Zerborstene Zeit (eBook)

Deutsche Geschichte 1918 bis 1945
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
639 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-77661-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zerborstene Zeit -  Michael Wildt
Systemvoraussetzungen
14,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Deutschland zwischen 1918 und 1945 - ein Zeitraum von knapp dreißig Jahren, in dem gleich zweimal für Millionen Menschen eine 'neue Zeit' anbricht: 1918 nach dem Ende des verlorenen Ersten Weltkriegs und 1933 mit der Machtübernahme durch Adolf Hitler. Als eine 'zerborstene Zeit' schildert Michael Wildt diese Jahre in seiner grandiosen Darstellung, die die Ereignisstränge der 'großen' Geschichte mit den Erfahrungen und Lebenswelten der Zeitgenossen verbindet. Die Straßen Berlins in den Tagen der Novemberrevolution, das Ruhrgebiet 1923 während des Einmarschs der französischen Truppen, Varieté-Shows, die schwarze Community in Deutschland, Lemberg 1941 und Hamburg beim Bombenangriff am Altjahrsabend 1944 - das sind nur einige der Orte, an die Michael Wildt uns in seinem neuen Buch mitnimmt. Es entführt uns in Hinterhöfe, private Heime und Baracken, und es lässt Zeitzeugen wie Käthe Kollwitz und Victor Klemperer, aber auch den unbekannten katholischen Gastwirt oder die national gesinnte Lehrerin zu Wort kommen. Kein anderes Werk hat bislang das 'oben' und das 'unten' der Geschichte so intensiv in eine kollektive Erzählung überführt wie dieses faszinierende Panorama Deutschlands und der Deutschen im 'Zeitalter der Extreme'.

Michael Wildt ist Professor für Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und einer der besten Kenner der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts.

1.

Moskau – Washington – Berlin 1918


Demonstranten am 9. November 1918 in Berlin, Unter den Linden. (Fotograf: Otto Haeckel)

Am 12. November 1918 trat der Moskauer Sowjet zusammen und beschloss unter anderem, Agenten und Agitatoren nach Deutschland zu senden, um die Revolution dort zu unterstützen. Die feste Überzeugung, dass nur der Sieg proletarischer Revolutionen in Europa, allen voran in Deutschland, das Überleben der sowjetischen Regierung sichern würde, bestimmte sowohl das Handeln der bolschewistischen Führung als auch das von lokalen Parteigruppen. Zahlreiche Parteizellen und Gewerkschaftsvertretungen in Russland schickten Grußadressen an Karl Liebknecht und an die deutschen Arbeiter nach Moskau mit der Bitte, sie nach Berlin weiterzuleiten.[1]

Die russische Revolution, die im Februar 1917 begann und mit dem Sturz des Zaren unter Beweis stellte, dass die alten Mächte nicht mehr sakrosankt waren, beflügelte auch in Deutschland die Hoffnung, der Krieg könne nun ein Ende finden. Die sozialdemokratische Presse berichtete über den Aufruf des Petrograder Sowjet Ende März an die Völker der Welt, insbesondere an die deutschen Arbeiter, sich «vom Joch Eures halbautokratischen Regimes» zu befreien, sich nicht mehr «zum Werkzeug der Eroberung und Gewalttätigkeiten in den Händen von Königen, Grundbesitzern und Bankiers» zu machen und den Krieg zu beenden. Der Parteiausschuss der Mehrheitssozialdemokratischen Partei begrüßte Mitte Mai 1917 mit «leidenschaftlicher Anteilnahme den Sieg der russischen Revolution und das durch ihn entfachte Wiederaufleben der internationalen Friedensbestrebungen».[2] Das Geschehen in Russland, so ein Hamburger Polizeibericht aus dem April 1917, hätte seine Wirkung auf die Massen nicht verfehlt. Man höre doch des Öfteren, dass man es nur so machen müsse wie in Russland, dann würde alles bald anders werden.[3] In jenem Monat gingen in Berlin rund 300.000 Menschen auf die Straße, um gegen die Kürzungen der Brotration zu demonstrieren. Ähnliche Aktionen folgten in Leipzig, Braunschweig, Halle und Magdeburg. Zu Ostern gründete sich die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD), die sich wegen der Burgfriedenspolitik von der Mehrheitssozialdemokratie (MSPD) trennte und für ihre Antikriegspolitik regen Zulauf erhielt.[4] Der Militärstaat reagierte hart, verhaftete Streikführer und zog einige tausend Aktivisten als Soldaten zum Frontdienst ein.[5]

