Der neue Antisemitismus (eBook)
128 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-7681-9829-5 (ISBN)
Jean Améry, im Oktober 1912 als Hans Mayer in Wien geboren, zählt zu den bedeutendsten europäischen Intellektuellen der sechziger und siebziger Jahre. Seine bahnbrechenden Essays sind in ihrer Bedeutung vielleicht nur mit den Schriften Hannah Arendts und Theodor W. Adornos zu vergleichen. Als Reflexion über die Existenz im Vernichtungslager stehen sie vermutlich Primo Levis Büchern am nächsten. Zugleich jedoch hat Améry wie kaum ein anderer Intellektueller die deutsche Öffentlichkeit mit französischen Denkern und Schriftstellern bekannt gemacht und konfrontiert. Jean Améry starb im Oktober 1978 durch eigene Hand. Von Irene Heidelberger-Leonard ist bei Klett-Cotta eine Biographie von Jean Améry erschienen. Bei Klett-Cotta erscheint die neunbändige, reich kommentierte Werkausgabe mit zahlreichen noch nicht veröffentlichten Texten. Damit besteht zum ersten Mal ein Gesamtüberblick über das vielseitige Werk Amérys.
Jean Améry, im Oktober 1912 als Hans Mayer in Wien geboren, zählt zu den bedeutendsten europäischen Intellektuellen der sechziger und siebziger Jahre. Seine bahnbrechenden Essays sind in ihrer Bedeutung vielleicht nur mit den Schriften Hannah Arendts und Theodor W. Adornos zu vergleichen. Als Reflexion über die Existenz im Vernichtungslager stehen sie vermutlich Primo Levis Büchern am nächsten. Zugleich jedoch hat Améry wie kaum ein anderer Intellektueller die deutsche Öffentlichkeit mit französischen Denkern und Schriftstellern bekannt gemacht und konfrontiert. Jean Améry starb im Oktober 1978 durch eigene Hand. Von Irene Heidelberger-Leonard ist bei Klett-Cotta eine Biographie von Jean Améry erschienen. Bei Klett-Cotta erscheint die neunbändige, reich kommentierte Werkausgabe mit zahlreichen noch nicht veröffentlichten Texten. Damit besteht zum ersten Mal ein Gesamtüberblick über das vielseitige Werk Amérys. Irene Heidelberger-Leonard, geboren 1944 in der Emigration in Frankreich, war Professorin an der Université Libre de Bruxelles und publizierte zu Günter Grass, Alfred Andersch, Jurek Becker, W. G. Sebald und Imre Kertész. Sie ist die Gesamtherausgeberin der bei Klett-Cotta erscheinenden Améry-Werkausgabe. Für ihre Biographie "Jean Améry. Revolte in der Resignation" (2004) erhielt sie den Preis der Einhard-Stiftung für herausragende Biografik.
Vorwort
von Irene Heidelberger-Leonard
Es gibt in Stuttgart, Heimstätte von Jean Amérys Verlag Klett-Cotta, einen Jean-Améry-Weg. Auf dem Straßenschild steht geschrieben: »Jean Améry (Hans Mayer), 1912–1978, Schriftsteller und Verfolgter des Naziregimes«. Als sich der Stuttgarter Gemeinderat 1987 zu dieser Namensnennung entschloss, wollte er damit zum Ausdruck bringen, dass der einst aus dem deutschsprachigen Raum Vertriebene neun Jahre nach seinem Tod zu einem festen Bezugspunkt in der deutschen Öffentlichkeit geworden war. Dieser Schriftsteller, der sich zu Lebzeiten schon als Anachronist verstanden hatte, hat sich im Nachhinein als ein Kritiker erwiesen, der seiner Zeit 50 Jahre voraus war. In seinen Essays formuliert er Gedanken, die nicht nur vom Historikerstreit (1987) und von der Walser-Bubis-Debatte (2000) schon längst eingeholt wurden, sondern gerade heute mit dem rasanten Aufstieg der AfD und erst recht mit dem Gaza-Krieg gegen den mörderischen Angriff der Hamas mehr denn je im Zentrum der deutschen Debatten stehen: die Frage nach der Einzigartigkeit des Judeozids, nach deutscher Identität, und – nach altneuem Antisemitismus.
Die Aktualität der in diesem Band vorgestellten Essays ist geradezu erschreckend: Diese Aufsätze, die Améry zwischen 1969 und 1976 verfasste, erwecken den Eindruck, sie seien eigens für den heutigen Tag geschrieben worden. Sie lesen sich als Warnung an das Deutschland von heute, wo die Juden sich – wieder einmal – nicht mehr sicher fühlen.
