Frühling 1940 (eBook)

Wie die Menschen in Europa den Westfeldzug erlebten
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
448 Seiten
Hoffmann und Campe (Verlag)
978-3-455-01735-9 (ISBN)

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Frühling 1940 -  Raffael Scheck
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Als sich im Frühling 1940 Soldaten auf den einstigen Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges erneut feindselig und erbittert gegenüberstanden, kämpften sie nicht nur um ihr eigenes Überleben, sondern auch mit der schmerzlichen Vergangenheit. Während die Soldaten mit traumatischen Erlebnissen und der Trauer um viele der dort gefallenen Verwandten konfrontiert waren, wurden bei den dort lebenden Zivilisten dramatische Erinnerungen an die deutschen Gräueltaten wach. Auf Grundlage von zum Teil unveröffentlichten Berichten, Briefen und Tagebucheinträgen erzählt der renommierte Historiker Raffael Scheck eindrucksvoll von den Monaten Mai und Juni 1940 aus der Sicht gewöhnlicher Soldaten und Zivilisten auf beiden Seiten der Front.

Raffael Scheck, geboren 1960 in Freiburg, ist Professor für Geschichte am Colby College in Walterville an der Ostküste der USA. Als Historiker ist er insbesondere darum bemüht, das nationalstaatliche eurozentrische Geschichtsbild des 20. Jahrhunderts aufzubrechen. Nach zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen ist Frühling 1940 sein erstes Sachbuch.

Raffael Scheck, geboren 1960 in Freiburg, ist Professor für Geschichte am Colby College in Walterville an der Ostküste der USA. Als Historiker ist er insbesondere darum bemüht, das nationalstaatliche eurozentrische Geschichtsbild des 20. Jahrhunderts aufzubrechen. Nach zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen ist Frühling 1940 sein erstes Sachbuch.

Cover
Titelseite
Widmung
Karte
Prolog
Einleitung: Der unnötige Krieg?
Kriegsausbruch und Sitzkrieg
»Jetzt hat der Krieg wohl wirklich angefangen«: Der Angriff und die Reaktionen
Die große Schlacht in Flandern
Le Désastre
Nach dem Waffenstillstand
Dank
Zeitzeugen
Quellen
Literatur
Abbildungen
Endnoten
Über Raffael Scheck
Impressum

Prolog


»Wipe your feet please. 1918.« Diese Worte, in großen Kreidebuchstaben an die Wand hinter der Eingangstür geschrieben, empfangen den Artillerieoffizier John Austin, als er im Herbst 1939 in einem heruntergekommenen Bauernhaus im nordfranzösischen Sommegebiet Quartier bezieht. Austin hat das Gefühl, er habe Gespenster geweckt. Instinktiv will er gehorchen und sich die Füße abtreten. Beinahe vergisst er, dass er sich nicht mehr im Jahr 1918 befindet und dass er nur Ärger mit den Geistern einer Offiziersmesse bekäme, sollte er sich nicht an den Befehl halten. Bei näherer Untersuchung des Hauses findet er ein rostiges Bajonett, Ketchup, Nestle-Trockenmilch, ein paar Sardinendosen und vier angebrochene Weinflaschen: »Es lag etwas Rührendes in diesem kleinen Haufen von verloren aussehenden Resten, der Erbschaft einer britischen Armee für eine andere, schwarz und schimmlig, aber eine Erinnerung an vieles.«[1]

Ein paar Wochen später legt Horace Barnet, Mitglied einer britischen Signaleinheit, in klirrender Kälte Verteidigungsgräben an. Er arbeitet in Sichtweite des kanadischen Weltkriegsdenkmals von Vimy bei Arras, einer prächtigen Anlage mit zwei hohen weißen Türmen, die erst wenige Jahre zuvor eingeweiht worden ist. Mit seinen Kameraden besichtigt Barnet das Denkmal und den umgebenden Friedhof: »Ich wusste alles darüber. Mein Vater hatte mir davon erzählt. Tausende von weißen Kreuzen, alle sehr schön geordnet. 75000 Kanadier waren hier gefallen. Die alten Schützengräben waren in dieser Gegend noch sichtbar.« Besonders beeindruckt Barnet ein großer Krater an der Stelle, wo die Briten eine gewaltige Mine unter der deutschen Stellung angebracht und gezündet hatten. Mit Erstaunen bemerkt er, dass nur 50 bis 60 Meter die feindlichen Gräben trennten. Er findet Stacheldrahtzäune. Alles ist ein bisschen überwachsen. Er sieht französische Schilder: »Lebensgefahr! Nicht betreten!« Er beachtet sie nicht. Mit Kameraden steigt er in einen Graben voller Einschusslöcher. Sie finden ein Stück Stahl. Es ist ein Gewehr. Der Holzgriff ist vermodert, aber man kann noch glänzendes Blech und Kupferkugeln im Lauf sehen. Barnet versucht das Gewehr auszugraben und als Souvenir mitzunehmen, aber es zerfällt. Immer wieder findet er Granaten. Einmal entdecken seine Kameraden etwas, das wie eine Zuckerrübe aussieht. »Sie nahmen es in die Hand und merkten, es war ein Schädel. Er gehörte zu einem Soldaten, der dort in voller Uniform lag.«[2]

