Narzissmus (eBook)
168 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7568-4935-2 (ISBN)
geb. 1962 in Dortmund, Psychonom, eremitierter Universaldilattant
EINLEITUNG
Zumindest theoretisch kann man Narzissmus unter drei verschiedenen Perspektiven betrachten, nämlich der
- geläufigen individuellen,
- sozial-psychologischen, und der – uns bisher weitgehend fremden –
- kultur-historischen.
Aber um Narzissmus vollständig zu verstehen, ist die Wahrnehmung aller drei Perspektiven in ihren Wechselwirkungen notwendig.
Die sozial-psychologische Perspektive wurde bereits in dem Buch “Symbiotischer Narzissmus als Gruppenphänomen” von Dr. Ganz und mir (Schmidt, B.; Ganz, A. 2017) ausführlich behandelt.
In diesem Buch sollen deshalb vor allem die kultur-historische Perspektive erst einmal eingeführt, und dann die individuellen Ausprägungen von Narzissmus unter dieser betrachtet werden. Denn es sind die vergangenen zweitausend Jahre unserer Geschichte, die nicht nur ein zentrales Problem unserer Selbstwahrnehmung erschaffen, sondern zugleich die Lösung des Problems bisher verhindert haben.
Es ist das Problem des aus dieser Entwicklung entstandenen Be-Deutungs-Rahmens (Frame of Meaning) eines Wir-losen (Norbert Elias), Kultur- und Körper-losen ICHs (Schmidt, B. 2020b), welcher nicht nur Problem ist, sondern zugleich die Lösung mittels einer kultur-historischen Betrachtung bisher verhindert hat.
Es ist das Dogma, dass sich das ICH aus sich selber heraus, ursprünglich von göttlicher Macht eingehaucht, entwickelt.
Dass das ICH, als Seele oder Geist, unabhängig ist vom Körper, unabhängig vom sozialen Umfeld, und der dieses soziale Umfeld formende historischen Entwicklung innerhalb einer Kultur.
Dies zeigt sich gut am Begriff des Kindergartens, in dem die Kinder heranwachsen wie die Blumen im Garten. So benötigen die Blumen zwar Licht und Wasser um zu gedeihen, aber keine anderen Blumen. Und die Kinder erhalten eine schöne Umgebung, Lernmaterialien und Anregungen zu ihrer Entwicklung – die Bedeutung der sozialen Interaktion für die Entwicklung wird aber weitgehend übersehen.
Anders als Blumen, benötigen Kinder jedoch auch andere Kinder und auch Erwachsene. Sie benötigen die Interaktion mit diesen, um sich zu entwickeln, um zu wachsen. Soziale Interaktion lernt man nur … durch soziale Interaktion.
Und Kinder benötigen auch verstehbare (siehe das Kapitel über Ressourcen) Gruppenstrukturen, wie sie in Kindergärten immer häufiger gegen offene Strukturen mit „Bezugs-Erzieherinnen“ eingetauscht werden.3
Kultur wird zudem wahrgenommen als Ansammlung von Errungenschaften, die Menschen über die Jahrhunderte gemacht haben, so wie das Geld auf dem Konto oder die Waren in einem Lager. Dass Kultur ein aktiver Prozess ist, der nicht nur von den Menschen beeinflusst wird, sondern auf diese zurück wirkt, wurde bisher, zumindest in der westlichen Kultur, übersehen.
Es sind aber zum Beispiel die kulturell durchaus unterschiedlichen Entwicklungen von Schrift und Ziffern, die auch die Wahrnehmung des Menschen beeinflussen, wie Lev Vygotskij, einer der bedeutendsten russischen Psychologen, mit seinem kultur-historischen Konzept dargestellt hat (siehe z.B. Vygotskij, L.; Luria, A. 1993). Erst so wird auch eine Wahrnehmung der kulturell bedingten und auch unterschiedlichen Entwicklung von Narzissmus in verschiedenen kulturellen Kontexten möglich.
Ein weiteres Ziel ist es, durch diese kultur-historische Perspektive ein neues Licht auf die individuelle Perspektive zu werfen, und dadurch vermeintliche Widersprüche aufzulösen.
Das erste Problem, welches gelöst werden wird, sind die von z.B. Morf und Rhodewalt benannten vermeintlichen “Paradoxes of Narcissism”, hier im Bereich der individuellen Perspektive.
“This may be the ultimate “narcissistic paradox”: as they yearn and reach for self-affirmation, they destroy the very relationships on which they are dependent.”
(Morf, C.C.; Rhodewalt, F. 2001)
Narzissten sind, wie im Folgenden dargestellt werden wird, die Könige in ihrem eigenen, von ihnen selbst geschaffenen Reich, in dem es keine Freunde, sondern nur Vasallen gibt.
Mitmenschen werden immer nur als Mittel, niemals als Zweck ihrer selbst betrachtet4. Für Narzissten existiert nicht der Unterschied zwischen Freund oder Feind, sondern nur der zwischen emotional und/oder wirtschaftlich abhängigem Vasall oder Feind.
