'Deutschland, deine Kolonien' (eBook)

Geschichte und Gegenwart einer verdrängten Zeit - Ein SPIEGEL-Buch
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
256 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-29237-9 (ISBN)

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'Deutschland, deine Kolonien' -
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Das historische Erbe einer verdrängten Zeit
Deutschland - eine Kolonialmacht? Die Legende von der zaghaften kleinen Möchtegern-Kolonialmacht, die sich zivilisierter betragen hat als andere, kommt allmählich ins Wanken. Und das zu Recht, denn das deutsche Kaiserreich beutete kolonisierte Länder in Afrika, in China oder der Südsee nicht weniger gierig und gewalttätig aus als andere Kolonialmächte.

Dieses Buch zeichnet den deutschen Kolonialismus von den Anfängen nach und bietet anhand eindrücklicher Zeitzeugenberichte und Abbildungen Einblicke in den Alltag in den kolonisierten Ländern. Vor allem aber zeigt es, wie andauernd die Folgen des deutschen Kolonialismus zu spüren sind und warum eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Epoche überfällig ist.

Im Goldrausch


Die ersten deutschen Kolonien waren private Unternehmungen: In Venezuela, auch »Klein-Venedig« genannt, hoffte die Händlerfamilie der Welser auf reiche Ausbeute.

Von Antonia Schaefer

Als Ambrosius Alfinger Ende Februar 1529 mit 281 Männern in Caro landete, an der Nordküste des südamerikanischen Kontinents, hatten ihm die Geschichten bereits den Kopf verdreht. Ein Königreich aus Gold erwarte ihn dort, hieß es. Unermessliche Schätze. Ein unentdecktes Land voller Möglichkeiten für den, der sich bloß traute, danach zu suchen. Die mächtige Augsburger Handelsfamilie Welser hatte Alfinger beauftragt, als Gouverneur die Region zu erkunden und vor allem: Gewinne in Form von Metallen oder Edelsteinen nach Hause zu senden.

Die Berichte vom Aztekenreich voller Gold in Mexiko, die seit 1519 in Europa für Furore sorgten, ließen die Welser auf Reichtum hoffen. Als einzige deutsche Handelsfamilie hatten sie 1528 einen Vertrag zur Ausbeutung spanischer Kolonien in Südamerika erhalten. Sie witterten das ganz große Geschäft.

Die sogenannte Welser-Kolonie in der Region, die Klein-Venedig oder auch Venezuela hieß, war eine frühe Stufe des globalen Kapitalismus. Die Handelsfamilie spekulierte auf einen wirtschaftlichen Vorteil durch die Ausbeutung von Bodenschätzen und Arbeitskräften in einem unterworfenen Land. Dabei half ihr ein enger Draht zur politischen Macht.

Die Welser führten spätestens seit Beginn des 16. Jahrhunderts eines der einflussreichsten Kaufmannsimperien in Europa. Sie handelten mit Stoffen und Gewürzen und verdienten mit dem Bergbau; damit galten sie als größte Konkurrenten der ebenfalls in Augsburg ansässigen Fugger, die ihren Reichtum mit Gold- und Silberhandel in Europa begründeten. »Heute sind die Welser etwas in Vergessenheit geraten«, sagt Spencer Tyce, Assistant Professor für Geschichte an der Fairmont State University. »Doch damals waren sie mächtiger als die italienische Medici-Familie.« Der Einfluss der Welser war immens, auch weil sie Karl V., König von Spanien sowie Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, immer wieder viel Geld liehen. Mit 1,8 Millionen Dukaten Kredit seien die Welser der größte Kreditgeber des Kaisers gewesen, so Welser-Experte Jörg Denzer – heute könnte das auf Basis des Goldgehalts etwa 300 Millionen Euro entsprechen.

Beste Voraussetzungen also, Profit aus der Beziehung zu schlagen. 1528 schlossen Karl V. und die Welser den Vertrag von Madrid, in dem der Kaiser dem Handelshaus die spanische Kolonie Venezuela als eine Form von Lehen zusprach. Das Gebiet war ziemlich genau abgesteckt: Es reichte vom westlichsten Punkt Cabo de la Vela im heutigen Kolumbien bis Maracapaná, nahe der heutigen Stadt Cumaná im Osten Venezuelas. Nur die Südgrenze war aufgrund fehlender geografischer Kenntnisse nur vage mit »Südmeer« angegeben, wie der Pazifik damals genannt wurde. Demnach hätten die Welser Anspruch auf beinahe den gesamten südamerikanischen Kontinent gehabt – das allerdings war ihnen selbst nicht klar.

