Antisemitismus: Eine deutsche Geschichte (eBook)

Von der Aufklärung bis heute
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
640 Seiten
Siedler (Verlag)
978-3-641-16577-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Antisemitismus: Eine deutsche Geschichte -  Peter Longerich
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80 Jahre nach dem Holocaust: Ein Buch, das uns die Augen öffnet
Der Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019 hat nicht nur gezeigt, wie gefährlich die Lage für Juden in Deutschland geworden ist - die Debatte hat auch offengelegt, dass antijüdische Einstellungen schon lange in der Mitte der Gesellschaft existieren. Peter Longerich, renommierter Historiker und Mitautor des 2012 veröffentlichten ersten Antisemitismusberichts des Deutschen Bundestags, zeigt, dass wir den gegenwärtigen Antisemitismus in Deutschland nicht begreifen können, wenn wir ihn vor allem als Sündenbock-Phänomen verstehen, wie es hierzulande in Schule und Hochschule gelehrt wird. Denn der Blick in die Geschichte offenbart, dass das Verhältnis zum Judentum bis heute vor allem ein Spiegel des deutschen Selbstbildes und der Suche nach nationaler Identität geblieben ist. Ein brisantes Buch, das mitten in die aktuelle Debatte stößt.

Peter Longerich, geboren 1955, lehrte als Professor für moderne Geschichte am Royal Holloway College der Universität London und war Gründer des dortigen Holocaust Research Centre. Von 2013 bis 2018 war er an der Universität der Bundeswehr in München tätig. Er war einer der beiden Sprecher des ersten unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus des Deutschen Bundestags und Mitautor der Konzeption des Münchner NS-Dokumentationszentrums. Seine Bücher über die »Politik der Vernichtung« (1998) und ihre Resonanz in der deutschen Bevölkerung, »Davon haben wir nichts gewusst!« (2006), sind Standardwerke. Seine Biographien über »Heinrich Himmler« (2008), »Joseph Goebbels« (2010) und »Hitler« (2015) fanden weltweit Beachtung. Zuletzt erschienen »Wannseekonferenz« (2016), »Antisemitismus. Eine deutsche Geschichte« (2021) sowie »Die Sportpalast-Rede 1943. Goebbels und der totale Krieg« (2021)

1. Die »bürgerliche Verbesserung« der Juden im Zeitalter der Aufklärung


Die Judenfeindschaft, jahrhundertelang mit der religiösen Differenz zum Christentum begründet, erhielt gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine neue Qualität: Von dem Moment an, als Vertreter der Aufklärung die Frage der jüdischen Gleichberechtigung zu einem Thema der öffentlichen Debatte machten, richtete sich die Polemik der Judenfeinde nicht mehr primär gegen die Juden als Religionsgemeinschaft, sondern als »Nation« bzw. als fremde ethnische Gruppierung. Je deutlicher die Forderung nach jüdischer Emanzipation erhoben wurde, desto schärfer reagierten deren Gegner; so wurde in drei Phasen (Anfang der 1780er, Anfang der 1790er sowie zwischen 1799 und 1803) in einem ständig verschärften polemischen Ton bereits ein Kernbestand von »Argumenten« gegen Juden als gleichberechtigte Mitbürger zusammengetragen, die den Antisemiten kommender Generationen als Fundament für ihre Demagogie dienen sollten.

Doch so sehr sich auch die Judenfeindschaft Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts argumentativ veränderte: Emanzipationsgegner und -befürworter waren sich einig, dass der traditionelle rechtliche und soziale Status der Juden unhaltbar geworden war. Tatsächlich bestanden die aus dem Mittelalter stammenden Beschränkungen der jüdischen Existenz im Wesentlichen auch während des 18. Jahrhunderts fort, ja sie wurden durch den bürokratischen Apparat des absolutistischen Staates ausgefeilt und verschärft. Diese Beschränkungen betrafen die wirtschaftliche Betätigung der Juden, den Erwerb von Grund- und Hausbesitz, die Niederlassungsfreiheit, die Eheschließung und vieles anderes mehr. Die Juden standen nach wie vor außerhalb der ständischen Ordnung, sie hatten für den ihnen gewährten »Schutz« in erheblichem Umfang finanzielle Gegenleistungen (»Schutzgelder«) zu entrichten, waren zahlreichen anderen Sonderabgaben unterworfen und hafteten kollektiv für die ihnen auferlegten Verpflichtungen.