In diesem Kapitel stehen das Jahr 1918 und die Entwicklungen im Mittelpunkt, die zur Revolution Anfang November führten. Nicht nur in Deutschland, auch in den anderen europäischen Ländern traten die revolutionären Kräfte hervor, die, gestärkt durch die Revolution in Russland, den Krieg, dem Millionen Menschen zum Opfer gefallen waren, beenden und die Institutionen, die für den Krieg verantwortlich gemacht wurden wie das Militär, die Monarchien, die herrschenden Klassen der Kapitalisten und Großgrundbesitzer zu Fall bringen wollten.[6] Dabei darf nicht aus dem Blick verloren werden, dass – so widerstandslos «die Kronen auf das Pflaster rollten», wie es der USPD-Vorsitzende Hugo Haase formulierte – es dennoch die Konterrevolution gab. So unsichtbar sie angesichts der öffentlichen Präsenz der Revolutionäre erschien, so wirksam war sie im Hintergrund und so mächtig erwies sie sich im Januar 1919, wobei sie nicht nur die alten Eliten umfasste, sondern sich durchaus auf einen großen Teil der deutschen Gesellschaft stützen konnte.

Es geht in diesem Kapitel auch um Zeitstrukturen, unterschiedliche Zeiterwartungen und Zeitregime. Während es der Obersten Heeresleitung im September nach dem Scheitern der Sommeroffensive und dem alliierten Durchbruch an der Westfront gar nicht schnell genug gehen konnte, ein Waffenstillstandsangebot an den US-Präsidenten Wilson zu senden, glaubte Wilhelm II. bis in den November hinein, alle Zeit der Welt zur Verfügung zu haben. Für die Revolutionäre war es ungemein wichtig, den richtigen Zeitpunkt für den Aufstand zu finden, als im Oktober spürbar wurde, wie die Zeit drängte, wohingegen die SPD-Führung gerade noch rechtzeitig ihre Politik wechselte, um nicht von der revolutionären Erhebung aus der Zeit geschleudert zu werden.

Januarstreik


Der Sieg der Bolschewiki in St. Petersburg und Moskau im Oktober/November 1917 hatte jene russische revolutionäre Fraktion zur Macht gebracht, die, um freie Hand im Innern zu haben, einen Friedensschluss wollte. Der Waffenstillstand, der Anfang Dezember in Kraft trat, brachte dem Deutschen Reich die ersehnte Entlastung vom Zweifrontenkrieg. Die Bolschewiki wiederum hofften auf die Revolution in Europa und spielten bei den Friedensverhandlungen auf Zeit, was die deutsche Seite zum Anlass nahm, weiter militärisch vorzurücken und nicht-russische Nationalbewegungen, insbesondere in der Ukraine, zu unterstützen. Als die deutschen territorialen Forderungen immer maßloser wurden, brach Trotzki die Verhandlungen ab, woraufhin deutsche Truppen im Februar 1918 Minsk eroberten und ein unabhängiges Weißrussland proklamierten.

