Wahnsinnig nah (eBook)

Ein Buch für Familien und Freunde psychisch erkrankter Menschen
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
192 Seiten
BALANCE Buch + Medien Verlag
978-3-86739-192-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wahnsinnig nah
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Wenn ein Partner, ein Kind oder Elternteil psychisch erkrankt, helfen Angehörige und Freunde gerne. Aber wie? Und wie viel Hilfe tut gut - dem Betroffenen und einem selbst? Was ist mit den eigenen Ängsten, Sorgen und vielleicht auch Scham- und Schuldgefühlen? Die Erfahrungen anderer Angehöriger bieten Entlastung und machen Mut. Expertinnen und Experten erklären, was Diagnosen bedeuten - und was nicht -, welche Hilfe- und Behandlungsangebote es gibt und wie man gut miteinander kommuniziert. Denn wer informiert ist, kann Grenzen setzen, Vorurteilen gelassen begegnen und sich selbst Hilfe holen. Zwischen Unterstützung und Selbstfürsorge »Meiner Erfahrung nach sind Angehörige irgendwann nicht mehr nur Angehörige, sondern rutschen zusätzlich in die Rolle einer Krankenschwester [...], in die Rolle eines Sozialarbeiters [...], in die Rolle einer Psychologin [...] und in noch viele andere Rollen. Nehmen Sie Ihre eigenen Grenzen wahr. Holen Sie sich für sich selbst Hilfe, wenn Sie mit der Situation überfordert sind.«

Der BApK ist der Bundesverband Angehöriger psychisch Kranker, der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt vor allen Dingen auf Beratung, Vermittlung und Information.

Wir bemerkten nicht, wie uns als Paar die Depression zu manipulieren begann


Stefan und Martina Körber leben seit vielen Jahren mit der Depression. Beide erzählen abwechselnd aus ihrem Alltag.

Mein Morgen beginnt mit Nachdenken: Wie war meine Nacht? Bin ich ausgeschlafen genug, um flexibel auf all das, was der Morgen bringen wird, zu reagieren? Wecke ich meine Frau und wir beginnen den Tag gemeinsam? Oder soll ich sie lieber schlafen lassen? Was erwartet mich, wenn sie wach ist? Kommt sie gut in den Morgen oder benötigt sie ihre Zeit, um in den Tag zu starten? Und was bedeutet das, ihre Zeit? Wird sie um elf Uhr aufstehen oder um zwölf? Oder wird es bis zum Nachmittag dauern, ehe sie sich einbringen kann?

Vielleicht lasse ich sie doch besser noch schlafen, um selbst erst einmal in Ruhe den Tag zu beginnen, um den morgendlichen Verrichtungen in meinem Tempo und Rhythmus nachzugehen und das Nötigste in der Wohnung herzurichten. Ich überlasse es ihrer eigenen Verantwortung aufzustehen und all das zu erledigen, was für sie gut ist. Menschen mit Depression neigen dazu, lange zu schlafen. Meine Frau ist da keine Ausnahme. Vielleicht flüchtet sie so vor den nicht vorhandenen Gefühlen für den Tag.

Doch wenig später fange ich schon an, die ganze Situation zu hinterfragen: Kann ich sie überhaupt weiterschlafen lassen oder ist es besser, sie zu wecken, um den Blutzucker zu messen und nicht das Risiko einer Unterzuckerung einzugehen? Zum Teufel noch mal, wer bin ich, dass ich mir all diese Gedanken mache? Bin ich ihr Arzt oder ihr Therapeut? Natürlich nicht! Aber – wüssten die es besser?

Meine Frau wird schon seit langer Zeit von einer Depression begleitet, die ihren Ursprung in der Kindheit hat und im Laufe ihres Lebens durch verschiedene Ereignisse intensiver wurde. Außerdem leidet sie an mehreren gesundheitlichen Einschränkungen, unter anderem einem Diabetes Typ 1. Zunächst standen diese körperlichen Symptome im Vordergrund, erst später stellte sich heraus, dass meine Frau an einer schweren Depression erkrankt war.

Schon vor der Diagnose »Depression« hatten wir unseren Alltag so geregelt, dass meine Frau sich in der Hauptsache um sich, ihre Gesundheit und ihren Beruf kümmern konnte. War meine Frau zu erschöpft von ihrer beruflichen Belastung oder spielte ihr Diabetes nicht mit, sprang ich ein und übernahm die anfallenden Aufgaben.