Wie konnte es dazu kommen, dass derselbe Jean Améry, der sich noch Jahre nach seiner Befreiung geschworen hatte, nie mehr deutschen Boden zu betreten, binnen kürzester Zeit zum Liebling der westdeutschen Medien aufstieg? Es waren die Frankfurter Auschwitz-Prozesse von 1963–1965, die ihn dazu drängten, »sein Wort in die Waagschale zu werfen«. Sein Auschwitz wollte er erzählen. Und als sich im Februar 1964 mit dem Dichter Helmut Heißenbüttel die Gelegenheit ergab, für den Süddeutschen Rundfunk zu schreiben und zu sprechen, ergriff er – freudig, wenn auch nicht ohne schlechtes Gewissen – die Gelegenheit. So blieb es, bis Jean Améry den Weg ins Freie ging. Helmut Heißenbüttel blieb dem neuen Freund bis zu dessen Tod engstens verbunden. Und weil Amérys erste fünf Essays, die er in der Publikation Jenseits von Schuld und Sühne (1966) bündelte, im bundesrepublikanischen Literaturbetrieb derart einschlugen, meldeten sich auch der Westdeutsche, der Norddeutsche und der Bayerische Rundfunk. Auch das Interesse der großen Zeitungen war geweckt worden: Karl Korn, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, und wenig später auch Feuilletonchef Karl Heinz Bohrer buhlten um Améry; dieser fühlte sich aber dem Redakteur Wolfram Schütte und der politisch links ausgerichteten Frankfurter Rundschau verpflichtet. Deshalb, aus Loyalitätsgründen, mochte er der FAZ seine Mitarbeit nicht zusichern. Auch Horst Krüger, langjähriger Feuilletonist der Zeit, bekundete sein Interesse – sie alle rissen sich um den Essayisten Jean Améry, ganz zu schweigen vom Merkur, für den er mehrere Dutzend Essays und Rezensionen verfasste.
Auch seine Schriftsteller-Kollegen meldeten sich zu Wort: Alfred Andersch lobte Jenseits von Schuld und Sühne als einen »Fixpunkt, auf den sich jedes Weiterdenken in Zukunft beziehen muss«, als ein »Grunddokument unserer Zeit«, der Nobelpreisträger Elias Canetti staunte über den »Prophet(en) aus seiner eigenen Leiblichkeit heraus« und der österreichische Philosoph Ernst Fischer bewunderte Amérys »Energie des Intellekts«, seine »Distanz im Mittendrinsein, dieses Sagen des Unsäglichen«; man könne von ihm »die Kunst lernen, wie man Aufrichtigkeit, understatement, Verflechtung von Erlebnis und Erkenntnis zur Prosa ersten Ranges konzentriert.« Adorno rühmte ihn, weil er »die Veränderungen in den Gesteinsschichten der Erfahrung […] in einer geradezu bewundernswerten Weise zum Ausdruck (bringt)«, und Ingeborg Bachmann setzte ihm noch zu Lebzeiten in ihrer schönsten Erzählung Drei Wege zum See ein Denkmal.
Anderschs Prognose hat sich bewahrheitet, denn Fixpunkt zum Weiterdenken ist Jean Améry allemal geblieben: Nicht nur W. G. Sebald lässt sich in Austerlitz (2001) von ihm inspirieren, auch für Imre Kertész wird er Anfang der 90er Jahre zu einer »Offenbarung«. Und in der Tat: Grunddokument, ja Grundlagentext des laizistischen Judentums nicht nur für unsere Zeit, sondern vor allem für Améry selbst ist sein Aufsatz Mein Judentum geblieben, zurecht bildet er auch den Auftakt dieses Bandes. Von Mein Judentum leitet sich auch Amérys Stellung zum Antisemitismus und zum Zionismus ab. Er spricht vom »Judesein« und nicht vom Judentum, bewusst formt Améry diesen Neologismus: Es geht ihm um das historische, politische und ethische Existential des Jüdischseins, nicht um eine Religion. Die Analyse seiner eigenen Identitätsbildung und -findung bietet sich auch als Modell an für andere Varianten von historisch-gesellschaftlichen Fremdbestimmungen, denn nur als solche erkennt Améry den Juden in sich. Amérys Judesein definiert sich einzig über die Nürnberger Rassengesetze von 1935. Die Auschwitznummer ist ihm, dem »Katastrophenjuden«, zur Grundformel seiner jüdischen Existenz geworden, sie sei aussagekräftiger und lese sich kürzer als der Talmud.
