Wer waren die Nationalsozialisten? (eBook)

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2021 | 1. Auflage
303 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-76899-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wer waren die Nationalsozialisten? - Ulrich Herbert
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DAS DRITTE REICH UND DIE DEUTSCHEN - ANATOMIE EINER DIKTATUR
Wer waren die Nationalsozialisten? Diese einfache Frage berührt den Kern der NS-Herrschaft. Denn wer sie präzise beantworten will, der muss wissen, wer das Dritte Reich ermöglicht und durch sein Handeln - oft bis zuletzt - unterstützt hat. Ulrich Herbert, einer der angesehensten Zeithistoriker der Gegenwart, geht in diesem Buch den spezifischen Merkmalen der nationalsozialistischen Diktatur nach und analysiert von den Ursprüngen des Judenhasses bis zum Werdegang einstiger NS-Funktionäre in der Bundesrepublik zentrale Themen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts.

War es eine kleine Gruppe von Verbrechern, die das deutsche Volk ins Schlepptau nahm? Ein Projekt traditioneller Eliten? Oder doch eine von breiten Schichten der Bevölkerung getragene faschistische Bewegung? Die Antworten auf die Frage, wer die Nationalsozialisten waren, sind ebenso zahlreich wie die Versuche, personelle Kontinuitäten auszublenden und zwischen den Verbrechen des Regimes und der eigenen Verantwortung einen Trennstrich zu ziehen.
Indem Ulrich Herbert diese Frage zum Ausgangspunkt seiner Studien nimmt, dringt er tief in den Charakter der NS-Diktatur ein und legt zentrale Aspekte ihrer Herrschaft frei. Seine prägnant argumentierenden Aufsätze bündeln nicht nur seine Überlegungen zur Geschichte des Nationalsozialismus, sondern spiegeln zugleich den Weg, den die NS-Forschung in den letzten Jahrzehnten genommen hat.
  • Eine Charakterstudie der NS-Diktatur
  • Welche Rolle spielten die Eliten?
  • Wie groß war die Zustimmungsbereitschaft in der Bevölkerung?
  • Wie fassten die NS-Führungsgruppen nach dem Krieg wieder Fuß?
  • Von einem der besten Zeithistoriker seiner Generation


Ulrich Herbert ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg und einer der prominentesten deutschen Zeithistoriker. Sein Buch "Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert" wurde 2014 mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet, 2018 erhielt er den Ruhrpreis für Kunst und Wissenschaft.

Zu diesem Buch

Die Frage, wer die Nationalsozialisten waren, ist die Frage nach dem Charakter der Diktatur. Schon seit den 1920er Jahren und dann verstärkt im Verlauf der Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde sie auf sehr unterschiedliche Weise beantwortet, und immer war mit dieser Antwort eine politische Botschaft verbunden. Als gewalttätiger Verein marginalisierter Außenseiter wurden sie wahrgenommen, als hoffnungsvolle Jugendbewegung, als völkische Schwärmer, als deutsche Faschisten nach dem italienischen Vorbild, als Partei der Arbeitslosen, als Bürgerkriegstruppe oder als anachronistische Antisemitenpartei – und all das traf ja auch zu, wenn auch nur in Teilaspekten.

Neuere Untersuchungen auf der Basis von Wähleranalysen und Parteistatistiken zeigen indes ein eher unspektakuläres Bild. Die NSDAP-Mitglieder waren weit überwiegend männlich und rekrutierten sich in deutlich überrepräsentativem Maße aus der «Kriegsjugendgeneration» der zwischen 1900 und 1915 Geborenen, also der im Jahr 1935 zwischen 20 und 35 Jahre alten Männer. In dieser Altersgruppe war der Anteil der Arbeiter auch höher als in der Generation der zwischen 1880 und 1900 Geborenen, in der Personen aus dem Mittelstand stärker vertreten waren. Insgesamt aber war der Prozentsatz der Arbeiter bei den Parteimitgliedern deutlich geringer als in der Gesamtbevölkerung. Angestellte und Beamte hingegen stießen in den dreißiger Jahren «geradezu in hellen Scharen» zur Partei. NSDAP-Mitglieder kamen eher aus Kleinstädten als aus den urbanen Zentren, sie waren eher protestantisch als katholisch, und in den Zentren der sozialistischen Arbeiterbewegung war ihre Zahl besonders niedrig. Zu den Motiven ihres Parteieintritts gehörten Antisemitismus, Antimarxismus und die Idee des nationalen Sozialismus, nach dem Krieg gaben sie bei Befragungen indes besonders häufig jugendlichen Idealismus, Opportunismus und äußeren Druck an.[1] Das sind interessante, aber keineswegs überraschende Befunde: ein ziemlich durchschnittlicher Mix aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Zur Beantwortung der politischen Fragen nach dem Charakter der Diktatur und der Unterstützung und Dynamik der nationalsozialistischen Gewaltpolitik tragen sie nur wenig bei.

Nach dem Krieg wurden als «die Nationalsozialisten» zunächst alle Mitglieder der NSDAP und ihrer Nebenorganisationen verstanden. Damit verbunden war die Überzeugung, dass das «Dritte Reich» vor allem durch eine Massenbewegung gestützt wurde und sich schon dadurch von traditionellen Diktaturen unterschied, die von Honoratioren mithilfe des Militärs gelenkt wurden. Demgegenüber wurde der NS-Staat, besonders von der Linken und in der DDR, als Projekt der traditionellen Eliten bezeichnet, der Großunternehmer und der Militärs vor allem, welche sich der Nationalsozialisten als Instrument bedienten, um ihre Ziele durchzusetzen – eine Vorstellung, die stark vom Aufstieg des italienischen Faschismus geprägt war. Aber in dem Maße, wie die Verbrechen des «Dritten Reiches» in den Vordergrund der Aufmerksamkeit rückten, wurde verstärkt nach Schuld und Verantwortung gefragt, und damit traten die Mitglieder der Terrororganisationen wie der SS und der Gestapo in den Vordergrund.

Solche Vorstellungen stießen in der Bundesrepublik vor allem in den ersten Nachkriegsjahrzehnten auf Ablehnung, hier wurde der Nationalsozialismus auf eine kleine Führungsgruppe reduziert, letztlich auf Hitler selbst. Die Vorstellung, dass es allein Hitler gewesen sei, der Regime und Volk zusammengehalten habe und für die Verbrechen des Regimes verantwortlich gewesen sei, mutet heute abwegig an, war aber jahrzehntelang außerordentlich verbreitet – und in der nicht enden wollenden Zahl von neuen Hitler-Biografien klingt diese Wahrnehmungsweise bis heute nach. Die massenhafte Zustimmung zum Regime wurde auf diese Weise ausgeblendet, Parteimitglieder und Bevölkerung wurden als Opfer von Verführung und Gewalt angesehen. Als Täter galten in erster Linie die wenigen NS-Spitzenfunktionäre. Die Männer in den Konzentrationslagern und an den Erschießungsgräben seien überwiegend «Asoziale und Kriminelle» gewesen, wie so schon früh Konrad Adenauer bemerkte – und nach ihm viele andere. Dass deren Kommandeure promovierte Akademiker aus bürgerlichen Elternhäusern waren, galt als unglaubhaft oder wurde ignoriert. Denn dass der gutbürgerliche Nachbar, Kollege oder Onkel während der Kriegsjahre ein SS-Offizier, KZ-Wachmann oder Judenmörder gewesen sein sollte, schien absurd, weil die Ruchlosigkeit solcher Verbrechen und die Wohlanständigkeit des Nachbarn oder Kollegen nicht zueinander in Beziehung gebracht werden konnten. Und wenn man womöglich auch die NS-Verbrechen nicht bezweifelte, so schienen sie doch Gegenstand einer anderen Erinnerung zu sein, der Erinnerung der Sieger.

Solche Vorstellungen waren natürlich immer auch von dem Interesse gesteuert, personelle Kontinuitäten auszublenden, das Maß an Zustimmung und Begeisterungsbereitschaft gegenüber dem Regime in der Bevölkerung zu negieren und die Rolle der Führungsgruppen in Verwaltung und Wirtschaft sowie der Wehrmacht bei der Kriegs- und Mordpolitik des Regimes zu verbergen. Erst seit den 1990er Jahren und seitdem in zunehmendem Maße wurde sichtbar, dass die Zustimmung großer Teil der Bevölkerung zum «Dritten Reich» und seiner Innen- wie Außenpolitik viel ausgeprägter war als bis dahin angenommen. Und ebenso wurde deutlich, dass die Verbrechen des Regimes in den Ministerien, den Universitäten und der Wehrmachtsführung nicht nur hingenommen, sondern aktiv vorgedacht, konzipiert und mitgetragen worden waren.

