Gegen die Welt -  Tara Zahra

Gegen die Welt (eBook)

Nationalismus und Abschottung in der Zwischenkriegszeit | Wie die Globalisierung Anfang des 20. Jahrhunderts scheiterte - und warum uns das eine Warnung sein sollte

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
448 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77874-6 (ISBN)
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Mit Gegen die Welt legt die US-amerikanische Historikerin Tara Zahra eine fantastisch geschriebene Geschichte des antiglobalistischen, antiinternationalistischen Denkens und Handelns in der Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg vor. Sie zeigt, wie ein Gemisch aus Nationalismus, Protektionismus und Fremdenfeindlichkeit rund um den Globus die Politik und das Denken eroberte. Ihr ebenso packendes wie bedrückendes Porträt einer Welt im Moment ihres Auseinanderbrechens ist auch eine Warnung: Die Ordnung, die wir für selbstverständlich erachten, kann brüchig sein.

Schon während der ersten Welle der Globalisierung bildeten sich gefährliche Unterströmungen. Migration und ökonomische Verflechtung lösten Ressentiments und Existenzängste aus. Nationalismus und Abschottung wurden zum Mantra zahlreicher Politiker. Mit dem Ersten Weltkrieg und der Spanischen Grippe kam die erste Welle der Globalisierung vorerst zu einem Ende. Die Parallelen zur heutigen Zeit sind mit Händen zu greifen: Die Pandemie, die Verwerfungen in der Weltwirtschaft, die Rhetorik des »Take back control« - es scheint, als sei das frühe 20. Jahrhundert zu unserer Gegenwart geworden.

»Eine wunderbar geschriebene, fesselnde Geschichte darüber, wie die Globalisierung in der Vergangenheit gescheitert ist, und ein warnendes Beispiel für die Gegenwart. Zahras Rechercheleistung ist hervorragend, ihre Figuren sind unvergesslich.« Lea Ypi



Tara Zahra, geboren 1976, ist Professorin für Osteuropäische Geschichte an der University of Chicago. Sie ist Mitglied der American Academy of Arts and Sciences. Für ihre Arbeit wurde sie vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem George Louis Beer Prize der American Historical Association.

9

Einleitung


»In einer Welt fallender Preise sind keine Aktien katastrophaler gefallen als die der internationalen Zusammenarbeit.«

Dorothy Thompson, 19311

Das Zeitalter der Globalisierung war vorbei.

Sogar überzeugte Internationalistinnen und Internationalisten »haben den Glauben verloren und stimmen in den Chor derer ein, die niemals mit unseren Idealen sympathisiert haben; sie sagen nun, der Internationalismus sei gescheitert«, so die verzweifelte Klage der Frauenrechtlerin Mary Sheepshank. Sie zeigte sich zwar zuversichtlich, dass der Geist des Internationalismus zurückkehren werde, wenn »der Nebel in den Gehirnen der Menschen« sich verzogen habe, doch für den Augenblick sei er durch »Rassenhass und nationalen Eigennutz« ersetzt worden, die »zu Zollschranken, Militarismus, Rüstung, einer erdrückenden Steuerlast, einer Beschränkung der internationalen Kontakte, zu wechselseitigem Abschlachten und zum Stillstand jeglichen Fortschritts führen«.2

Das war im Jahr 1916. Hunderttausende europäischer Jünglinge und Männer hatten schon ihr Leben verloren, und allenthalben schrieb man Nachrufe auf den Internationalismus. Der Nebel verzog sich nur langsam. Mehr als 20 Jahre später veröffentlichte der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig seine Lebenserinnerungen mit dem Titel Die Welt von Gestern. Sie waren eine nostalgische Grabrede auf ein vergangenes Zeitalter der Globalisierung. Zweig, der sich selbst als »Weltbürger« bezeichnete, erinnerte sich: »Vor 1914 hatte die Erde allen Menschen gehört. Jeder ging, wohin er wollte, und blieb, solange er wollte. Es gab keine Erlaubnisse, keine Verstattungen, und ich ergötze mich immer wieder neu an dem Staunen junger Menschen, sobald ich ihnen erzähle, daß ich vor 1914 nach Indien und Amerika reiste, ohne einen Paß zu besitzen oder überhaupt je gesehen zu haben. 10Man stieg ein und stieg aus, ohne zu fragen und gefragt zu werden, man hatte nicht ein einziges von den hundert Papieren auszufüllen, die heute abgefordert werden. Es gab keine Permits, keine Visen, keine Belästigungen.« Nach dem Weltkrieg war alles anders.