Aber das Negativum Jude, dieser Tote auf Abruf, der an einer »schleichende(n) Krankheit« leidet, diese Fremdheit in der Welt lässt Améry in ein Positivum umschlagen. Jean Améry nimmt den Urteilsspruch der Geschichte an mit dem Entschluss, ihn in der Revolte zu überwinden. Selbst im Zustand der Todesdrohung widersetzte er sich in Auschwitz-Monowitz dem Häftlingsvorarbeiter Juszek. Ihn schlug Améry in offener Revolte zurück: »Meine Würde saß als Faustschlag an seinem Kiefer – und dass am Ende ich, der körperlich viel Schwächere, es war, der unterlag, […] hatte keine Bedeutung mehr. Ich war schmerzhaft verprügelt, mit mir zufrieden.« Die Fatalität des Judeseins wird überwunden, nicht in der Verleugnung, sondern in der bewussten Annahme eines moralischen Auftrags, in der Verbündung mit allen Entrechteten und Unterdrückten. »Ohne das Gefühl der Zugehörigkeit zu den Bedrohten wäre ich ein sich selbst aufgebender Flüchtling vor der Wirklichkeit.«
Jean Améry wählt sich als Jude, er spricht der Dissimilation das Wort. Er verwandelt die Fremdbestimmung in Selbstbestimmung.
Eng verbunden mit dieser Selbstwahl ist Jean Amérys Verhältnis zu Israel. Wie mit dem Judesein waltet auch hier die Paradoxie zwischen Zwang und Unmöglichkeit: Das Land ist ihm fremd, kulturell und religiös, es ist ihm kein heiliges Land, und »dennoch ist das Bestehen dieses Staatswesens mir wichtiger als irgendeines anderen.« Sein Engagement für Israel sei ihm keine freiwillig eingegangene Verbindlichkeit, sondern schlicht eine »Sache der Existenz«. Die Virtualität dieses Staates sei so entscheidend für sein seelisches Gleichgewicht, dass ihm die Bedrohung Israels im Sechstagekrieg von 1967, dann im Jom-Kippur-Krieg zur höchstpersönlichen Bedrohung wurde. Unschwer sich vorzustellen, wie ihn der Krieg seit 2023 erst recht zutiefst gegrämt hätte. Und doch hält er an dieser Einsicht fest: »Es verhält sich ganz schlicht so«, erklärt er in Der ehrbare Antisemitismus, »dass das Bestehen eines Judenstaates, dessen Bewohner nicht nur Kaufleute, sondern auch Bauern sind, nicht nur Intellektuelle, sondern auch Berufssoldaten, nicht ›Wucherer‹, vielmehr in ihrer Majorität Handwerker, Industrie- und Agrarproletarier, alle Juden den aufrechten Gang wieder gelehrt hat.« Mehr noch, Israel sei nicht nur das Land, in der der Jude sich nicht mehr im Sinne Sartres das Eigenbild vom Feinde aufprägen lassen müsse, es sei bis zum heutigen Tag das Land für alle beleidigten Juden der Welt.
Mit dieser Überzeugung setzte er sich, der sich nur als Mann der Linken denken konnte, zwischen alle Stühle; die Rechten schimpften ihn einen Kommunisten, die Linken einen Renegaten, dem Kulturbetrieb wurde er als Selbstdenker nun suspekt. Der Medienliebling stürzte ab, noch nie war er so isoliert, noch nie hatte er sich so allein gelassen gefühlt. Wir befinden uns im Zeitabschnitt 1969–1976. Weder die alte noch die neue Linke wusste etwas mit ihm anzufangen. Denn kein Konflikt macht die Diskrepanz, die zwischen Améry und der Linken aufbrach, so anschaulich, wie ihr respektives Verhältnis zu Israel. Die Stichdaten in Israels Geschichte forderten ihn zu einem erbitterten Schlagaustausch auf: Der schon erwähnte Sechstagekrieg von 1967, die palästinensischen Attentate auf die israelischen Sportler bei der Münchner Olympiade von 1972, der Jom-Kippur-Krieg von 1973 und schließlich die Ereignisse um Entebbe von 1976.
Vom ehrbaren Antisemitismus ist die Rede, »ehrbar« als ironische Pointe, denn wie sollte Antisemitismus jemals ehrbar sein? Es geht um den linken Antisemitismus, der sich, so Améry, als Antizionismus tarnt. Die Studentenrevolution in Frankreich verursacht den Fall de Gaulles, in ganz Europa erhebt sich die Jugend gegen den Vietnamkrieg, in Deutschland erstarkt die APO – Améry spricht die Jugend Deutschlands in all seinen Schriften direkt an, »die bildsame […] und nach Utopia strebende, also: die linke.« Schon 1961, am Ende von...
Erscheint lt. Verlag | 13.1.2024 |
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Vorwort | Irene Heidelberger-Leonard |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie |
Schlagworte | Antisemitismus • Antizionismus • Ausgrenzung • Feindbilder • Gewalt • Israel • Judentum • Religion • Spaltung |
ISBN-10 | 3-7681-9829-4 / 3768198294 |
ISBN-13 | 978-3-7681-9829-5 / 9783768198295 |
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Größe: 3,3 MB
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