Dabei waren die Verhältnisse in den mitteleuropäischen Territorien sehr verschieden; in den einzelnen Landesteilen der größeren Staaten existierten zusätzlich häufig unterschiedliche »Judenordnungen«. Zudem war der Rechtsstatus der jüdischen Bevölkerung nirgendwo einheitlich geregelt, sondern entsprechend ihrer sozialen Hierarchie sorgfältig abgestuft. Zu diesem Zweck unterschied man im Allgemeinen: eine privilegierte Oberschicht, häufig »Hofjuden« mit engen Verbindungen zu den regierenden Häusern; die »Schutzjuden«, denen eine wirtschaftliche Tätigkeit erlaubt war; dann ihre zum Teil nur geduldeten, aber nicht ausdrücklich geschützten Angehörigen; schließlich Gemeindeangestellte sowie Gesinde. Darüber hinaus existierte eine in ungesicherten rechtlichen und prekären wirtschaftlichen Verhältnissen lebende jüdische Unterschicht. Über diesem komplizierten Reglement standen das auf die Wohlfahrt des Staates gerichtete Nützlichkeitsdenken und das fiskalische Interesse der Regierenden, was zur Folge hatte, dass wohlhabende Juden durchaus Verhandlungsspielraum für Privilegierungen und Ausnahmeregelungen hatten, während die als weniger »nützlich« angesehenen Glaubensgenossen in erheblichem Umfang den Willkürmaßnahmen ausgesetzt waren.1 Neuere, detaillierte Studien zur Situation der preußischen Juden im 18. Jahrhundert zeigen etwa, dass diese mitnichten zunehmende Rechtssicherheit genossen und als Folge der gezielten und exzessiven fiskalischen Abschöpfung unter Friedrich II. weitgehend verarmten. Ein nennenswerter jüdischer Mittelstand bestand am Ende des Ancien Régime in Preußen nicht.2 Diese Befunde lassen sich auch im Hinblick auf andere deutsche Territorien bestätigen.3 Folge war das stetige Anwachsen der Zahl mittelloser »Betteljuden« sowie in ärmlichsten Verhältnissen lebenden Hausierern und Trödlern. Andererseits konzentrierte sich eine kleine Schicht emporstrebender jüdischer Kaufleute und Unternehmer, häufig gefördert durch Maßnahmen, die im staatlichen Eigeninteresse lagen, in bestimmten Handels- und Gewerbezweigen und setzte durch ihr vergleichsweise flexibles und dynamisches Wirtschaften die alteingesessene, noch im Zunftdenken verhaftete christliche Kaufmannschaft unter Konkurrenzdruck. Beides, die Armut der großen Masse und der Wohlstand der wenigen privilegierten Aufsteiger, nährte den Unmut der in ihren traditionellen Vorurteilen verhafteten christlichen Mehrheit. Zudem nahm man Anstoß an der als rückständig und störend gesehenen religiösen und kulturellen Eigenexistenz der Juden, an ihrer »Absonderung«, obwohl diese ja nicht zuletzt Folge der auf Ausgrenzung setzenden staatlichen »Judenpolitik« war. Dabei gingen die absolutistisch regierten Staaten immer mehr dazu über, die traditionelle Autonomie der jüdischen Gemeinden – sie betraf insbesondere die Rechtsprechung in zivilen und religiösen Dingen, Eheangelegenheiten, Steuereintreibung sowie das Armen- und Schulwesen – abzubauen und sie stärkerer staatlicher Kontrolle zu unterwerfen, wodurch sich wiederum die Bindung an die Gemeinden lockerte und die Abschottung zwischen christlicher und jüdischer Lebenswelt verringert wurde.4

