Was der Schulmedizin fehlt (eBook)

Wie Placebos wirken, wie Zuwendung heilt, und warum die Evolution dafür verantwortlich ist
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2022 | 1. Auflage
224 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-27291-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Was der Schulmedizin fehlt -  Leander Steinkopf
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Wenn wir krank sind, zeigt unser Körper Symptome. Wir sind träge, müde, haben Fieber - die allseits bekannten Abwehrreaktionen unseres Organismus. Doch was, wenn diesen Krankheitsanzeichen noch eine andere Funktion zugrunde liegt, als nur gefährliche Erreger zu bekämpfen? Evolutionspsychologe Leander Steinkopf erklärt, welche Rolle menschliche Interaktion bei der Genesung spielt. Unsere Symptome sollen unseren Mitmenschen signalisieren, dass wir hilfsbedürftig sind. Erst, wenn wir Anerkennung für unser Leiden bekommen, können sie abklingen. Was wir daher brauchen, ist ein Gesundheitssystem, das diesem Heilungsprozess Rechnung trägt und die Arzt-Patienten-Beziehung ernstnimmt.

Das Buch erschien bereits 2018 unter dem Titel »Die andere Hälfte der Heilung« in gebundener Form im Mosaik Verlag.

Leander Steinkopf, Jahrgang 1985, ist promovierter Evolutionspsychologe. Er schreibt unter anderem für den Wissenschaftsteil der FAZ, hält Vorträge auf wissenschaftlichen Konferenzen und veröffentlicht seine Forschungsergebnisse in internationalen Journalen. Er lebt als freier Autor in München.

ERKENNBAR ERKÄLTET

STELLEN SIE SICH vor, Sie fangen sich eine Erkältung ein, einen Rhinovirus, das Übliche, so wie es vielen jedes Jahr wieder passiert. Ihr Körper setzt sich sogleich gegen diesen Eindringling zur Wehr. Er erhöht die Körpertemperatur, um ihm die Bedingungen zu erschweren und die eigene Immunabwehr zu begünstigen. Die Schleimproduktion in den Atemwegen wird verstärkt, um den Erreger nach draußen zu befördern, auch Husten und Niesen dienen dazu. Die typischen Symptome einer Erkältung sind also Verteidigungsreaktionen des Körpers.

Worüber wir uns üblicherweise beklagen, wenn wir erkältet sind, nämlich Husten, Schnupfen, Fieber, ist nicht das Werk des Virus, sondern die Antwort des Körpers auf den Virus, seine Art der Abwehr.1 Und nun, da Sie diese Verteidigungsreaktionen zeigen, würde man sagen, Sie sind erkältet. Kaum jemand würde sich die Mühe machen, einen Nachweis zu führen, dass da tatsächlich dieser Rhinovirus in ihren Körper eingedrungen ist; die Symptome sind Information genug, und andere Menschen werden ihr Verhalten danach ausrichten.

Stellen Sie sich vor, Sie gehen in diesem Zustand zur Arbeit. Sie besteigen morgens den fast vollen Bus, finden noch einen Fensterplatz. An der nächsten Haltestelle steigt eine attraktive Person ein und setzt sich auf den Gangplatz neben Ihnen. Sie würden nun gern ein Gespräch beginnen, aber Sie wissen, dass Ihre Stimme rau ist und Ihre Nase verstopft, deswegen verhalten Sie sich ruhig. Doch nun müssen Sie niesen und suchen nach einem Taschentuch. Die Person neben Ihnen bemerkt nun Ihr vom Fieber gerötetes Gesicht, die leicht glasigen Augen und wendet sich schon etwas ab. Und dann niesen Sie. Und wenn Sie dabei nicht Ihre Augen geschlossen hätten, würden Sie sehen, wie sich das Gesicht der Person neben Ihnen vor Ekel verzerrt. Sie können gar nicht mehr aufhören zu niesen. Ihr Sitznachbar sucht sich einen gemütlichen Stehplatz am anderen Ende des Busses. Sie wissen nicht, warum die Person aufgestanden ist, vermuten bloß, dass sie bei Ihrem Niesen Ekel empfand, vielleicht hatte sie den Gedanken, dass die Gefahr einer Ansteckung besteht, vielleicht auch beides. Wohlgemerkt hat diese Person keinen Virus gesehen. Was sie stattdessen gesehen hat – und gehört und vielleicht sogar gespürt –, sind Verteidigungsreaktionen Ihres Körpers. Ihr Fieber und Ihr Niesen waren die Informationen, nach denen die Person ihr Verhalten ausrichtete.