 

Überall verteidigte man sich gegen den Ausländer […]. All die Erniedrigungen, die man früher ausschließlich für Verbrecher erfunden hatte, wurden jetzt vor und während einer Reise jedem Reisenden auferlegt. Man mußte sich photographieren lassen von rechts und links, im Profil und en face, das Haar so kurz geschnitten, daß man das Ohr sehen konnte, man mußte Fingerabdrücke geben […], mußte überdies Zeugnisse, Gesundheitszeugnisse, Impfzeugnisse, polizeiliche Führungszeugnisse, Empfehlungen vorweisen, mußte Einladungen präsentieren können und Adressen von Verwandten, mußte moralische und finanzielle Garantien beibringen, Formulare ausfüllen und unterschreiben in dreifacher, vierfacher Ausfertigung, und wenn nur eines aus diesem Schock Blätter fehlte, war man verloren.

 

Er stellte eine Verbindung zwischen diesen bürokratischen Demütigungen und einem Verlust an menschlicher Würde wie auch einem verlorenen Traum von einer geeinten Welt her. »Wenn ich zusammenrechne, wie viele Formulare ich ausgefüllt habe in diesen Jahren […], wie viele Durchsuchungen an Grenzen und Befragungen ich mitgemacht, dann empfinde ich erst, wieviel von der Menschenwürde verlorengegangen ist in diesem Jahrhundert, das wir als junge Menschen gläubig geträumt als eines der Freiheit, als die kommende Ära des Weltbürgertums.«3

In Großbritannien verfasste der Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes kurz nach dem Ende des Krieges seinen berühmten Nachruf auf die Globalisierung. »Welch ein außerordentliches Zwischenspiel in dem wirtschaftlichen Fortschritt des Menschen war doch das Zeitalter, das im August 1914 endete.« Im goldenen Zeitalter vor dem Krieg konnte der »Bewohner Londons […], seinen Morgentee im Bette trinkend, durch den Fernsprecher die verschiedensten Erzeugnisse der ganzen Erde in jeder beliebigen Menge bestellen und mit gutem Grund erwarten, daß man sie alsbald an seiner Tür ablieferte«. Und die »Pläne der Politik des Militarismus und Imperialismus, der Nebenbuhlerschaft von Rassen und Kulturen, der Monopole, Handelsbeschränkungen und Ausschließungen, die die Schlange 11in diesem Paradiese spielen sollten, waren wenig mehr als Gerede in seiner Tageszeitung«. Diese drohenden Gefahren »schienen fast gar keinen Einfluß auf den gewöhnlichen Lauf des geschäftlichen und wirtschaftlichen Lebens zu üben, dessen Internationalisierung praktisch fast vollendet war«.4

Stefan Zweig und John Maynard Keynes gehören bis heute zu den bekanntesten Analytikern des durch den Ersten Weltkrieg ausgelösten Wandels. Beide empfanden diese Veränderungen als Ende eines goldenen Zeitalters der Globalisierung, in dem Menschen, Güter und Kapital frei über Landesgrenzen hinweg zirkulierten. Gerade ihr nostalgischer Blick auf eine verlorene Welt der Globalisierung bietet indessen wichtige Hinweise auf die Ursachen ihres Niedergangs. Beide Männer vermochten nicht wirklich zu erkennen, wie sehr die mit der Globalisierung verbundenen Freiheiten Privilegien einer schmalen Elite darstellten. (»Vielleicht war ich von vordem zu sehr verwöhnt gewesen«, sinnierte Zweig.) Die Welt hatte vor 1914 durchaus nicht allen gehört, wohl aber Menschen wie Keynes und Zweig.

