwischen Broschüren lag: sein weißer Titel, rotumrandet, war schon beschmutzt, antiquarisch war’s für einen Schilling zu haben, und ich kaufte es. Es war der Oblomow von Gontscharow in englischer Übersetzung. Ich wußte...

Erscheint lt. Verlag 21.9.2009
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Aufzeichnung • Auslandsreise • Belletristik • Deutschland • FAZ Frankfurter Allgemeine zeitung • halb-dokumentarisch • Heimat-Kritik • Heinrich Böll • Impressionen • Irland-Tagebuch • Kiepenheuer & Witsch • Köln • Kölner Ausgabe • Lesetipp • Literaturnobelpreis • Literatur-Nobelpreis • Mythologie • Redensart • Reise-Bericht • Roman • Tagebuch
ISBN-10 3-462-30054-7 / 3462300547
ISBN-13 978-3-462-30054-3 / 9783462300543
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