Sie sind nun in der Arbeit angekommen, Sie nicken Ihrem Kollegen am Schreibtisch gegenüber nur knapp zu, dann schauen Sie, was es heute zu tun gibt. Es stehen einige Telefonanrufe an, und Sie fragen sich, wie Sie das mit verstopfter Nase und rauer Stimme erledigen sollen. Sie seufzen, und davon müssen Sie husten. Ihr Kollege schaut auf, sieht Ihr gerötetes Gesicht und kommentiert Ihren Husten mit: »Das hört sich aber nicht gut an!« Er sagt Ihnen, dass Sie besser nach Hause gehen sollten und erst wiederkommen, wenn es Ihnen besser geht. Sie erzählen ihm von den unaufschiebbaren Telefonaten, die für heute anstehen, und er erwidert: »Kein Problem. Das übernehme ich für dich.« Auch Ihr Kollege hat keinen Virus gesehen, er hat Ihren Husten bemerkt, hat die Veränderung Ihrer Stimme gehört, die von der Entzündung und der erhöhten Schleimproduktion kommt, mit der Ihr Körper das Rhinovirus bekämpft. Wieder sind es Verteidigungsreaktionen des Körpers, die diesmal Ihrem Kollegen als Information dienen. Und er zeigt ein gewisses Verhalten aufgrund dieser Information. Er entbindet Sie von Ihren Verpflichtungen, nimmt Ihnen die dringende Arbeit ab. Das ist wirklich nett von ihm. Sie kennen einander auch schon sehr lange. Die fremde Person heute Morgen im Bus wandte sich einfach ab und ging, ohne ein Wort zu sagen.

Sie haben es sich zu Hause auf der Couch bequem gemacht, aber bequem fühlt es sich nicht an, denn Sie sind krank. Am frühen Abend kommt Ihr Partner nach Hause. Ihr Partner merkt sofort, dass etwas mit Ihnen nicht stimmt, denn normalerweise liegen Sie um diese Tageszeit nicht auf dem Sofa, zugedeckt mit einer Wolldecke. Dann klingt Ihre Stimme auch noch anders als sonst, und beim Versuch eines Kusses setzt der Husten wieder ein. Ihr Partner sagt: »Du bleibst hier liegen! Ich mache dir eine Kanne Tee, und während du sie trinkst, gehe ich in den Supermarkt. Du brauchst eine Hühnersuppe.« Ihr Partner hat nichts von dem Rhinovirus gesehen, aber die Verteidigungsreaktionen Ihres Körpers bemerkt, die Entzündung der Atemwege, den Husten, Ihre körperliche Schwäche. Und Ihr Partner nimmt das zum Anlass, sich um Sie zu kümmern. Sie sollen nur liegen bleiben, Ihr Partner macht Tee und später noch Hühnersuppe. Das ist sehr nett.

Sie liegen nun allein auf dem Sofa und denken über das Kranksein nach. Wären Sie nicht krank, die attraktive Person im Bus hätte nicht ihren Platz verlassen, Ihr Kollege im Büro hätte Sie nicht nach Hause geschickt und Ihre Arbeit übernommen, Ihr Partner hätte Ihnen nicht Faulheit verordnet und wäre nun nicht damit beschäftigt, Sie zu umsorgen. Ihr Kranksein ist eine wichtige Information für andere. Dabei haben sie den bösen Rhinovirus nicht einmal gesehen. Sie haben nur bemerkt, wie sich Ihr Körper gegen ihn verteidigt.

Jetzt schauen Sie an sich selbst hinunter, besser gesagt, Sie schauen an sich selbst entlang, schließlich befinden Sie sich schon eine Weile in der Horizontalen. Ja, Ihr Kranksein ist eine wichtige Information für andere, die ihr Verhalten darauf abstimmen. Aber als Erstes ist das Kranksein eine Information für Sie selbst. Und wie die anderen verändern auch Sie Ihr Verhalten. Allerdings müssen Sie sich dafür nicht niesen hören und im Spiegel betrachten, Ihr Körper kennt da direktere Wege. Da es nämlich eine Menge Energie braucht, um so einen Virus zu bekämpfen, spart der Körper an anderen Stellen. Sie werden träge, Sie verlieren die Lust an Aktivitäten, die Ihnen sonst Spaß machen, wie etwa Sex und Essen. Ihre Muskeln fühlen sich schwach an, damit Sie keine Lust haben, sie zu gebrauchen. Auch das Denken fällt Ihnen schwerer, sodass man es lieber lässt. Krankheit hat eine motivationale Komponente, würden Forscher sagen, aber diese motivationale Komponente ist vor allem demotivierend.2 Sie können sich damit trösten, dass Sie nicht allein sind. Dieses Programm aus Trägheit, Lustlosigkeit und Kraftlosigkeit wird kurz »Krankheitsverhalten« genannt, und es ist nicht nur eine typisch menschliche Antwort auf Infektion und Verletzung, man findet es ziemlich ähnlich auch bei anderen Säugetieren, Vögeln, Amphibien, sogar bei Insekten.3 Ihr Körper jedenfalls lässt Sie nicht einfach weitermachen wie gehabt, er hat seine Mittel und Wege, Sie davon zu überzeugen, dass Sie jetzt anderes bleiben lassen, was den Körper bei der Krankheitsbekämpfung stören würde.

