Feministische Beratung: Diversität und soziale Ungleichheit in Beratungstheorie und -praxis (eBook)

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2020 | 1. Auflage
188 Seiten
Dgvt Verlag
978-3-87159-418-2 (ISBN)

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Feministische Beratung: Diversität und soziale Ungleichheit in Beratungstheorie und -praxis -  Ursel Sickendiek
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Seit mehr als 40 Jahren gibt es für Frauen feministische Beratungsstellen, die im Zuge der zweiten Frauenbewegung gegründet wurden. Bei fortdauernden gesellschaftskritischen Grundpositionen haben sich die Theoriebezüge der Beratung seitdem gewandelt. Auch die Praxisansätze wurden immer wieder befragt und in innerfeministischen Debatten um zentrale Orientierungen reflektiert. Diversität unter Frauen und die verschiedenen Dimensionen sozialer und intersektionaler Ungleichheit gehen mit konzeptionellen Herausforderungen für Beratung einher. Es ist ein Anliegen dieses Buches, verschiedene Herangehensweisen sowie ihre gesellschaftspolitischen Positionen aufzufächern und in ihrer Vielseitigkeit zu beleuchten. Der Band versammelt hierzu Beiträge aus verschiedenen Jahren und ermöglicht somit einen Überblick über die gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen von 'Verschiedensein' in der Beratung sowie über die damit verbundenen wissenschaftlichen Debatten und Konzepte. Dabei legt die Autorin ihren Schwerpunkt neben psychosozialer Beratung/Counselling auch auf Bildungs- und berufliche Beratung/Career Counselling für Frauen. Das Buch plädiert dafür, psychosoziale und berufliche Beratung stärker als bisher und unter feministischer Perspektive miteinander zu verknüpfen, um den differenten Lebenswirklichkeiten von Frauen gerecht zu werden.

Dr. Ursel Sickendiek ist Diplom-Pädagogin, leitet die Zentrale Studienberatung der Universität Bielefeld und beschäftigt sich seit Langem mit allgemeinen Beratungstheorien, feministischer Beratung, Laufbahnberatung und Diversität in der Beratung.

Dr. Ursel Sickendiek ist Diplom-Pädagogin, leitet die Zentrale Studienberatung der Universität Bielefeld und beschäftigt sich seit Langem mit allgemeinen Beratungstheorien, feministischer Beratung, Laufbahnberatung und Diversität in der Beratung.

Kapitel 2
Feministische Beratung1


1. Feminismus und Frauenrechte


Der Feminismus ist eine politische Orientierung, die patriarchale Gesellschaftsstrukturen und die Dominanz des männlichen Geschlechts in Frage stellt und sich für die Gleichstellung von Frauen und Männern einsetzt. Die Vorstellungen über mögliche Wege zu diesem Ziel sind vielfältig und teilweise kontrovers. Feministisches Denken findet sich in Politik, Wissenschaft und sozialer Praxis. Auch wenn im vierten Jahrzehnt nach Beginn der Zweiten Frauenbewegung der Verweis auf Geschlechterungleichheit oftmals als „alter Hut“ empfunden wird, ist doch festzuhalten, daß viele feministische Erfolge fragil sind, z. T. Rückschläge nicht ausbleiben und in vielen Bereichen nur langsam Fortschritte erzielt werden. Vor allem im Privatleben dauern ungleiche Lastenverteilungen zuungunsten von Frauen an und tausende Frauen werden weltweit täglich Opfer der Gewalttätigkeit von männlichen Angehörigen. Somit ist eher eine Weiterentwicklung feministischer Bestrebungen angezeigt als ein Rückzug.

Meine Ausführungen streben nicht danach, objektiv Axiome sowie Pros und Contras feministischer Beratung aufzulisten oder aus einer kühlen Metaperspektive „das“ feministische Konzept festzuschreiben. Feministische Beratung wird (1) parteilich, d. h. „pro-feministisch“ und damit in Anwendung eines ihr originären Prinzips dargestellt und (2) mit der Absicht referiert, die Kernthemen der vielgestaltigen feministischen Beratungspraxis und -diskussion auszuführen und dabei die internen Debatten zu berücksichtigen.

2. Feministische psychosoziale Arbeit und Sozialarbeit


Frauen und Mädchen finden heute in vielerlei Settings Beratung. Sie stellen 60 bis 70 % der KlientInnen des psychosozialen Versorgungssystems. In den meisten allgemeinen Beratungsstellen treffen weibliche Ratsuchende inzwischen BeraterInnen, die sich mit feministischen Fragen auseinandergesetzt haben und für weibliche Problemkontexte sensibel sind. Daneben finden sie spezifische Beratungsangebote: Psychologische Frauenberatungsstellen, Beratung für Opfer häuslicher Gewalt oder Notruftelefone für Opfer von Vergewaltigung, Frauenbildungszentren mit berufsbezogenen Beratungsangeboten etc. Frauenberatung bewegt sich zwischen den Polen der mehr oder weniger traditionellen Beratungsvorstellungen mit „frauenfreundlichem“ Charakter einerseits und explizit feministischen Einrichtungen andererseits.

So bunt wie die Palette feministischer psychosozialer Praxis heute ist, so vielfältig sind auch ihre Konzepte. Begriffe von Feminismus sind keineswegs einheitlich, aber über eine Reihe von Prinzipien, die sich z. T. aus politischen Diskursen der Frauenbewegung, z. T. aus der Frauenforschung und feministischen Erkenntnistheorie und z. T. aus Praxiserfahrungen in Projekten speisen, lässt sich eine kurze Bestandsaufnahme und Ideengeschichte zeichnen. Für die ersten Frauenprojekte in den 70er Jahren wurden inhaltliche Grundlegungen aus Gesellschaftsdiagnosen und soziologischem Wissen um Geschlechterverhältnisse abgeleitet. Dabei standen geschlechtsspezifische Sozialisation und aus marxistischer Analyse die Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern mit der ideologischen Verpflichtung der Frau auf unbezahlte Reproduktionsarbeit im Mittelpunkt, mit einer Politisierung der „privaten“ Ausbeutungs- und Gewaltverhältnisse in Ehe und Familie. Feministische Projekte arbeiteten wesentlich an Bewußtseinsbildung und Aufklärung von Frauen, an der Förderung von Zusammenschlüssen, Initiativen etc. In den 80er Jahren ist eine Hinwendung zu psychologischen und psychotherapeutischen Konzepten von psychosozialer Arbeit festzustellen (Fröschl, 2001). Eine Weiterentwicklung im Kampf gegen Frauendiskriminierung schien erforderlich, z. T. weil die soziologischen Perspektiven der 70er Jahre, wenn auch nach wie vor gültig, schwer in psychosoziale und sozialpädagogische Praxis umsetzbar waren. Auch zeigten sich bei den ProtagonistInnen, die sich in der Sozialarbeit politisch engagiert hatten, verständliche Ermüdungserscheinungen und Ernüchterung und infolgedessen eine Hinwendung zum Persönlichen – dieses Mal nicht als „Politisches“, sondern als Selbstreflexion und Auseinandersetzung mit eigener Biographie. Viele Frauen bekamen Zweifel an der über Jahre betriebenen Selbstausbeutung, in chronisch unterfinanzierten Projekten die Problemlagen von Frauen letztlich nur oberflächlich in Schach halten zu können. Die psychotherapeutische Wende erschien vielen als neue Hoffnung – nicht zuletzt auch wegen der besseren Professionalisierungschancen im Nimbus der Psychotherapie, verglichen mit der mehr proletarisch konnotierten Sozialarbeit.

Die 90er Jahre sieht Fröschl (2001) als „Managementphase“. Wie im gesamten Arbeitsfeld mußte auch in der Frauenszene unter dem Druck marktwirtschaftlicher Ideologie betriebswirtschaftliches Denken Einzug halten. Mit Qualitätssicherungsverfahren sollen Arbeitsabläufe und Arbeitsprodukte standardisiert werden. Professionelle Qualifikation, ein fundiertes Konzept und gute Auslastung reichen als Beleg für Qualität nicht mehr aus. Entsprechend haben für die Beschäftigten Zusatzqualifikationen im Sozialmanagement den beruflichen Stellenwert eingenommen, den zuvor therapeutische Ausbildungen hatten.

Diese Veränderungen der Praxis vollziehen sich selten durch Impulse aus der Wissenschaft. Richtungsweisend sind vielmehr gesellschaftliche und politische Veränderungen, die die Praxis von Frauenprojekten ebenso beeinflussen wie andere Einrichtungen auch. Die universitäre Frauenforschung widmet sich Fragen von Qualität, Effizienz, „Kundenorientierung“ etc. eher wenig. Es mangelt an akademischen Beiträgen zu Management und Qualität aus feministischer Sicht, obwohl z. B. Themen wie die Bedeutung von Beziehungsarbeit in Beratung, Psychotherapie und Betreuung (Fröschl, 2001) oder nicht-hierarchische Strukturen in Frauenprojekten unter einer Qualitätsperspektive Untersuchungen wert wären.

In Nordamerika steht die Entwicklung feministischer Beratung in engem Zusammenhang mit dem Civil Rights Movement der 60er Jahre. Der Kampf von Farbigen, von Frauen und später auch von Schwulen und Lesben um die volle Gewährleistung von Bürgerrechten in Privatleben, Bildung, Beruf und politischer Partizipation wurde besonders im Bereich der mental health services aufgenommen. Hierbei klassifizieren sich Frauen selbst als Minorität – Minorität eher qualitativ als quantitativ auf Diskriminierung und Ausschluß von gesellschaftlichen Hegemonialstrukturen bezogen. Im womens’s liberation movement trafen sich verschiedene feministische Strömungen in der Analyse weiblicher Unterdrückung: Im radical feminism wurde die unterlegene Position von Frauen primär als Ergebnis der – z. T. mit brutaler Gewalt – ausgeübten Macht des Patriarchats untersucht. Marxistische Feministinnen betonten die unterschiedlichen Ausprägungen des Patriarchats in verschiedenen ökonomischen Systemen und blickten auch auf internationale Dimensionen von Ausbeutung weiblicher Arbeit. Von Seiten des black feminism wurde der Zusammenhang von Rassismus und Sexismus in den Vordergrund gestellt (vgl. Day, 1992). Diese Diskussionen dominierten die 70er Jahre. In den 80er Jahren widmeten sich viele Feministinnen, ausgehend von der Parole „the personal is the political“, dem Verhältnis der politischen Strukturen des Patriarchats zur psychischen Innenwelt von Frauen. Untersucht wurde, wie psychisch-emotionale Tendenzen von Frauen von der repressiven Gesellschaftsstruktur mit institutionalisiertem Sexismus bestimmt sind und welche Bedeutung hierbei der Zuschreibung der „Care“-Rolle an Frauen zukommt. Während einige Stimmen hierin eine Psychologisierung des Feminismus sahen und den Verlust politischer Kraft befürchteten, gehen von dieser Diskussion doch wesentliche Impulse für pädagogische, psychosoziale und psychotherapeutische Arbeit aus. Zudem gelang es, zentrale Axiome der Wissenschaft Psychologie als Resultat einseitig männlicher Erfahrung und Wahrnehmung zu identifizieren und auf die „andere“ Erfahrungswelt und Wahrnehmung von Frauen aufmerksam zu machen.

3. Paradigmen der Frauenforschung und ihr Ertrag für feministische Beratung


Das Verhältnis zwischen Frauenforschung und psychosozialer Praxis ist heute lockerer als zu Beginn der Frauenbewegung. Hierbei spielt die erkenntnistheoretische Pluralität feministischer Ansätze ebenso eine Rolle wie die Institutionalisierung von Teilen der Forschung in akademischen Zentren oder das Diffundieren von Frauenforschung in Gender Studies. An zentralen Paradigmen der Frauenforschung zeigen sich jedoch relevante Überschneidungen von Forschung, Theorie und Praxis. Im Einzelnen kann wohl kaum geklärt werden, was zuerst auf der Bildfläche erschien – wissenschaftliche Ansätze oder Bewegungen in der Praxis.

Feministischer Empirismus


Als feministischer Empirismus bezeichnet sich frauenspezifische Forschung und (positivistische) Theoriebildung innerhalb traditioneller empirischer Wissenschaften. Seine Vertreterinnen üben Kritik an der männlichen Dominanz in den jeweiligen „scientific communities“ und demzufolge in der Heuristik und bei der Interpretation von Forschungsresultaten. Forschungsthemen des (weiblichem) Alltagslebens finden wenig Aufmerksamkeit und eigene Deutungen des produzierten Wissens durch Frauen (z. B. über Persönlichkeitsmuster oder Verhalten von Frauen und Männern) werden disqualifiziert. Daraus resultieren Fehler und mangelnde Gültigkeit von Befunden....

Erscheint lt. Verlag 1.10.2020
Reihe/Serie Beratung
Verlagsort Tübingen
Sprache deutsch
Gewicht 365 g
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie
Schlagworte berufliche Beratung • Counselling • Diversität • Feministische Beratung • Frauen • Frauenbewegung • intersektionale Ungleichheit • Psychosoziale Beratung
ISBN-10 3-87159-418-0 / 3871594180
ISBN-13 978-3-87159-418-2 / 9783871594182
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