Meine Frau konnte sich immer sicher sein, dass jemand an ihrer Seite ist, der sich um alles kümmert, wenn sie selbst nicht dazu in der Lage war. Das war für mich zunächst auch in weiten Teilen in Ordnung, ja sogar selbstverständlich, ich fühlte mich gut damit, flexibel zu sein. Wir waren beide stolz darauf, dass wir unseren Alltag so rücksichtsvoll, unkompliziert und jenseits der üblichen Rollenmuster gestalteten. Doch irgendwann kippte das.

Es hat alles schleichend begonnen: Anfänglich fühlte es sich noch normal an, die geänderten Abläufe, die Rücksichtnahme, das Mehr an Verantwortung waren spürbar, aber scheinbar kein Problem – jedenfalls keines, von dem wir glaubten, dass wir es nicht mit ein bisschen guten Willen in den Griff bekommen würden. Wir bemerkten nicht, wie uns als Paar die Erkrankungen meiner Frau zu manipulieren begannen. Ohne schon an eine Depression zu denken, waren die Weichen gestellt: Die Krankheit konnte kommen, sie würde sich hier bei uns wohlfühlen.

»Guten Morgen, Süße«, höre ich noch im Halbschlaf die Worte meines Mannes, der mit mir den Tag beginnen möchte. »Kommst du frühstücken?«

Langsam und mit steifem Nacken erwache ich und nuschle: »Nur noch fünf Minuten …« und sinke wieder in den Schlaf. Ich kann den Kopf kaum drehen, so verspannt bin ich. Nach kurzer Zeit schrecke ich hoch, jetzt sind es schon elf Uhr. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich geschlafen habe. Und dabei habe ich mir doch gestern Abend noch vorgenommen, heute Morgen pünktlich aufzustehen. Das schlechte Gewissen, es wieder nicht geschafft zu haben, wird mich heute den ganzen Tag verfolgen.

Die Nacht war wieder sehr unruhig und von wirren Träumen begleitet. Dadurch bin ich mehrfach schweißgebadet aufgewacht, aber das ignoriere ich, denn das ist nahezu jede Nacht so. Es ist nichts Besonderes. Meine Therapeutin hat mir die Aufgabe gegeben, jeden Tag mit einem positiven Gedanken zu beginnen. Das gelingt mir heute wieder nicht! Im Gegenteil.

Stefan ist schon seit 7.00 Uhr auf den Beinen, hat die anfallenden Sachen im Haushalt erledigt und geht seinem Tagwerk nach. Und ich? Ich hab noch nichts geschafft, erledigt, getan, und mein Gedankenkarussell nimmt Fahrt auf: »Ich leiste nichts«, »Ich bin faul« und »Ich bin nichts wert«. Ich muss das stoppen! Ich frage mich, was ich denn heute machen könnte. Erst mal frühstücken.

In der Regel verbringe ich die ersten Stunden des Tages damit, im Haushalt die nötigsten Arbeiten zu erledigen. Doch schon mit dieser Entscheidung lege ich eine Struktur fest, die meine Frau nicht mehr beeinflussen kann. Nehme ich ihr damit vielleicht die Chance, sich auch anders wahrzunehmen? Nehme ich ihr das Gefühl der Zufriedenheit, das sich nach der erfolgreichen Erledigung einer Aufgabe einstellt? Vielleicht wäre heute so ein Tag gewesen, an dem sie motivierter und unbelasteter als sonst gerne selbst die Dinge in die Hand genommen hätte. Vielleicht wäre es ein Morgen geworden, an dem alles, was sie sonst hemmt – die Depression, die Zuckerwerte und auch die anderen Symptome –, zurückgetreten wäre und meine Frau die hätte sein können, die sie jenseits ihrer Erkrankungen ist.

Seit fünfzig Jahren bin ich Diabetikerin Typ 1. Daher beginnt mein Morgen, jeder Morgen, mit der Kontrolle meines Blutzuckers. Noch liegt der Wert im Normbereich, aber das ändert sich nach dem Frühstück. Der Blutzucker steigt rasant an. Ich muss mich entscheiden, gebe ich mir die normalen Einheiten oder setze ich gleich ein paar drauf? Ich entscheide mich für den normalen Bolus Insulin und verzichte auf zusätzliche Einheiten. Doch es geht mir nach dem Frühstück nicht gut. Meine Gedanken fließen zäh, mein Mund ist trocken, mein Herz rast und das Atmen fällt mir schwer: die typischen Anzeichen eines zu hohen Blutzuckers!

