Kriegsgefangene (eBook)
240 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-30398-3 (ISBN)
35 Millionen Soldaten gerieten während des Zweiten Weltkriegs in Gefangenschaft, darunter elf Millionen Deutsche. In einigen Familien werden bis heute Erzählungen über die Zeit im Lager weitergegeben, in anderen gibt es nur vages Wissen über das, was Väter, Großväter oder Urgroßväter erlebten. Öffentlich fand das Schicksal der Kriegsgefangenen lange Zeit kaum Beachtung.
Historiker und SPIEGEL-Autorinnen erzählen in diesem Buch die Geschichten dieser vergessenen Soldaten des Zweiten Weltkriegs, der deutschen Kriegsgefangenen wie jener, die von den Deutschen gefangen genommen wurden. Sie forschen nach, welche Folgen die Gefangenschaft für die Einzelnen aber auch für die Gesellschaft hatte, welche Narrative sich um das Thema entwickelten - und wie diese bis heute nachwirken.
- Der lange Schatten der Lager: Wie die Erfahrung der Kriegsgefangenschaft deutsche Familien bis heute prägt
- Von den Rheinwiesen bis Sibirien und der »Heimkehr der Zehntausend«: Was deutsche Soldaten in der Gefangenschaft unter den Alliierten erlebten und wie diese Zeit Nachkriegsdeutschland prägte
- Vergessene Kriegsverbrechen: Wie alliierte Soldaten in deutscher Kriegsgefangenschaft litten
- Mit vielen Überblicksdarstellungen, Porträts und Berichten von Zeitzeugen
- Für Leser*innen von Sabine Bode, Ian Kershaw und Antony Beevor
- SPIEGEL-Marketing
TISCHGESPRÄCHE UND GUTENACHTGESCHICHTEN
Kriegsgefangenschaft hinterlässt Spuren – auch in den Familien. Manchmal braucht es mehr als eine Generation, um die Erfahrungen zu vergessen. Eine autobiografische Aufzeichnung
Von Harald Justin
Nicht einen Moment in seinem Leben endeten die Haftjahre meines Vaters mit dem Tag, als er aus der Gefangenschaft entlassen wurde. Er geriet in sowjetische Kriegsgefangenschaft, und er saß nach Kriegsende in Bautzen ein. Trotzdem ist das nicht allein seine Geschichte. Es ist die Geschichte der Nachwirkungen eines Krieges auf die folgende Generation.
Die Erzählungen meines Vaters, Rolf Justin, geboren 1927 in Schwerin, verstorben im Jahr 2000, sind unauflösbar mit meinen Erinnerungen an ihn verbunden. Dunkle Jahre der Haft verbinden uns.
Der Schriftsteller Jorge Luis Borges meinte, dass Wahrheit nicht das ist, was geschah, sondern das, von dem wir glauben, dass es geschah. Es gibt die Geschichtsschreibung, das, was in Büchern steht, das, was die Forschung festhält. Und es gibt die Geschichten, die man sich in Familien erzählt über die Vergangenheit. Geschichten, die nicht immer identisch sind mit jenen der Historiker, sondern die ein Eigenleben entwickeln durch Erfahrungen, Erinnerungen, durch das Leben. So wie die Geschichte meines Vaters.
Jüngst hat Ann-Kristin Kolwes sich der Frage nach den Frauen und Kindern deutscher Kriegsgefangener angenommen. Im Fokus ihrer Untersuchung stehen Soldaten, die verheiratet und Väter waren, als sie während des Krieges in Gefangenschaft gerieten. Deshalb kennen wir die Briefe der Ehefrauen, die ihren gefangenen Männern schrieben, dass sie ihre Rückkehr sehnsüchtig erwarten, um ihnen und den Kinder wieder »Mutti und Muschi« sein zu können.
Bekannt sind Bittbriefe von Kindern an Politiker, sich für die Freilassung ihrer Väter einzusetzen, um die alleinerziehende Mutter zu entlasten. So schrieb Christa J.: »Meine Mutti kommt des Abends immer sehr müde von der Arbeit … Sie kann uns dann nicht mehr bei unseren Schularbeiten helfen … Dann ist sie auch so mit den Nerven fertig, dass sie uns auch deswegen nicht helfen kann. Sie macht sich so sehr viel Sorgen, weil mein Vati immer noch nicht da ist und wir auch nicht wissen, wann er kommt.«
Wir sind informiert über die finanziellen und psychischen Nöte der Frauen und Kinder, wissen zudem, dass, je nach politischer Großwetterlage, die Gefangenen im Westen zu Opfern des Kommunismus, im Osten hingegen zu Kriegsverbrechern stilisiert wurden. Mit der Rückkehr der letzten Internierten aus der Sowjetunion 1956 endet dieser Teil der Geschichte. Sie ist nicht die meine.