Was Ihr Körper da anstellt: Nicht nur dass er alle möglichen Mechanismen in Bewegung setzt, um den Virus zu bekämpfen, er scheint sich auch noch Unterstützung anzufordern, wo er nur kann. Er überzeugt Sie, dass Sie nun in einen Verhaltens-Sparmodus wechseln sollten, um dem Immunsystem nicht die Energie abzugraben. Und wenn Sie Glück haben, überzeugt er andere, dass man Sie nun nicht mit weiteren Aufgaben belasten, ja, dass man Ihnen alle Arbeit abnehmen sollte, damit Ihr Körper sämtliche Kraft gegen den Erreger werfen kann. Und dann gelingt es Ihrem Körper möglicherweise auch noch, Kampfgenossen zu rekrutieren, wie etwa Ihren Partner, die mit ihrer Pflege und ihren Mittelchen die Verteidigung des Körpers unterstützen.

Was die Symptome, die Sie zeigen und unter denen Sie leiden, alles bewirken können: Vielleicht ist es kein Zufall, vielleicht sind die Verteidigungsreaktionen Ihres Körpers nicht nur an den Virus gerichtet, sondern auch an Sie und die Menschen, die Sie umgeben.4 Vielleicht sind Symptome nicht bloße Anzeichen einer Krankheit, sondern Signale, die Ihr Körper aussendet, um bei der Krankheitsbekämpfung soziale Unterstützung zu bekommen. Damit wäre das, was wir als Krankheit bezeichnen, nicht bloß die körperliche Störung des einzelnen Individuums, sondern auch die Botschaft, das ausgedrückte Bedürfnis an die Menschen, mit denen es sich umgibt. Und das Verhalten dieser umgebenden Menschen, ihre Entlastung und Hilfe oder aber ihre Abneigung und ihr Desinteresse, wirkte wieder auf das Symptome sendende Individuum zurück. Krankheit wäre somit kein individuelles, sondern ein soziales Phänomen. Und das würde bedeuten, dass eine vollständige Behandlung und Heilung nicht nur das körperliche Problem angehen sollte, sondern auch die zwischenmenschliche Zuwendung bieten, nach der der kranke Körper mit seinen Symptomen verlangt. Das Zwischenmenschliche am Akt der Heilung wäre somit nicht nur unvermeidliches Beiwerk, weil irgendwer nun einmal das Medikament verschreiben, die Akupunkturnadeln einstechen muss, sondern das Zwischenmenschliche wäre essentieller Bestandteil einer vollständigen Behandlung. Wenn wir aber in unserem Gesundheitssystem zwischenmenschliche Zuwendung nur als Einsparpotential betrachten, als verschwendete Arbeitszeit hochbezahlter Fachkräfte, die besser für Diagnosetechniken oder medizinische Interventionen eingesetzt wäre, dann behandelt unser Gesundheitssystem an der Natur des Menschen vorbei. Wir sind nicht bloß biologische Maschinen, unserer Biologie nach sind wir soziale Wesen.

Zugegeben, das ist ein verrückter Gedankengang, aber dieses Buch soll Ihnen zeigen, dass er gar nicht so abwegig ist. Wir werden im Folgenden betrachten, wie die Evolution solche Symptomsignale hervorbringen konnte. Wir werden also in die...

Erscheint lt. Verlag 14.3.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie
Schlagworte 2022 • Arzt • Behandlung • eBooks • Gesundheit • Gesundheitssystem • Heilung • Immunsystem • Krankenhaus • Krankenkassen • Krankheit • Medizin • Neuerscheinung • Placebo • Psychologie
ISBN-10 3-641-27291-2 / 3641272912
ISBN-13 978-3-641-27291-3 / 9783641272913
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