Ob Karl V. dem Vertrag zustimmte, weil er bei den Welsern so hoch verschuldet war, ist umstritten. Eine andere Erklärung liegt vielleicht näher: Der Habsburger Herrscher träumte von einem Weltreich, in dem »die Sonne nie untergeht«, wollte die »Neue Welt« erkunden und besiedeln lassen. Für die Finanzierung dieses Unternehmens könnten ihm die Pläne der Welser gerade recht gekommen sein. »Man könnte die Verträge dieser Zeit beinahe mit Franchiselizenzen vergleichen«, sagt Jörg Denzer. »Die Eroberungsunternehmer trugen den Großteil des Risikos, durften aber auch einen Großteil ihrer möglichen Gewinne behalten.« Karl V. musste nicht selbst investieren, konnte aber auf Steuereinnahmen hoffen.

Als Alfinger landete, standen bereits einige Hütten in Coro, einer kleinen Siedlung, die nur knapp zwei Jahre zuvor von den Spaniern gegründet worden war. Viel wird er über das große Gebiet nicht gewusst haben, das er nun besiedeln sollte. »Das Land ist zu heiß und für uns … sehr ungesund«, schrieb ein aus Lindau stammender Bergarbeiter später über das Klima. Er war einer von 50 Kumpeln, die die Welser nach Amerika gebracht hatten. Die Erwartung der Welser war, die erhofften Bodenschätze so schnell wie möglich nach Augsburg zu bringen.

Doch um Coro fanden weder Alfinger noch seine Bergleute die Schätze, nach denen sie suchten. Weder stießen sie auf Gold noch auf Silber oder wenigstens Kupfer, aus dem man immerhin Kessel für die Zuckerrohrplantagen in der Karibik hätte bauen können. Auch ihre Versuche, Gemüse und Getreide anzubauen und Vieh zu weiden, gingen schief: Mit dem feuchtheißen Klima konnten sie nicht umgehen.

Über Alfinger, der in manchen Schriften auch als Ehinger bezeichnet wird, ist wenig bekannt, nur dass er zuvor Abgesandter der Welser in deren Handelsniederlassung in Santo Domingo war, der heutigen Dominikanischen Republik. Er stammte wohl aus dem Raum Ulm. Weshalb gerade er zum ersten Gouverneur des Überseegebiets ernannt wurde? Vermutlich lag es an seinem Handelsgeschick und daran, dass er Spanisch konnte.

Er stabilisierte Coro und reiste an die Westküste des heutigen Maracaibo-Sees, wo er die Stadt Neu-Nürnberg gründete, die heute unter dem Namen Maracaibo als zweitgrößte Stadt Venezuelas bekannt ist. Das war eine der Vorgaben des Madrid-Vertrags: Die Welser sollten in Venezuela zwei Städte mit jeweils 300 Menschen besiedeln und drei Festungen bauen.

Bei seiner Reise traf Alfinger auf einige Indigenenstämme, die ihm Gold als Geschenk überreichten. Doch als Alfinger die Schmuckstücke endlich einschmelzen konnte und ihren Gegenwert errechnete, war er vermutlich enttäuscht: Mit etwa 9590 Pesos hatte das Gold einen äußerst geringen Wert. Im Vergleich zu der Expedition des Spaniers Hernán Cortés, der einige Jahre zuvor in Mexiko die hoch entwickelte Gesellschaft der Azteken unterworfen hatte, war die Bilanz Alfingers miserabel. Weil seine Reise wirtschaftlich ein Desaster zu werden drohte, versklavte sein Eroberungstrupp Indigene und verkaufte sie auf den karibischen Märkten.

Seine Expedition war ein erstes, aber deutliches Signal, dass der Welser-Kolonie keine große Zukunft bevorstehen würde: »Wer Kolonien durch die Geschichte hinweg vergleicht, merkt schnell, dass sie sofort wirtschaftlich ertragreich waren, wo es bereits eine arbeitsteilige Verwaltung oder zumindest ein sozial sehr differenziertes gesellschaftliches System gab«, sagt Bernd-Stefan Grewe, Historiker an der Universität Tübingen. Dort aber, wo Alfinger unterwegs war, gab es, anders als in Mexiko, vor der Ankunft der Europäer keine staatlichen Strukturen, auf die er hätte aufbauen können.

