Narzissmus und Bindungstrauma (eBook)

Entstehung, Formen, Therapie
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
176 Seiten
Junfermann (Verlag)
978-3-7495-0609-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Narzissmus und Bindungstrauma -  Michaela Huber
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Das Interesse am Thema Narzissmus ist nach wie vor groß. Das Cluster von Symptomen, das Menschen mit einer ungewöhnlich intensiven Selbstbezogenheit kennzeichnet, beinhaltet: überhöhtes Gefühl der eigenen Bedeutung, Streben nach Bewunderung, Mangel an Mitgefühl für andere. In Studien haben sich zwei Ursachen herauskristallisiert, die mit der Kindheit der Betroffenen zu tun haben: Die einen wurden verhätschelt, die anderen gequält. Vernachlässigt wurden beide Gruppen, denn immer mangelte es an angemessener Sorge und Aufmerksamkeit der Eltern. Neben Fragen wie »Wie wird man eigentlich Narzisst?« beschäftigt sich Michaela Huber mit Kernmerkmalen einer narzisstischen Störung, mit dem Unterschied zwischen pathologischem und »gesundem« Narzissmus sowie mit Fragen der Diagnostik. Unterschiedliche narzisstische Strategien werden ebenso erörtert wie Möglichkeiten des Ausstiegs aus narzisstischen Beziehungen sowie die Psychotherapie narzisstischer Störungen.

Michaela Huber ist psychologische Psychotherapeutin, Supervisorin und Ausbilderin in Traumabehandlung. Für ihre Arbeit erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, u. a. das Bundesverdienstkreuz, den »Mental Health Award« für ihre therapeutische Lebensleistung, den »Global Pharma Award« für das beste psychologische Ausbildungs- und Trainingsprogramm in Europa und den »Women World Award«, der an Frauen aus Wissenschaft, Forschung und Lehre verliehen wird.

1. Mythos Narziss: Ein unglücklich und unwissend sich selbst begehrender Mensch


Das vielleicht berühmteste Bild zum Mythos – „Narciss na fonte“ (Narziss an der Quelle) – wurde vom Barockmaler Michelangelo Merisi da Caravaggio in den Jahren 1597 bis 1599 in seinem damals revolutionären, unnachahmlichen Hell-Dunkel-Stil gemalt. Zu sehen ist das Bild in Rom in den Gallerie Nazionale Barbarini Corsini, und ich kann nur empfehlen, es sich möglichst dort genau anzusehen, denn schöner kann man die Geschichte des verzweifelt nach Liebe suchenden und auf sich selbst zurückgeworfenen jungen Menschen in einem Bild nicht darstellen.1

Der Mythos selbst jedoch ist sehr viel älter. Die Autoren von Wikipedia (Stand Anfang 2024) machen es sich leicht, indem sie das Thema so abhandeln: „Narziss ist in der griechischen Mythologie ein schöner Jüngling, der die Liebe anderer zurückwies und sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte, vor Sehnsucht dahinschwand und in die gleichnamige Blume verwandelt wurde.“ Scherzhaft könnte ich antworten: Das engt es aufs Wesentliche ein. Vielleicht lohnt es sich, dem römischen Dichter zu lauschen, der den ursprünglich griechischen Mythos wohl am besten in Worte gefasst hat: Publius Ovidius Naso (43 v. Chr. bis 17 n.Chr.).2 Und natürlich hat das Spiel mit dem Wasser und der Selbsterkenntnis im Spiegel eine tiefere Bedeutung, denn der, der aus dem Wasser kam, wird im Tod wieder mit dem Wasser vereinigt. Er kam aus der Quelle, und nachdem er unglücklich nach Liebe suchte, sich selbst vernachlässigte, nicht mehr essen und trinken konnte (Pullen & Rhodes 2008), kehrt er, wie er war und ist, zur Quelle zurück, lebensuntüchtig und beziehungsunfähig, zerstörerisch für sich selbst und andere. Was bleibt, ist ein schönes Bild einer zarten Blüte …

Mit einem der frühen psychoanalytischen Interpreten, Friedrich Wieseler (1856), ließe sich der Mythos des unglücklichen Narziss auch so deuten: Ein vergeudetes Leben ohne Bindung zu einem anderen Menschen endet nach kurzer Zeit dort, wo es begonnen hat.

