Entwicklungspsychologie: Von der Geburt bis zum hohen Alter (eBook)
334 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-040352-9 (ISBN)
Prof. Dr. Annette Boeger hat den Lehrstuhl für Entwicklungspsychologie am Fachbereich Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen inne. Sie ist approbierte Psychotherapeutin mit einer Ausbildung in Gesprächspsychotherapie und in systemisch-psychoanalytischer Familientherapie.
Prof. Dr. Annette Boeger hat den Lehrstuhl für Entwicklungspsychologie am Fachbereich Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen inne. Sie ist approbierte Psychotherapeutin mit einer Ausbildung in Gesprächspsychotherapie und in systemisch-psychoanalytischer Familientherapie.
2 Frühe Kindheit
Einleitung
Nie mehr entwickelt und verändert sich der Mensch im späteren Leben so stark wie in der frühen Kindheit, speziell in seinem ersten Lebensjahr. Nicht nur die körperliche Veränderung ist enorm: Allein das Körpergewicht verdreifacht sich innerhalb der ersten 12 Lebensmonate. Auch in den kognitiven, emotionalen und sozialen Bereichen vollziehen sich große Fortschritte und es zeigen sich bereits erstaunliche Kompetenzen. Einige dieser Kompetenzen werden im folgenden Kapitel dargestellt (▶ Kap. 2.1.2). Eindrucksvoll ist in dieser Lebensphase auch die Wechselwirkung zwischen Anlage und Umwelt. Deshalb ist diese Lebensphase entwicklungspsychologisch besonders interessant.
Die kognitive Entwicklung nach Piaget ist eine der bedeutsamsten Theorien der Entwicklungspsychologie; sie wird ergänzt um weitere wichtige Meilensteine der kognitiven Entwicklung (▶ Kap. 2.3): Ab wann können sich Kinder in die Gedanken und Gefühle anderer einfühlen und in welchen Schritten verläuft die Sprachentwicklung? Denkprozesse sind nicht zu trennen vom sozial-emotionalen Kontext, der ebenfalls erläutert wird (▶ Kap. 2.4): Emotionen entstehen und finden ihren Ausdruck in Interaktion mit wichtigen anderen Personen. Ein weiterer Meilenstein der emotionalen Entwicklung ist die Entwicklung von Bindung im ersten Lebensjahr (▶ Kap. 2.5): Eine gelungene Bindungsentwicklung stellt eine wichtige Ressource im Leben dar.
Die Bindungstheorie ist eine einflussreiche Theorie. Sie hat Auswirkungen auf wichtige andere Gebiete der Psychologie wie etwa auf die Klinische Psychologie, die Psychotherapie und die Empathieforschung. Sie ist eine sehr gut erforschte Entwicklungstheorie, die Experimente, Testverfahren, Längsschnittstudien und interkulturelle Vergleiche vorweisen kann. Auch aus diesem Grund wird die Bindungstheorie beispielhaft für eine entwicklungspsychologische Theorie der frühen Kindheit vorgestellt.
2.1 Die frühe Kindheit
Die frühe Kindheit umfasst die pränatale Zeit und die ersten zwei bis drei Lebensjahre. Diese Zeitspanne heißt in der englischsprachigen Fachliteratur Infancy. Der Begriff kommt aus dem Spanischen und meint die Zeit des noch sprachlosen Kindes (Rauh, 2008, S. 149).
Jahrhundertelang war das Überleben eines Neugeborenen ein großer Glücksfall. So erreichte z. B. von den 1865 in Berlin geborenen Kindern kaum die Hälfte das fünfte Lebensjahr. Von den 1910 geborenen Kindern verstarben etwa 20 % in den ersten Lebensjahren. Erst mit Fortschritten in der Medizin sank die Säuglingssterblichkeit in den meisten industrialisierten Ländern und liegt in den letzten Jahren unter 1 %. Eingerechnet sind Kinder mit erheblicher Frühgeburt, die bis vor kurzem noch gar keine Überlebenschance gehabt hätten. In den Industrienationen ist damit nicht mehr das Überleben das Problem, sondern die Optimierung von Entwicklung. In weiten Teilen der Welt, in den Entwicklungsländern und in Kriegsregionen, sieht das leider immer noch anders aus.
2.1.1 Vorgeburtliche Phase und Geburt
Wann beginnt menschliche Entwicklung? Mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Deshalb fängt das vorliegende Kapitel mit der Entwicklung im Mutterleib an.
Die Schwangerschaft, also die Zeit von der Konzeption bis zur Geburt, heißt auch Gestationszeit und beträgt 40 Wochen. Auf die ersten zwei Lebenswochen, in denen sich die befruchtete Eizelle in die Gebärmutterwand eingenistet hat, folgt das Embryonalstadium (von der dritten bis achten Woche). In dieser Zeit entwickeln sich die Körperstrukturen und die inneren Organe. Danach spricht man vom Fötus. Das Fötalstadium reicht von der neunten Woche bis zur Geburt. In dieser Zeit macht das Gehirn große Wachstumsschübe, das zentrale Nervensystem differenziert sich, die Organe nehmen ihre Funktionen auf (▶ Abb. 2.1). Jedes Organ und jede Struktur hat eine sensible Phase, in der ihre Entwicklung gestört werden kann (▶ Abb. 2.2). Der Fötus entwickelt motorische Aktivität; er ist früher aktiv als es die Mutter bemerkt, nämlich bereits in der achten Woche. Ab der zehnten Woche berührt er sein Gesicht mit der Hand, ab der 12. Woche räkelt, gähnt und streckt er sich. Ab der 14. Woche zeigt sich ein Zyklus von Wach- und Ruhephasen.
Exkurs: Geschlechtsdifferenzierung
Das Geschlecht eines Kindes wird durch das Sperma des Vaters bestimmt. Ein weiblicher Embryo hat die Geschlechtschromosomenkombination XX, ein männlicher XY. Die geschlechtstypische Ausbildung der Organe und des Gehirns werden durch die Hormone der Mutter und die Hormone, die das Kind selbst produziert, gesteuert. Vom zweiten bis vierten Monat bilden sich die genitalen Geschlechtsmerkmale. Die Hormone haben auch Einfluss auf die Ausbildung der Gehirnstrukturen. Bis zum fünften Monat werden die neuronalen Grundlagen für die Reproduktionsfunktion und die sexuelle Orientierung und bis zum siebten Monat für geschlechtstypisches Verhalten gelegt. Kinder werden nicht geschlechtsneutral geboren. Trotzdem werden Verhalten, Einstellungen, auch das biologische Erscheinungsbild anschließend durch kulturelle Einflüsse, Erziehung und Sozialisation erheblich geformt.
Abb. 2.1:Die pränatale Entwicklung nach Moore & Persaud (1993, S. 5 ff.)
Abb. 2.2:Die pränatale Entwicklung der Organe und Strukturen (nach Berk, 2011, S.110)
Schädigende pränatale Einflussfaktoren nennt man Teratogene. Sie schädigen physisch und psychisch. Folgende Teratogene sind verbreitet:
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Alkohol und Drogen
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Rauchen
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Spezifische Medikamente
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Umweltgifte, Strahlenschäden
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Infektionskrankheiten der Mutter
In der frühen Schwangerschaft schädigen Teratogene Körperstrukturen, d. h. Organe oder Extremitäten. In der späteren Schwangerschaft schädigen die Teratogene nicht mehr die äußeren Strukturen, sondern die körperlichen oder psychischen Funktionen. Die Effekte sind dann z. B. Intelligenzminderungen oder Verhaltensstörungen.
Auch psychischer Stress der Mutter wirkt sich auf den Fötus aus. Eine Reihe von Forschungsergebnissen konnte nachweisen, dass Föten von gestressten Frauen körperlich aktiver waren als Föten von nicht gestressten Frauen (Di Pietro, 2012). Die höhere Aktivität wird vermutlich durch die Hormone Cortisol und Adrenalin bewirkt, die von den Müttern ausgeschüttet werden. Psychischer Stress hinterlässt sogar Spuren im Erbgut, wie Experimente zeigten (▶ Kap. 1.3.4). Dass durch die Umwelt (Mutterleib) Erbgut beeinflusst und verändert werden kann, gehört in den Bereich der Epigenetik.
Auch körperliche Zustände der Mutter können sich im Erbgut des Fötus verankern, wie eine Längsschnittstudie (▶ Exkurs) nachweisen konnte (Spork, 2014, S. 129 ff.; S. 150 ff.).
Exkurs: Hunger hinterlässt Spuren im Erbgut
Während des 2. Weltkriegs, im Oktober 1944, blockierten die Deutschen die Nahrungsmitteltransporte in die Niederlande. Ca. 20.000 Menschen verhungerten. Bis heute begleitet und untersucht die Forschung die Kinder, die im Hungerjahr 1945 geboren wurden. Sie fand heraus, dass diese Kinder im Erwachsenenalter ein anderes Gesundheitsprofil hatten als ihre Geschwister, die keinen Mangel im Mutterleib erlitten hatten. So konnte man feststellen, dass das Diabetesrisiko bei ihnen um 50 % erhöht war sowie ihr Blutdruck und das Übergewichtsrisiko. Welche Erklärung gibt es dafür? Besonders in den ersten Monaten ist der Fötus sehr empfindlich. Schon leichte Irritationen im Stoffwechsel haben lebenslange Auswirkungen auf die Gesundheit. Der im Mutterleib erworbene, auf Hunger eingestellte Stoffwechsel (wenig Zuckerverbrauch) schadet den jetzt erwachsenen Kindern. Sie verbrauchen zu wenig Zucker. Dieser verbleibt im Blut und führt zum Diabetes.
Die Geburt ist ein einschneidendes Ereignis für das Neugeborene, der plötzliche Umgebungswechsel verlangt eine komplizierte Umstellung und Neuanpassung. Er muss selbstständig atmen, Nahrung aufnehmen und verarbeiten, seinen Kreislauf aktivieren und die Körpertemperatur regeln. Unmittelbar nach der Geburt wird diese komplexe Anpassungsleistung des Säuglings untersucht und mit Hilfe des Apgar-Index eingeschätzt (▶ Tab. 2.1). Ein Apgar-Testwert ab 7 spiegelt eine gute körperliche Verfassung wider, bei Werten zwischen 4 und 6 braucht das Neugeborene Hilfe in Bezug auf Atmung und andere wichtige Funktionen. Bei einem Wert unter 3 müssen Notfallmaßnahmen eingeleitet werden (Berk, 2011,...
Erscheint lt. Verlag | 5.10.2022 |
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Zusatzinfo | 6 Tab., 37 Abb. |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Entwicklungspsychologie |
Schlagworte | Entwicklung • Psychologie • Studienbuch |
ISBN-10 | 3-17-040352-4 / 3170403524 |
ISBN-13 | 978-3-17-040352-9 / 9783170403529 |
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