Bartholomäus V. Welser, Familienoberhaupt der Handelsfamilie, dürften diese ernüchternden Nachrichten aus seinem Überseegebiet indes kaum erreicht haben. Informationen gelangten nur auf dem Seeweg nach Europa, mit monatelanger Verzögerung. Und Alfinger wird seine Berichte – wie alle seine Nachfolger auch – geschönt haben, niemand konnte unmittelbar überprüfen, ob ein Gouverneur tatsächlich die Wahrheit schrieb. In Augsburg sah man das Unternehmen ganz offensichtlich positiver, als es tatsächlich war: Die Welser sandten sogar weitere Schiffe, um ihre Investition zu verstärken.

An Bord war Nikolaus Federmann, ebenfalls gebürtig aus Ulm. Er wurde Alfingers Stellvertreter, doch es hielt ihn nicht in Coro. 1530 brach er auf eigene Faust ins Landesinnere Richtung Süden auf. Auch ihn trieb die Hoffnung auf den großen Gewinn.

Wie alle Teilnehmer der Welser-Unternehmung musste er selbst in das Projekt investieren. Denn durch Unterverträge hatten die Welser einen Großteil ihres Geschäftsrisikos auf die eigentlichen Abenteurer abgewälzt.

»Wenn ein Unternehmen wie Siemens heute Mitarbeiter ins Ausland schickt, kann es sich ihrer Loyalität gewiss sein – wegen des Gehalts, der Verträge, der Firmenbindung«, sagt Welser-Experte Jörg Denzer, »die Welser-Abgesandten hatten dieses Treuegefühl nicht. Durch ihr eigenes Investment fühlten sie sich weniger an die Absprachen mit der Familie in Augsburg gebunden.«

Anweisung hin oder her: Das Glück selbst in die Hand zu nehmen war in jedem Fall vielversprechender, als darauf zu warten, dass andere es schon richten würden. Bestimmt hatte Federmann vom mystischen Goldreich El Dorado gehört, das irgendwo im Süden vermutet wurde. Belegt ist, dass er von Coro aus durch dichten Urwald zog, das kleinwüchsige Volk der Ayamanes traf und bis nach Acarigua gelangte. Federmann und sein Gefolge stiegen auf eine Anhöhe und sahen Wasser, soweit das Auge reichte. Im Glauben, das im Vertrag mit dem Kaiser erwähnte »Südmeer« erreicht und damit den gesamten Kontinent erkundet zu haben, kehrten sie um. Sie täuschten sich: Sie waren lediglich an die Llanos, das Grasland Venezuelas, gestoßen. In der Regenzeit verwandelt es sich durch Überschwemmungen in eine riesige Wasserlandschaft.

Federmann kam, wie schon Alfinger, nur mit einigen Goldstücken zurück, die er von Indigenen erhalten hatte. Seine Pflichten in Coro hatte er vernachlässigt. Ob er bei Alfinger in Ungnade gefallen war oder von sich aus entschied, seinen Aufenthalt in Venezuela zu beenden, ist unklar. Jedenfalls segelte er zurück nach Europa.

Doch auch die anderen in Coro hatten sich jetzt mit dem Goldfieber angesteckt. Alfinger brach zu einer weiteren Expedition auf. Sie führte ihn nach Westen, tief in das heutige kolumbianische Andenland. Dort, in den Bergen, lebe ein Volk, das seinen Anführer komplett mit Gold einpudere und über immense Goldschätze verfüge,...

Erscheint lt. Verlag 16.5.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte 2022 • Ausbeutung • Black History Month • Deutsche Geschichte • Deutsche Kolonien • Deutsches Kaiserreich • Deutsch-Ostafrika • Deutsch-Samoa • Deutsch-Südwestafrika • eBooks • Eroberung • Geschichte • Herero • Imperialismus • Kolonialismus • Missionare • Namibia • Neuerscheinung • Otto von Bismarck • Rassismus • Reparationen • Sklaverei • Tansania • Völkermord • Wilhelm II.
ISBN-10 3-641-29237-9 / 3641292379
ISBN-13 978-3-641-29237-9 / 9783641292379
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