Sehr bitter und zugleich treffend ist meines Erachtens das „Narziss-Mandala“ des Malers Wolfgang Petrick. Für das als Collage und Computersimulation ausgeführte Bild namens „Glückskopf“ (1999) verwendete der Künstler das Foto eines schönen jungen Mannes, der nach einer Kneipenschlägerei verstorben war.3

Schönheit und Sterblichkeit, Sinnsuche und Vergeblichkeit, Gewalt gegen andere mit tödlichem Ausgang, auch für sich selbst – alles das enthält der Mythos des Narziss. Die obsessive Beschäftigung mit dem eigenen Bild, dem eigenen Image – die permanente Suche der eigenen Identität durch den anderen also –, hat zur Entwicklung eines eigenen Störungsbildes beigetragen: der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung (NPS) (APA 2013). Von ihr sowie von all ihren Vor- und Nebenformen, ihrem Entstehen, ihren Auswirkungen und ihrer Therapie soll in diesem Buch die Rede sein.

Der Mythos und seine Bedeutung


Doch der Reihe nach. Wer war Narziss – auch Narkissos oder Narcissus genannt – eigentlich, und was hat es mit dem Entstehen aus dem und dem Vergehen im Wasser auf sich?

Bei Ovid finden wir – übereinstimmend mit den ursprünglichen mythologischen Erzählungen – Folgendes zu den Eltern und der tragischen, ja traumatischen Zeugungsgeschichte des jungen Mannes: Demnach hatte der Flussgott Cephisos die Quellnymphe Liriope vergewaltigt. Diese gebar einen Jungen (in manchen Mythos-Varianten ist auch von Zwillingen beiderlei Geschlechts die Rede). Mit 16 war Narcissus ein schöner Jüngling, in den sich viele Männer wie Frauen verliebten, der aber keine Liebe erwidern wollte. Das Thema unterschiedlicher oder ambivalenter Geschlechtszugehörigkeit und -hingezogenheit ist also im Mythos bereits angelegt.

Laut Ovid schmachtete u. a. die Quellnymphe Echo Narzissus an. Echo war mit einem Fluch belegt und konnte immer nur die letzten Worte des anderen wiederholen. Sie hatte also kein eigenständiges Ich. Fast karikaturenhaft könnte damit schon im Urmythos angedeutet sein, wie sich möglicherweise die unglückliche Liebe eines Narzissten mit seinem Gegenüber gestaltet: Narziss sucht und spricht und äußert sich. Er will und er will nicht. Und doch will er unbedingt eine Ergänzung, ja Zweieinigkeit – und die Beziehungspartnerin kann nur sein Echo sein. Dieses Echo ist jedoch nicht das, was ein Narzisst wirklich bräuchte.

Bei Wieseler (1856) finden wir einen weiteren Hinweis darauf, was Narziss denn suchte: seine Zwillingsschwester. „Narkissos habe eine Zwillingsschwester gehabt, und wie ihr Aussehen im Übrigen durchaus gleich gewesen sei, so haben beide auch dasselbe Haar gehabt und haben sich ähnlich gekleidet und seien auch mit einander auf die Jagd gegangen. Narkissos aber sei in Liebe zu der Schwester entbrannt gewesen, und als das Mädchen gestorben, habe er, zu der Quelle gehend, allerdings das Bewußtsein gehabt, dass er seinen eigenen Schatten sehe, dieses sei ihm aber auch bei dem Bewußtsein eine Erleichterung der Liebe gewesen, insofern er nicht seinen eigenen Schatten, sondern ein Bild seiner Schwester zu sehen wähnte“ (S. 2).

Diese Interpretation ermöglicht es zu verstehen, was viele Menschen, die man Narzissten nennt, suchen: Nicht das Echo, sondern das, was ihnen am ähnlichsten und vertrautesten ist – und wonach sie sich deshalb am meisten sehnen und was sie am stärksten begehren. Es ist der andere Teil seiner selbst, wie schon Platon in seinem „Gastmahl“ von den „Kugelmenschen“ schrieb, nach dem der Mensch sein Leben lang auf die Suche gehen kann, bis er es – manchmal – in einem anderen Menschen findet.

Aber weiter im Mythos: Über den Kummer der unerwiderten Liebe schwand das Wesen der Nymphe Echo dahin, bis nur noch das Echo der Stimme des anderen blieb. Und so suchte Narziss weiter, verstieß in seiner Pansexualität (wie man das heute nennen würde) von denen, die sich in ihn verliebten und seine Nähe suchten, eine nach der und einen nach dem anderen. Sie passten ihm einfach nicht – es „matchte“ nicht, wie man heute sagt. Einer der von Narziss Verschmähten verfluchte ihn schließlich, er solle selbst jemandem hinterherlaufen, ohne dass seine Liebe erwidert würde. So geschah es – auf unerwartete Weise.