Vor dem Ersten Weltkrieg konnten Zweig und Keynes vor allem deshalb frei von bürokratischen Hindernissen durch die Welt reisen, weil sie wohlhabende, gebildete, weiße Europäer waren. Sie reisten ohne jegliche Behinderungen zu geschäftlichen Zwecken oder zum Vergnügen und brauchten sich um ihre physische Sicherheit keine Sorgen zu machen – noch auch um lästige Einmischungen durch Ehemänner, Väter oder staatliche Behörden.

Im Rückblick stellt die Welt von gestern sich ganz anders dar. Migrantinnen und Migranten auf dem Weg in die Vereinigten Staaten von Amerika sahen sich schon im 19. Jahrhundert der Zudringlichkeit von Ärzten ausgesetzt, die physisch oder psychisch kranke Einwanderer oder solche mit Behinderungen aussondern sollten, zusammen mit jenen, die »wahrscheinlich dem Staat zur Last fallen« würden (darunter auch die meisten alleinstehenden Frauen). Weltweit lebten Millionen von Menschen in Regionen, denen man die politische Selbstbestimmung verweigerte und die zugunsten der Europäer und Nordamerikaner ausgebeutet wurden. Der internationale Handel war zwar für 12alle beteiligten Parteien von Nutzen, doch er vergrößerte auch die Ungleichheit zwischen reichen und armen Ländern. Und innerhalb der industrialisierten Länder nutzte die Globalisierung nicht allen gleichermaßen. Es gab eindeutige Gewinner und Verlierer.5

Keynes räumte all das freimütig ein. Die Vorteile der Globalisierung seien nicht gleichmäßig verteilt worden. Doch Ungleichheit habe im 19. Jahrhundert als notwendige Folge des Fortschritts gegolten. »Der größere Teil der Bevölkerung arbeitete freilich hart und hatte eine niedrige Lebenshaltung, war aber allem Anschein nach mit diesem Lose einigermaßen zufrieden.« Und zwar weil man an die Chancen sozialer Mobilität glaubte. »Denn für jeden irgend über den Durchschnitt Fähigen und Willenskräftigen war der Aufstieg in die Mittel- und Oberklasse möglich.«6

Der Krieg zerstörte diese Illusionen. Das Ausmaß der gebrachten Opfer ließ in der breiten Masse der Menschen Forderungen nach sofortiger Gerechtigkeit aufkommen. In ganz Europa und der ganzen Welt gingen Arbeiter, Frauen und in den Kolonien Unterworfene auf die Straße, um Selbstbestimmung und größere Gleichheit zu verlangen. In Russland entfachte die Unzufriedenheit eine Revolution, die sich anscheinend westwärts auszubreiten drohte. Die Räder der globalen Integration kamen knirschend zum Stillstand. Das könne für Westeuropa und die Welt katastrophale Folgen haben, warnte Keynes: »Vor uns steht ein leistungsunfähiges, arbeitsloses, desorganisiertes Europa, zerrissen vom Haß der Völker und von innerem Aufruhr, kämpfend, hungernd, plündernd und schwindelnd.«7

Seine Warnung erwies sich als weitsichtig. Das Zeitalter des Antiglobalismus sollte noch zwei weitere Jahrzehnte fortdauern, unterbrochen von der größten...

Erscheint lt. Verlag 15.4.2024
Übersetzer Michael Bischoff
Zusatzinfo Mit zahlreichen Abbildungen (s/w)
Sprache deutsch
Original-Titel Against the World. Anti-Globalism and Mass Politics Between the World Wars
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte AfD • Antiglobalismus • Anti-Globalismus • Anti-Internationalismus • Antisemitismus • Christopher Clark • Correctiv • Dexit • Donald Trump • Feminismus • Globalisierung • Globalismus • Henry Ford • Inflation • Lea Ypi • Nationalismus • Pandemie • Pankaj Mishra • Protektionismus • Rosika Schwimmer • Spanische Grippe
ISBN-10 3-518-77874-9 / 3518778749
ISBN-13 978-3-518-77874-6 / 9783518778746
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