So existiert niemals eine Beziehung im Sinne von Morf und Rhodewalt, die zerstört werden könnte.
Das zweite zu lösende Problem ist die Frage nach der kulturellen Grundlage von Narzissmus, wie u.a. bei Lasch (1980), Wolfe (1976) und Tyler (2007) diskutiert.
Der Fehler, der zu einem tiefgreifenden Missverständnis bei diesen Autoren führt, ist die unzureichende, weil statische Charakterisierung/Definition von “Kultur”.
Doch sieht man die kulturell bedingte Entwicklung von Be-Deutungs-Rahmen (Frame of Meaning) (Schmidt 2018a), und die zunehmenden Freiheitsgrade innerhalb unserer Kultur, dann wird deutlich, dass unsere Kultur nicht narzisstisch ist, jedoch dem Narzissmus beste Entwicklungsbedingungen bietet.
3 Kultur und Krankheit
Was ist normal? Und was ist somit abnormal, krank, deviant? Liegt (psychische) Krankheit alleine im Individuum, oder wird Krankheit vor allem auch durch die Gesellschaft definiert, wie Benedict meint?
“Benedict argues that the psychological categories of “normal” and “abnormal” are not absolute but are defined by culture.
Anthropological research indicates that every kind of behavior that we, from the perspective of our Western European culture, consider abnormal, is considered normal (and even honored) in some other society.
“Normality” means the general way a given culture happens to live out one of the many possible patterns of human behavior; “abnormality” refers to patterns not adopted by a culture. Normality and abnormality, that is to say, are relative rather than absolute.” (Abel, D. in Benedict, R. 1934)
Ist der Narzissmus eines Individuums also einfach ein Teil und Folge einer (narzisstischen) Kultur, also normal? Oder handelt es sich doch um eine Krankheit, gibt es doch krankhafte Anteile innerhalb des Individuums?
Folgt man Benedict, dann wäre Narzissmus innerhalb einer narzisstischen Gesellschaft normal, also keine Krankheit.
“Most of those organizations of personality that seem to us most incontrovertibly abnormal have been used by different civilizations in the very foundations of their institutional life. Conversely, the most valued traits of our normal individuals have been looked on in differently organized cultures as aberrant. Normality, in short, within a very wide range, is culturally defined.” (Benedict, R. 1934)
Prinzipiell liegt der Betrachtung von Benedict der auch historisch entstandene dualistische Denkansatz eines „entweder – oder“ zugrunde (Schmidt, B. 2020b). Doch psychische Störungen stehen in einem wechselseitigen Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, werden durch beide bestimmt, wenn auch abhängig von der jeweiligen Störung in unterschiedlichem Umfang.
Zudem fehlt den Ausführungen von Benedict die kultur-historische Entwicklung einer Gesellschaft, wie von Lev Vygotskij beschrieben.
Zentrale Aussage des kultur-historischen Konzeptes ist, dass die ursprünglich biologische Entwicklung durch eine kulturelle weitergeführt bzw. ersetzt wurde.
Die kulturelle Entwicklung führt hierbei vor allem durch die Entwicklung von „kulturellen Hilfsmitteln“ wie Schrift und Zahl, zur Ablösung/Dekontextualisierung von der jeweils konkreten und aktuellen Situation.
„This principle, which I shall label the principle of decontextualization of mediational means, replaced those of Darwinian evolution after the emergence of culture. The decontextualisation of mediational means is the process whereby the meaning of signs become less and less dependent on the unique spatiotemporal context in which they are used. A fixius on the decontextualization of mediational means emerges repeatedly in Vygotsky's account of the sociocultural history of higher mental functions. For him it fulfilled the fundamental requirement of his genetic analysis that different explanatory principles apply to phases of development separated by a qualitative genetic transition.“ (Wertsch, J. 1985)
In Kulturen, die weder Schrift noch Wissenschaft entwickelt haben, in denen die Lösung von Problemen somit noch nicht von der Wirklichkeit gelöst, also dekontextualisiert wurde, sind für uns als irrational erscheinende Mythen und Verhaltensweisen vorwissenschaftlich, und somit innerhalb dieser Kulturen „normal“. Sie dienen der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, sind Versuche der Erklärung und Beherrschung derselben. Werden diese Verhaltensweisen aber in unserer alphabetisierten, wissenschaftlich geprägten Kultur gezeigt, wie z.B. von den „Querdenkern“, dann dienen diese der Wirklichkeitsverweigerung und sind als psychopathologisch zu betrachten. Der Unterschied in der Beurteilung von vordergründig gleichen Verhaltensweisen liegt also vor allem im Unterschied der jeweiligen kulturellen Entwicklung.
Ähnlich wird dies auch von Dörner und Plog (1984) gesehen, allerdings nur bezogen auf die Interaktion zwischen...
Erscheint lt. Verlag | 5.12.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Allgemeine Psychologie |
ISBN-10 | 3-7568-4935-X / 375684935X |
ISBN-13 | 978-3-7568-4935-2 / 9783756849352 |
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Größe: 277 KB
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