Eines Tages beugte sich Narziss über das Wasser einer Quelle. Und weil er das Bild eines Menschen nicht vom Menschen selbst unterscheiden konnte, verliebte er sich in sein eigenes Spiegelbild. Auch dies ist höchst interessant, denn bereits Ovid und die anderen frühen Autoren hatten erkannt: Es gibt Menschen, die das Anderssein eines anderen Menschen nicht wahrnehmen können. Es gelingt ihnen nicht, zwischen sich und anderen zu unterscheiden, also echte Empathie zu empfinden. In allem projizieren sie sich auf andere, auch im Unbefriedigtsein. Und so kommt das Echo auch zu ihnen zurück: unbefriedigend, unvollständig, unvollendet.

Das ist zum Beispiel bei vielen früh bindungsgeschädigten Menschen der Fall. Sie mussten entweder ohne die unterstützende Wärme ihrer Eltern auskommen und / oder sie konnten sich nicht von ihnen ablösen und ein eigenständiger Mensch werden. Steckengeblieben in einer Art frühkindlicher Verschmelzung wissen sie nicht, wo sie selbst aufhören und wo der andere Mensch anfängt. Sie sind nicht individuiert, wie man in der Fachsprache sagt, sondern in einer ständigen kollusiven Verwicklung befangen. So glauben sie fest daran, dass es die perfekte Ergänzung für sie gibt und sie sie auch finden können (Partnerschaftsportale verdienen Millionen mit diesem Geschäftsmodell). Gibt es dann ein „Match“ mit einem anderen Menschen, gehen sie davon aus, dass auch ihr Gegenüber (eigentlich) das will, was sie wollen. Sie sehnen sich nach Anregung, Begegnung, Verschmelzung. Und was passiert dann?

Die PartnerIn passt sich an – und sie bekommen nur ein Echo, das sie erst beglückt (Verschmelzung in der Verliebtheitsphase). Aber auf Dauer kann diese ständige reine Spiegelung sie doch nicht befriedigen.

Oder: Die PartnerIn entpuppt sich als unerwartet anders. Darauf reagieren sie ärgerlich bis abwehrend, weil die Projektion „nicht passt“. Zu sehr weicht die andere Person von den eigenen als selbstverständlich wahrgenommenen Gedanken und Gefühlen ab.

Beide Varianten enden nicht glücklich, die Beziehung scheitert: Der früh bindungsgeschädigte Teil des Paares wendet sich ab oder geht in einen „malignen Clinch“ und Machtkampf, weil er es nicht ertragen kann, dass ein anderer Mensch offenbar ganz andere – ihm in dem Moment fremde – eigene Wünsche und Bedürfnisse zeigt. Diese Art von „malignem Clinch“ und dessen Lösung – die Entwertung des anderen und schließlich die Beziehungsabwehr – finden wir sehr häufig in Partnerschaften, die Menschen mit narzisstischen Persönlichkeitszügen eingehen. Auch in der psychotherapeutischen Beziehung können wir diese Problematik erwarten (s. Kapitel 13).

Doch zurück zu Ovid. Interessant an seinen Schilderungen des Narziss-Dilemmas: In seinem Bindungslosigkeitskummer gelingt es Narziss, sich selbst zu lieben. Warum spreche ich hier von „gelingen“? Diese Selbst-Liebe (die er nicht als solche versteht) ist bei seinem inneren Leeregefühl ein Trost. Es gelingt ihm, sich voll und ganz zuzuwenden und eine Bindung einzugehen. Endlich liebt er. Doch wie der Fluch des einst Verschmähten es voraussagte, ist diese Liebe ein „Hinterhersein“ ohne Erfüllung.

Der selbstverliebte Mensch ist nie wirklich glücklich, weil er eines anderen bedarf, um...

Erscheint lt. Verlag 7.11.2024
Verlagsort Paderborn
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Schlagworte Diagnostik • Gesunder Narzissmus • Narzissmus • Persönlichkeitsstörung • Selbstbezogenheit • Symptome • toxische Beziehung • Trauma • Traumafolgen
ISBN-10 3-7495-0609-4 / 3749506094
ISBN-13 978-3-7495-0609-5 / 9783749506095
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