Ich könnte direkt wieder ins Bett gehen, die Decke über den Kopf ziehen und warten, bis es mir körperlich besser geht. Stattdessen sitze ich am PC und spiele Solitär bis zum Umfallen und warte, dass mein Zuckerwert wieder den Normwert erreicht. Hier geben sich Diabetes und Depression die Hand. Mittlerweile ist es halb eins und ich habe noch keinen Handschlag getan. Wie habe ich das früher nur geschafft, als ich noch arbeiten ging? Die Wahrheit ist: Ich habe damals nicht gut auf mich geachtet und mich dadurch in manch brenzlige Situation gebracht. Ich war in der ambulanten Pflege in leitender Position beschäftigt und musste funktionieren. Heute habe ich keine Aufgaben mehr, jedenfalls nicht so wie früher.

Ich dachte lange Zeit, es wäre eine Hilfe, sich Wissen über das Thema Depression anzueignen, ein Bewusstsein für unsere besondere Situation zu entwickeln. Ich erhoffte mir Hilfestellungen speziell auch im Hinblick auf mein Verhalten. Der Unterschied zu früher ist, dass wir jetzt wissen, warum wir was tun. Aber ob Wissen immer gut ist und vor allem, ob es allein ausreicht, um als Paar mit dieser Erkrankung fertig zu werden, bezweifele ich jetzt hin und wieder. Man muss sich vielmehr auch bemühen, dieses erworbene Wissen mit Vernunft einzusetzen. Das ist der schwierige Teil!

Wer Erfahrungen gesammelt hat, wird in der Regel immer versuchen, sein Wissen so einzusetzen, dass es zu einer Verbesserung der Situation kommt. Ich habe viele Erfahrungen sammeln können. Doch noch immer frage ich mich: »Wann und wie entscheide ich richtig?« Darauf kann mir niemand eine Antwort geben. Jeder Morgen ist ein Morgen, an dem ich für mich Dinge beschließe und nicht weiß, ob meine Entscheidung gut ist oder schlecht – für meine Frau und für mich. Manchmal höre ich den Rat: »Lass deine Frau doch einfach mitentscheiden. Sie wird schon sagen, was sie will!« Das hört sich vernünftig an, wäre eine Begegnung auf Augenhöhe. Aber so einfach ist es nicht.

Denn unweigerlich stellt sich schon die nächste Frage: Ist es meine Frau, meine Partnerin, die sich gerade äußert, oder ist es die Depression, die ihr mit negativen Gedanken und Selbstzweifeln im Nacken sitzt. Oder vielleicht ist es der Diabetes, der sie ausbremst und sie keinen klaren Gedanken fassen lässt.

Es gibt Morgen, da stürzt sich meine Frau voller Energie in den Tag, um später an den hohen Hürden zu scheitern, die sie selbst aufgelegt hat. An anderen Morgen kann sie sich kaum oder nur wenig einbringen. Manchmal braucht sie nur eine kleine Motivation, um den Tag zu beginnen. Bisweilen reicht eine kleine Korrektur, ein liebevoller Hinweis, um der Erschöpfung und Überforderung vorzubeugen. Auch das ist eine immerwährende Frage: Wann versuche ich sie zu motivieren, etwas mehr zu wagen, wann versuche ich zu bremsen und wann halte ich mich lieber im Hintergrund und lasse den Dingen ihren Lauf? Und so geht es weiter den ganzen Tag, mit ständigem Nachdenken, Strategien entwickeln und der Sorge, wichtige Signale zu spät zu erkennen, sodass die Dinge sich in eine falsche Richtung entwickeln.

Und es gibt ja noch genügend andere Dinge, die erledigt werden müssen: Sind noch ausreichend Lebensmittel im Haus oder muss eingekauft werden? Sind die Pflanzen im Garten versorgt und muss ein Arzttermin eingehalten werden? Wann ist die TÜV-Untersuchung für den Wagen fällig und wann muss die...

Erscheint lt. Verlag 12.5.2021
Reihe/Serie BALANCE ratgeber
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie
Schlagworte Angehörige • Angehörigen-Selbsthilfe • Depression • Psychische Erkrankung • Psychose • Ratgeber
ISBN-10 3-86739-192-0 / 3867391920
ISBN-13 978-3-86739-192-4 / 9783867391924
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