Austin und Barnet befinden sich im Gebiet der Westfront aus dem Ersten Weltkrieg (damals noch einfach »der Weltkrieg«). Als Teil des britischen Expeditionskorps (British Expeditionary Force, BEF) besetzen sie Stellungen nördlich der Somme, wo 1916 die erste BEF die schwersten Verluste der britischen Militärgeschichte erlitt. Die Vergangenheit ist in diesem Gebiet sozusagen allgegenwärtig. Früher oder später stößt jeder Soldat auf die Schlachtfelder, Denkmäler und Friedhöfe aus dem Weltkrieg. Briten und Franzosen begegnen ihnen bereits in der Wartezeit zwischen Kriegsausbruch und dem deutschen Angriff am 10. Mai 1940, Deutsche und Belgier erst während der Kämpfe im Frühling 1940. Soldaten aller Armeen finden irgendwann Überreste aus dem Grabenkrieg von 19141918. Mitunter erweisen sich die alten Schützengräben und Unterstände sogar als nützlich, und manche Erinnerungsorte, einschließlich Vimy, werden erneut zu Kampfstätten. Die älteren Kriegsteilnehmer erkennen Orte, an denen sie schon einmal gekämpft oder geruht haben. Die Erinnerung ist ergreifend und manchmal gespenstisch, wie ein Traum. Jüngere Soldaten kommen durch Dörfer und Felder, wo ihre Väter kämpften und vielleicht fielen. Der Bezug auf den Weltkrieg ist auch für Zivilisten bestimmend. In den Nachrichten hört man Ortsnamen, die damals traurige Berühmtheit erlangt hatten: Arras, Vimy, Cambrai und Verdun in Frankreich; Ypern, Kemmelberg und Langemark in Belgien. Die Erinnerung an die deutschen Gräuel in den ersten Kriegswochen 1914 und an die brutale Besatzung in den vier folgenden Jahren veranlasst Millionen Belgier und Franzosen, sich auf die Flucht zu begeben. Egal, ob jemand den Weltkrieg selbst erlebt hat oder aus der Erzählung anderer kennt – er ist der überragende Bezugspunkt für die Menschen in Europa im Frühling 1940.

Von militärischer Seite her ist der Feldzug von 1940 gut erforscht.[3] Der überraschende und schnelle Sieg der Wehrmacht über die Streitkräfte Frankreichs, Großbritanniens, Belgiens und der Niederlande gilt als Paradebeispiel für militärische Innovation und gehört zur Ausbildung an vielen Militärakademien. Der konzentrierte Einsatz von Panzerverbänden, die gezielte Luftunterstützung, die taktischen Freiheiten der Offiziere im Feld sowie die gute Kommunikationsstruktur mit Tausenden von Funkgeräten erlaubten es der Wehrmacht, auch in schwierigen Situationen die Initiative zu behalten. Entscheidend war der Plan von General (später Feldmarschall) Erich von Manstein, der auf einem überraschenden Panzervorstoß durch die Ardennen beruhte. Der Durchbruch motorisierter Einheiten von Sedan in Frankreich bis Dinant in Südbelgien zielte darauf ab, die nach Belgien vordringenden französischen und britischen Kräfte durch ein Vorrücken bis zur Kanalküste abzuschneiden. Dieser »Sichelschnitt« traf die alliierten Streitkräfte auf dem falschen Fuß und führte zu einer katastrophalen Niederlage in den ersten drei Wochen, obwohl manche deutsche Kommandeure – auch Hitler selbst – den Erfolg durch diverse Haltebefehle gefährdeten.[4] Es erwies sich als fatal, dass die Belgier noch im Januar 1940 nach einer Bruchlandung eines deutschen Flugzeugs einen Teil des ursprünglichen deutschen Angriffsplans erbeutet hatten: Dieser Plan sah einen uninspirierten Vormarsch in die Niederlande und nach Belgien vor. Dass sich die Wehrmacht inzwischen für ein anderes Vorgehen entschieden hatte, war den alliierten Geheimdiensten entgangen.