Der Wille zur imperialen Neuordnung Osteuropas unter deutscher Führung war unverkennbar, aber die bolschewistische Position zu schwach, dem entgegentreten zu können. Somit war die Anerkennung des Diktatfriedens unausweichlich; dennoch musste Lenin sein ganzes politisches Gewicht in die Waagschale werfen, um die sowjetische Führung zur Zustimmung zu bewegen. Er argumentierte, dass die russische Revolution um der Weltrevolution willen überleben müsse und man bald mit der deutschen Revolution rechnen könne, die den Vertrag dann obsolet werden ließe. Durch den Vertrag von Brest-Litowsk vom 3. März 1918 musste Russland etwa ein Drittel seiner städtischen Bevölkerung, fast alle nicht-russischen Gebiete des einstigen zaristischen Imperiums, eine Fläche etwa zweimal so groß wie das Deutsche Reich, 89 Prozent der Kohlebergwerke und 73 Prozent der Eisenindustrie abtreten. Dieser Diktatfrieden gegen Sowjetrussland fiel erheblich härter aus als der spätere Versailler Vertrag für Deutschland. Er offenbarte den unbeirrten imperialistischen Willen der Führung des Kaiserreichs und diskreditierte jede vorher bekundete Bereitschaft für einen Verständigungsfrieden.[7]

Bereits im November 1917 begann mit dem sowjetrussischen Friedensangebot eine neue Protestwelle der Arbeiterschaft in Deutschland. In Kundgebungen von USPD und MSPD in mehreren deutschen Großstädten mit Ebert und Scheidemann als Rednern forderten Tausende das Ende des Krieges. Nicht zuletzt die Furcht, ein Friedensabkommen mit der Sowjetregierung könnte wegen der maßlosen Forderung der deutschen Seite scheitern, löste Ende Januar erneut Massenstreiks aus, nachdem schon Mitte Januar bereits in Österreich ein Generalstreik, dem sich allein in Wien 100.000 Arbeiterinnen und Arbeiter anschlossen, die österreichische Regierung hatte zwingen sollen, radikale Kürzungen der Brot- und Mehlrationen zurückzunehmen.[8]

Die Massenstreiks in Deutschland, beginnend mit dem 28. Januar 1918, wurden von den gewerkschaftlichen Obleuten in den Betrieben organisiert, während sich die Gewerkschaftsführungen abseits hielten und kein Streikgeld zahlten. Allein in Berlin traten rund 400.000 Arbeiterinnen und Arbeiter, vor allem aus den Rüstungs- und Metallfabriken, in den Ausstand. Innerhalb weniger Tage breiteten sich die Streiks auch in anderen Industriestädten wie Kiel, Hamburg, Magdeburg aus, so dass schließlich über eine Million Menschen die Arbeit niederlegten und ein Bündel an Forderungen vortrugen: die ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln, ein Frieden ohne Annexionen auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Völker, das freie, gleiche, allgemeine Wahlrecht, ein Ende des Belagerungszustandes, die Freilassung der politischen Gefangenen und schließlich Pressefreiheit. Gleich am 28. Januar versammelten sich im Berliner Gewerkschaftshaus rund 500 Delegierte aus den bestreikten Betrieben, die sich den Namen «Arbeiterrat Groß-Berlin» gaben. Ein Aktionsausschuss von zehn Personen wurde gewählt, darunter auch eine Frau, Cläre Casper; hinzu sollten USPD und MSPD je drei Vertreter entsenden. Die Unabhängigen schickten Hugo Haase, Georg Ledebour und Wilhelm Dittmann und die Mehrheitssozialdemokraten, die den Anschluss an die Massen in Aktion nicht verlieren und zugleich mäßigend wirken wollten, sandten Philipp Scheidemann, Otto Braun und Friedrich Ebert.[9]

...

Erscheint lt. Verlag 26.1.2022
Zusatzinfo mit 12 Abbildungen
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Schlagworte 20. Jahrhundert • 2. Weltkrieg • Bombenkrieg • Deutsche Geschichte • Deutschland • Diktatur • Drittes Reich • Erinnerungen • Hitler • Käthe Kollwitz • Nationalsozialismus • Victor Klemperer • Weimarer Republik • Zeitalter der Extreme • Zeitzeugen • Zweiter Weltkrieg • Zwischenkriegszeit
ISBN-10 3-406-77661-2 / 3406776612
ISBN-13 978-3-406-77661-8 / 9783406776618
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,2 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich