Die Betroffenen (eBook)

Seelische Leidensräume in der Katholischen Kirche
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
232 Seiten
Echter Verlag
978-3-429-06583-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Betroffenen -  Martin Flesch
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Die Analyse der missbräuchlichen Strukturen in der Katholischen Kirche lenkt derzeit den Fokus hauptsächlich auf sexuellen Missbrauch, der durch Mitglieder der Institution verschuldet wurde. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch in erschreckendem Ausmaß, dass ein ganzes Spektrum von Leidensräumen existiert, die sich auf vielfältigen Ebenen ausdrücken und nahezu alle kirchlichen Bereiche betreffen. Es ist deshalb Zeit, dass die Betroffenen zu Wort kommen. In diesem Buch beschreiben Missbrauchsopfer ihre Schamverletzung, ihr oft bodenloses Leiden und die Auslöschung ihrer seelischen Strukturen. Es nimmt die Täterpersönlichkeiten aber analytisch ebenso in den Blick wie die Betroffenen selbst.

Dr. med. Martin Flesch, ist selbstständiger Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie mit dem Schwerpunkt Forensische Psychiatrie in eigener Gutachterpraxis. 2014 gliederte er eine Sozialpsychiatrische Migrationsambulanz seinen Praxisräumen an.

Dr. med. Martin Flesch, ist selbstständiger Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie mit dem Schwerpunkt Forensische Psychiatrie in eigener Gutachterpraxis. 2014 gliederte er eine Sozialpsychiatrische Migrationsambulanz seinen Praxisräumen an.

DIE EINSAMEN –


Austritt als Prävention?


KASUISTIK 1:


GEORG (39 Jahre)


Anamnese:


Als sich GEORG bei uns vorstellte, war er 39 Jahre alt, verheiratet, Vater von zwei Töchtern im Alter von 12 und 15 Jahren. Er arbeitete als selbstständiger IT-Berater für Logistikunternehmen. Zwei Jahre zuvor trennte sich seine Ehefrau von ihm. Die der Scheidung vorausgehende räumliche Trennung erwirkte, dass er als Familienvater mit den Kindern zunächst noch im eigenen Einfamilienhaus verblieb. Nach der ausgesprochenen Scheidung verzogen die beiden Töchter zu ihrer Mutter. Etwa zwölf Monate später lernte GEORG während seiner Projektarbeit für ein Unternehmen eine neue Partnerin kennen, es ergab sich rasch eine neue Beziehung, die er als tragfähig und belastbar erlebte. Nach der standesamtlichen Trauung zog die neue Partnerin auch im Hause GEORGS ein. Bis zu diesem Zeitpunkt fühlte sich GEORG im Schoß der Katholischen Kirche geborgen, blieb im Gemeindeleben integriert und versah regelmäßig Lektorendienste, half als Kommunionhelfer aus und engagierte sich im Pfarrgemeinderat. Nachdem sich herumgesprochen hatte, dass er zum zweiten Mal verheiratet war, mehrten sich kritische Stimmen in seinem katholischen Sozialisationsfeld.

Zu diesem Zeitpunkt erfolgte die Vorstellung in unserer Praxis. GEORG berichtete im Rahmen seiner Erstexploration über Gefühlsschwankungen, über Freudlosigkeit, depressive Symptome, Schlafstörungen und Konzentrationsschwierigkeiten am Arbeitsplatz. Besonders beeinträchtigt fühlte er sich jedoch durch sich langsam einschleichende Kontrollhandlungen, die er im Tagesablauf als unsinnig empfand, den Impulsen musste er jedoch stets – gleichsam einem inneren Zwang – nachgeben. So kontrollierte er unaufhaltsam Elektrogeräte, Lichtschalter, bereits gelöschte Kerzen und versah anhaltend Kontrollgänge im Haus. Tat er diese nicht, litt er unter unerträglichen Ängsten, ohne benennen zu können, worauf sich diese tatsächlich bezogen. Im Laufe der Behandlung stellte sich dann heraus, dass GEORG unter ihn stark belastenden Schuldgefühlen litt, die er sich nur ansatzweise erklären konnte. Nach mehreren therapeutischen Sitzungen kam GEORG auf ein Ereignis zu sprechen, welches etwa vier Monate seiner ersten Vorstellung in der Praxis vorausging und welches er mit den Schuldgefühlen in Verbindung brachte. GEORG war nunmehr bereit, über dieses Ereignis zu sprechen.

Erfahrungsbericht:


Therapeut: Sie hatten vor zwei Wochen angekündigt, über ein für Sie bedeutsames Ereignis sprechen zu wollen, welches Sie mit Ihren Schuldgefühlen in Verbindung bringen. Wollen Sie daran anknüpfen?

GEORG: Es war ein Schock für mich. Es hat mich nicht nur persönlich erschüttert, sondern auch meine Einstellung zur Katholischen Kirche enorm in Frage gestellt. Ich habe in den zurückliegenden Jahren viel wegstecken müssen, aber so etwas ist mir im kirchlichen Bereich noch nie passiert. Mein Glaube und meine Spiritualität waren für mich immer mit dem Empfang der Sakramente verbunden. Das ist für mich der zentrale Punkt meines religiösen Lebens. Dazu gehört für mich auch der Empfang des Bußsakraments, die Beichte. In meinem Familienleben gab es viel Konfliktmaterial, viel Streit und dann schließlich die Trennung. Da sah ich auch meinen eigenen Anteil, ich fühlte mich schuldbehaftet. An diesem Tag entschloss ich mich zur Beichte. Nach meiner persönlichen Vorbereitung betrat ich den Beichtstuhl. Ich hatte mir vorgenommen, dem Priester kurz meine Vorgeschichte, meine aktuelle Situation und den Grund meiner Schuldgefühle darzulegen (GEORG schluckt mehrmals, bricht ab, wendet sich zur Seite, berichtet mit erstickter Stimme, den Tränen nahe, weiter) … Pause.

Therapeut: Was geschah in diesem Moment?

GEORG: Soweit kam ich erst gar nicht. In dem Augenblick, als ich berichtete, dass ich zum zweiten Mal verheiratet bin, unterbrach mich der Priester ganz abrupt. Er sagte: „Moment, Moment, Sie sind wieder verheiratet?“ Als ich dies bejahte, unterbrach er mich wiederum sehr unwirsch und erklärte, dass er mich dann nicht lossprechen könne. Er äußerte, ich lebte in struktureller Unordnung, sozusagen in Sünde, da könne er nichts machen. Er könne mich lediglich segnen, aber nicht lossprechen. Ich wollte dann zu einer Gegendarstellung ansetzen, er aber ließ mich gar nicht zu Wort kommen, sondern meinte, auch in seinem familiären Umfeld gebe es „solche Fälle“, da würde er genauso handeln, da bräuchte keiner zu ihm zur Beichte zu kommen. Er könne nichts machen …

Therapeut: Wie haben Sie die Situation für sich gelöst?

GEORG: Es gab keine Lösung. Ich fühlte eine ohnmächtige Wut in mir aufkommen. Ich fragte den Priester nach Barmherzigkeit, nach seiner eigenen Lebenssituation. Ob er selbst noch nie der Barmherzigkeit bedurft habe? Er antwortete überhaupt nicht, er sagte nichts mehr. Er fragte mich, ob ich den Segen wolle. Ich bin dann wutentbrannt aufgestanden und habe den Beichtstuhl deutlich hörbar verlassen, ebenso die Kirche. Ich war wütend, frustriert, enttäuscht …

Therapeut: Wie ging es weiter?

GEORG: Zunächst habe ich versucht, dieses Erlebnis zu verdrängen. Ich sah mich im Rahmen meines kirchlichen Engagements in der Gemeinde, ich konzentrierte mich auf meinen Glauben, ich versuchte mir klarzumachen, was da eigentlich passiert war. Ich versuchte, das Ganze zu verdrängen. Das gelang aber nicht, meine Stimmung wurde zunehmend schlechter, zunächst nur phasenweise, dann intensiver. Ich konnte mich auf der Arbeit schlechter konzentrieren, geriet leichter in Streit mit meiner Partnerin, meine Lustlosigkeit im Alltag nahm stetig zu. Ich schlief schlechter, machte weniger Pläne. Nach einigen Wochen – ich hatte außer meiner Frau niemanden, mit dem ich konkret darüber sprechen konnte – spürte ich, dass ich von depressiven Gefühlen umfangen blieb. Als ich mich fragte, wie das zu erklären sei, wurde ich immer weiter auf meine Schuldgefühle zurückgeworfen.

Therapeut: Worauf bezogen sich die Schuldgefühle nach dem Zeitpunkt der missglückten Beichte?

GEORG: Ich fühlte mich ja vorher schon schuldig, an dem Familiencrash, an der Trennung, nahezu an allem. Nach der misslungenen Beichte wurde es noch schlimmer. Anstatt mir zu helfen, hatte mich der Priester durch seine Art, wie er mir gegenübertrat, fordernd, ohne Empathie, unwirsch zusätzlich in weitere Schuldgefühle gezwängt. Das war mir aber anfangs nicht so bewusst. Je depressiver ich wurde, desto unkonzentrierter und abgelenkter wurde ich. Nach einiger Zeit begann ich, ganz unsinnige Sachen zu machen, die ich früher bei mir nicht kannte. Ich bin von Natur aus sehr ordnungsliebend, früher wurde mir auch mal Pedanterie vorgeworfen. Jetzt tendierte ich aber zu Verhaltensweisen, derer ich mich schämte. Deswegen konnte ich zunächst hier darüber gar nicht sprechen.

Therapeut: Sie können sich in Ruhe überlegen, ob Sie hier darüber sprechen wollen.

GEORG: Jetzt muss ich sprechen. Ich fühle die alte Wut wieder, die mich damals im Beichtstuhl befiel, diese Ohnmacht, diese ohnmächtige Wut, die einen in der Kirche machtlos werden lässt. Ich glaube, „ausgeliefert sein“ ist der richtige Begriff. Wieso ist man eigentlich den Funktionsträgern in der Kirche so ausgeliefert? „Die“ können alles mit einem machen.

Jedenfalls, um zu meinen Handlungen zurückzukehren, ich fing an, zu Hause alles zu kontrollieren. Meine Frau und ich saßen abends bei Kerzenschein auf der Terrasse. Wir hatten zuvor gemeinsam gekocht. Nachdem wir zu Bett gehen wollten, ging ich wieder nach draußen, ich kontrollierte die Kerze auf der Terrasse, das Licht in der Küche, den Herdschalter, die Kerzen im Wohnzimmer, obwohl diese überhaupt nicht gebrannt hatten. Es blieb aber nicht bei diesem einzigen Male. Nachdem meine Frau schon schlief – ich hatte bereits Einschlafstörungen – stand ich erneut auf, machte die gleichen Kontrollgänge.

Therapeut: Sie meinten, diese Kontrollhandlungen seien mit der Zunahme ihrer Schuldgefühle verbunden gewesen?

GEORG: Ich kann es mir momentan nur so erklären. Jedenfalls spürte ich, dass die Haltung des Priesters mir gegenüber, nämlich, dass ich in schwerer Sünde lebte, langsam aber kontinuierlich Besitz von mir ergriff. Zunächst war es nur so eine fixe Idee, dann wurde eine Überzeugung daraus, schließlich fing ich an zu grübeln, und dann wurde diese fixe...

Erscheint lt. Verlag 1.9.2022
Verlagsort Würzburg
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie
Schlagworte Gewalt • Katholisch • Kirche • Missbrauch • Missbrauchsopfer • Sexueller Missbrauch • Trauma
ISBN-10 3-429-06583-6 / 3429065836
ISBN-13 978-3-429-06583-6 / 9783429065836
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