Die Militärführung Frankreichs und seiner Verbündeten war stärker auf einen statischen und methodischen Krieg ausgerichtet, der individuellen Kommandeuren keine Freiheit ließ. Ihr Kommunikationssystem war weniger entwickelt. Der Oberbefehlshaber der französischen Armee, General Maurice Gamelin, rechnete mit einem deutschen Überfall auf die neutralen Benelux-Länder und wollte in diesem Fall den stark motorisierten linken Flügel der französisch-britischen Kräfte an die Dijle (Dyle) nach Belgien und bis Breda im Süden der Niederlande schicken (Plan D, mit Breda-Variante). Gestützt auf die Festungen der Maginot-Linie an der Grenze zu Deutschland sollten die mobilen Verbände in Belgien eine Entscheidung erzwingen. Dieser Plan spielte jedoch der Wehrmacht in die Hände, weil er die besten Kräfte am Rand der Front konzentrierte. Sie fehlten am 13. Mai, als der Durchbruch deutscher Panzerdivisionen bei Sedan gelang. Siegessicher und seinem Plan vertrauend, hatte Gamelin keine Reserven bereitgehalten.[5] Die Vorteile, die er sich erhofft hatte, nämlich eine Verbindung mit der belgischen und der niederländischen Armee sowie die Verlegung der Kämpfe auf nichtfranzösische Gebiete, lösten sich in Luft auf. Die niederländische Armee kapitulierte, kurz nachdem die Franzosen das niederländische Hoheitsgebiet erreicht hatten (14. Mai), und die Leistung der belgischen Armee enttäuschte Gamelin und seine britischen Partner trotz ihrer numerischen Stärke, die die BEF um mehr als das Doppelte übertraf.

Die Erlebniswelt des Westfeldzugs ist weit weniger erforscht als seine militärischen Seiten. Dieses Buch folgt deutschen, französischen und belgischen Soldaten und Zivilisten sowie den britischen Soldaten, die am Feldzug teilnahmen. Es basiert auf teils unveröffentlichten Tagebüchern, Erinnerungen und Interviews und versucht die Dramatik der Ereignisse ebenso wie die Offenheit des historischen Moments einzufangen. Schwerpunkte bilden die Erfahrungen der Flüchtlinge, besonders der Belgier, sowie die Folgerungen, die Soldaten und Zivilisten aus den Ereignissen im Licht der Weltkriegsvergangenheit zogen. Es gilt, Sonden in den komplexen Zeitstrom einzulassen und die Gefühle und Erwartungen von Menschen zu beleuchten, die ja nur die Vergangenheit und nicht die Zukunft kannten. Der schnelle deutsche Sieg kam für alle total überraschend. Das Offene und Unvorhergesehene der Situation barg sowohl ungeahnte Möglichkeiten als auch Gefahren. Wie formte das Erbe des Weltkriegs die unmittelbare Wahrnehmung der Menschen im Frühling 1940? Wie stellte sich für sie die Zukunft dar? Wie können wir die europäische und deutsche Geschichte aufgrund dieses direkten Einblicks in den historischen Moment besser verstehen?

Während der Arbeit an dem Buch begann in Europa ein neuer Angriffskrieg, auch er unter dem Vorwand, dass die angegriffenen Gegner selbst eine Aggression planten, auch er mit Massen von Flüchtlingen und mit Massakern und auch er mit intensivem Bezug auf einen traumatischen früheren Krieg (der allerdings vor allem als zynisch manipulierte mediale Darstellung betrachtet werden muss und schon allein aufgrund des größeren zeitlichen Abstands kaum noch auf persönlich Erlebtes referieren kann). Als Historiker bin ich zwar geschult, Vergleiche zwischen Gegenwart und Vergangenheit skeptisch zu...

Erscheint lt. Verlag 6.5.2024
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte 1. Weltkrieg • 2. Weltkrieg • Ardennen • Ardennenoffensive • Blitzkrieg • Im Westen nichts Neues • Soldaten • Verdun • Versailler Vertrag • Westfeldzug
ISBN-10 3-455-01735-5 / 3455017355
ISBN-13 978-3-455-01735-9 / 9783455017359
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