Allerdings provozierte die politische Entwicklung im wiedervereinigten Deutschland nach 1990, insbesondere die massiven Ausschreitungen gegen Ausländer und das Anwachsen rechtsextremistischer Gruppierungen, im Lande selbst wie bei seinen Nachbarn irritierte Fragen nach der Gegenwärtigkeit der deutschen Vergangenheit. Denn diese schien nun plötzlich nicht mehr so vergangen wie noch ein Jahrzehnt zuvor. Die Reaktionen in den USA, in Israel oder in Polen auf die Ereignisse von Rostock und Hoyerswerda, von Hünxe und Mölln schienen jene Befürchtungen zu bestätigen, die in den Jahren bis 1989 zwar geringer geworden, aber wohl nie ganz verschwunden waren. Die Frage, wer die Nationalsozialisten waren – und womöglich: sind – gewann dadurch eine neue Aktualität.

Dieses Buch enthält in elf Kapiteln verschiedene Ansätze, die sich mit diesen Fragen auseinandersetzen. Sie behandeln die sich wandelnden Erklärungsversuche dessen, was man unter «Nationalsozialisten» verstand, wie das Welt- und das Geschichtsbild der «Nazis» aussah und welche Rolle dabei der Antisemitismus spielte. Es wird gefragt nach der Zustimmungsbereitschaft in der Bevölkerung und nach der Rolle der deutschen Eliten, hier in Sonderheit der Professoren im «Dritten Reich». Die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des Vergleichs von nationalsozialistischer und stalinistischer Herrschaft wird diskutiert, ebenso die nach der Vorgeschichte und Typologie des «Lagers», das in der Geschichte des Nationalsozialismus eine so große und schreckliche Bedeutung gewann. Drei Kapitel widmen sich den Perspektiven der Kriegs- und Vernichtungspolitik des NS-Staats. Das betrifft die verschiedenen Varianten der europapolitischen Konzepte des NS-Regimes, die Planungen und Entscheidungen des Kriegs gegen die Sowjetunion und den Weg zur Ermordung der europäischen Juden. Schließlich wird gefragt, welche Bedeutung die Propagierung der «Volksgemeinschaft» während der NS-Diktatur besaß und ob wir Auswirkungen dieser Konzeption auch noch in den Jahren nach dem Kriege feststellen können. Das letzte Kapitel analysiert, in welchem Maße es den NS-Führungsgruppen gelang, nach dem Krieg in der westdeutschen Gesellschaft wieder Fuß zu fassen, und fragt nach den Umständen und Auswirkungen dieser «Rückkehr in die Bürgerlichkeit».

Die Kapitel basieren auf Vorträgen und Aufsätzen, die ich in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten gehalten und verfasst habe und die dabei auch den Weg der Forschung – und meiner eigenen Überlegungen – widerspiegeln. Der älteste Beitrag ist von 1995, der jüngste von 2020. Manche der Analysen und Einsichten dieser Beiträge finden sich später in anderen Arbeiten wieder, vor allem in meiner «Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert» und dem kleinen Buch über «Das Dritte Reich».

Die Beiträge verweisen dabei auch auf den Prozess der allmählichen Herausbildung von Thesen und Schwerpunkten in der Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Kolleginnen und Kollegen, auf deren Studien ich mich neben meiner...

Erscheint lt. Verlag 22.2.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte 20. Jahrhundert • Antisemitismus • Deutschland • Diktatur • Drittes Reich • Erinnerungskultur • Faschismus • Geschichte • Hitler • Judenhass • Nationalismus • Nationalsozialismus • Nazis • Politik • Shoah • Sozialismus • Totalitarismus • Vergangenheitsbewältigung
ISBN-10 3-406-76899-7 / 3406768997
ISBN-13 978-3-406-76899-6 / 9783406768996
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