Meine Geschichte begann genau in diesem Jahr, mit meiner Geburt. Die Jahre, in denen mein Vater interniert war, begannen lange vorher. Ich habe ihn deshalb nicht vermissen können. Meine Mutter musste nicht bange Jahre des Wartens überstehen. Sie lernten sich erst nach der Haft kennen. Mir winkte die Gnade der späten Geburt großzügig zu. Meine Geschichte ist eine Nachkriegsgeschichte.
Meine ersten Erinnerungen an die Kriegsgefangenschaft meines Vaters handeln von mir als Wunschkind, hineingebettet in die Träume einer Generation, die den Nationalsozialismus und den Krieg überlebt hatte und sich nach einer besseren Zukunft sehnte. Es konnte nur besser werden.
Es gab als Haftfolge keinen Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch, diese Sorgen waren anderswo zu Hause. Der Vater eines Schulfreundes schlug volltrunken abends regelmäßig ihn und seine Frau, aber, so erklärte meine Mutter mir flüsternd, der habe den Krieg nicht vertragen. Normal.
Um Phantomschmerzen wegen im Krieg verlorener Gliedmaßen brauchte ich mich ebenfalls nicht zu kümmern. Der Uropa besuchte uns nur ein Mal, schnallte seine Beinprothese ab, zeigte den Stumpf und schrie vor Schmerzen die Nacht durch.
Eine Kriegsfolge, an der mitsamt einer schwärenden Wunde auch der Nachbar im Erdgeschoss litt. Seine Schreie gellten täglich durch das Treppenhaus, schwarz gekleidete Doktoren gingen ein und aus, strenger Arzneigeruch strömte aus der Wohnungstür. Kinderspiel sollte im Treppenhaus und vor dem Haus unterbleiben.
Eine Nachkriegsfolge halt, so wie das Trümmergrundstück, auf dem wir Stadtkinder spielten, Waffen und Helme fanden. Krieg? Weit weg und zugleich so nah wie die drei Kriegerwitwen im Haus, die mich abwechselnd beaufsichtigten.
Tremor und Traumataerscheinungen? Unter denen litt der deutlich ältere Vater meines Schulfreundes. Wir Kinder machten uns einen Spaß daraus, »Stalingrad« zu rufen und zu sehen, wie der uns fremde Mann zu weinen begann und das Zittern bekam.
Bei uns gab es keine Sensationsgeschichten von Knochenfraß, Alkoholexzessen, Mord und Totschlag. Es war nicht alles Drama.
Stattdessen gab es Alltag. In ihm wurden die Schrecken der Haft tradiert. Das Grauen behauptete sich in kleinen Dosen und sickerte über die Erzählungen meines Vaters tropfenweise in Knochen und Mark ein.
Seine Misere begann als Hitlerjunge. Die HJ-Zeit galt ihm als Fortsetzung jugendlichen Stromerns zwischen Cowboy- und Indianerspielen, so hat er es mir erzählt. Nach der Lehre meldete er sich umgehend zum Kriegseinsatz. Pferde reiten im höheren Auftrag. Sein Vater, ein Sozialdemokrat, ohrfeigte ihn, als er mit dem Einberufungsbefehl nach Hause kam. »Für Hitler reitet man nicht.«
Mein Vater ritt und wurde eine Ecke später mitsamt dem Pferd niedergeschossen. Die erste Nacht in der Kälte überlebte er, weil er sich in den noch warmen Bauch des toten Pferdes reingeschnitten und versteckt hatte. Die Russen entdeckten den mit Gedärm und Blut Beschmierten, das war das Ende des Reitertraums und der Beginn seiner Kriegsgefangenschaft.
»Wo hat man dich erwischt? Hast du jemanden erschossen?«, fragte ich. »In welches Lager bist du gekommen?« Und ganz wichtig für das Kinder-Ich: »Hattest du Angst?« Die Antwort, an die ich mich erinnern kann, lautete: »Ich hatte keine Zeit für Angst. Ich musste mich um Wasser und Brot schlagen. Ich hatte nur einen Wunsch, meine Eltern noch einmal zu sehen. Es war so kalt.«
An diesen Abenden erahnte ich erstmals, was Liebe bedeuten kann. Wärme. Die Abwesenheit von Kälte, der Wunsch, sich noch einmal in den Armen zu liegen.
Aus der russischen Gefangenschaft gelang ihm die Flucht. 20 Jahre nach seinem Tod habe ich erfahren, dass er auf einem in Österreich gestohlenen Pferd in die Heimatstadt ritt. Was immer er in Russland durchlitten hatte, Zeit zur Heilung erhielt er nicht. Nur wenige Tage nachdem er in Schwerin angekommen war, wehrte er drei Rotarmisten ab, die seine Schwester zu vergewaltigen versuchten, als sie ihn heimlich mit Essen versorgte, so erzählte er es: »Dann musste ich nach Bautzen.«
Zu den dortigen Haftbedingungen heißt es im »Schwarzbuch des Kommunismus«, dass sie »ihren sowjetischen Vorbildern in nichts« nachstanden. »Als 1950 die DDR-Behörden die Zuchthäuser und Lager übernahmen, verschlimmerte sich die Lage mancherorts noch. So kam es am 13. und 31. März 1950 zu Hungerrevolten der 7 000 Häftlinge in Bautzen, die mit größter Brutalität niedergeschlagen wurden. Dort war die Sterblichkeit unter den Häftlingen durch Unterernährung und Tbc (Tuberkulose – Red.) so hoch, dass die Behörden sich Gedanken machen mussten, wie dies verheimlicht werden könne.« Jeder Überlebende war Zeuge unmenschlicher Haftbedingungen.
Aus Russland kam mein Vater als Antifaschist zurück. »Hitler hat mir meine Jugend gestohlen«, sagte er während einer seiner Gutenachtgeschichten. Ich hasste Jugendräuber schon, bevor ich den Rest der Geschichte kannte.
Mich wunderte, dass er den Russen keine Schuld gab. »Bist du böse auf die Russen?«, fragte ich. »Nein«, antwortete er, »das war eine gerechte Strafe für das, was wir ihnen angetan hatten. Wir haben ihr Land überfallen. Das war Unrecht.«
Die Lagerhaft in Russland verstand er als ausgleichende Gerechtigkeit. Die Jahre in Bautzen empfand er als Unrecht. Schließlich war er nur verhaftet worden, weil er seine Schwester beschützt hatte. Aus Bautzen kam er mit vermindertem Lungenvolumen zurück, die Tuberkuloseausbrüche hatte er mit halber Lunge überlebt. Er lernte dort, wie er mir bei jedem Schachspiel erzählte, Schachfiguren aus den Knochen toter Mithäftlinge zu schnitzen.
Diese Haft machte ihn zum Antikommunisten. Nach der Entlassung ging es umgehend 1951 zusammen mit meiner Mutter in den Westen. Dort waren die Tische besser gedeckt.
Und da saßen wir nun beim gemeinsamen Mittagessen. Koteletts, Kartoffeln, Gemüse. Die Bilderbuchfamilie litt nicht an Hunger, sondern hatte Appetit. Das Wirtschaftswunder ließ sich essen. Und dennoch setzte sich zu jeder Mahlzeit ein ungebetener Gast an den Tisch. Ein Schattenmann, der uns alle im Griff hatte.
Meine Mutter isst als 90-Jährige immer noch mit der Hast eines Flüchtlingskindes, dem der Hunger Fluchtbegleiter aus Königsberg (Kaliningrad) war. Schließlich konnte immer jemand kommen, der dem wehrlosen Mädchen das Essen wegnahm.
Rolf hingegen belud sich Löffel und Gabel mit Bedachtsamkeit. Langsam essend ging es ihm, über das bloße Hungerstillen hinaus, um das Ausnutzen des sich im kleinsten Bissen verbergenden Geschmacks. Jedes Mahl war ein Sieg über den Schattenmann, den dunklen Hungerkönig über Tod und Leid.
Meine Erinnerungen beginnen im dritten Jahr nach meiner Geburt. Als Kind war ich ein...
Erscheint lt. Verlag | 26.4.2023 |
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Zusatzinfo | mit Abbildungen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | 2023 • 2. Weltkrieg • Antony Beevor • Deutsche Nachkriegsgeschichte • eBooks • Eroberung • Geschichte • Ian Kershaw • Kriegsende • Kriegsgefangene • Kriegsopferfürsorge • Nachkriegsdeutschland • Nationalsozialismus • Neuerscheinung • Sabine Bode • Weltkrieg • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-641-30398-2 / 3641303982 |
ISBN-13 | 978-3-641-30398-3 / 9783641303983 |
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Größe: 2,4 MB
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