Angesichts dieser Situation kam im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts unter einer Reihe von der Spätaufklärung zuzurechnenden Gelehrten und Beamten die Idee auf, diese verwinkelte und allgemein als unbefriedigend empfundene Sonderexistenz der Juden nicht durch immer weitere staatliche Interventionen zu perpetuieren, sondern im Gegenteil ihre Situation durch eine schrittweise Aufhebung der zahlreichen Diskriminierungen und Verbote zu verbessern und sie zu weitgehend oder gar vollständig gleichberechtigten Bürgern zu erziehen. Diese Überlegungen ergaben sich zum einen aus dem rationalen Effizienzdenken der Reformer, die zugleich im Geiste der Aufklärung Menschenrechte und religiöse Toleranz durchsetzen und im Namen der Vernunft althergebrachte Vorurteile und menschliches Elend beseitigen wollten. Vor allem aber war für die Reformer die letztendliche Gleichberechtigung der Juden unumgänglich im Rahmen eines sich abzeichnenden (und von den Aufklärern gewollten) sehr viel weiter gehenden gesellschaftspolitischen Transformationsprozesses, der die Qualität eines epochalen Wandels hatte: nämlich die Ablösung der Ständegesellschaft durch eine Gesellschaft gleichberechtigter qualifizierter Staatsbürger, in der die enge Verbindung von Kirche und Staat aufgehoben und Religion nur noch als Privatsache gelten würde. Das bedeutete aber, dass derjenige, der sich zum Anwalt der »bürgerlichen Verbesserung« der Juden mit dem Endziel der Emanzipation machte, die abgestufte ständische Gesellschaftsordnung und ihren christlichen Charakter infrage stellte und gleichzeitig die Juden in die Rolle der Vorboten einer neuen Zeit mit weitreichenden Veränderungen brachte. Die Gegner der Emanzipation wiederum mussten, wenn sie die alte Ordnung nicht aufgeben wollten, die Abgesondertheit und gänzlich andere Mentalität (und das hieß vor allem eine Minderwertigkeit) der Juden hervorheben. Ihre Polemik war nicht mehr gegen die jüdische Religion als solche gerichtet, sondern gegen ihre Rolle als Grundlage einer vollkommen anders gearteten sittlich-kulturellen Lebensweise der Juden. Ihre mentale Reservation gegen die Emanzipation beruhte nicht nur auf traditionellen Vorurteilen, sondern ergab sich aus der Befürchtung, mit der Emanzipation der relativ kleinen jüdischen Bevölkerungsgruppe Tür und Tor für einen nicht mehr überschaubaren Umwälzungsprozess zu öffnen. Aus einer Minderheitenfrage wurde eine »Prinzipienfrage der Gesellschaftsordnung«.5

Die Heftigkeit der Emanzipationsdebatte Ende des 18. Jahrhunderts wird aber nur verständlich, wenn man gleichzeitig einen zweiten Diskurs in Betracht zieht. Denn die gleichen gebildeten, bürgerlichen Kreise waren zu dieser Zeit intensiv damit befasst, ihre eigene kollektive »nationale« Identität zu suchen und zu begründen. Die Frage: Wer sind wir, und was zeichnet uns aus?, beinhaltete – ausgesprochen oder nicht – aber auch eine Positionierung gegenüber dem Judentum: Wer sind die Juden, und gehören sie zu uns?

Die Emanzipationsdebatte begann in einem Zeitraum, in dem auch die Grundlagen für die moderne deutsche Nationalbewegung geschaffen wurden. Die Idee der Zusammengehörigkeit aller Deutschen auf gemeinsamer »nationaler« Grundlage sollte die so dringend benötigte Einheit und Loyalität stiften – in einer Zeit tiefgreifender Veränderungsprozesse, in der die alte ständische Ordnung in die moderne Staatsbürgergesellschaft überführt wurde und in der sich eine neue, auf Marktbeziehungen, Leistung und Kapitaleinsatz beruhende Wirtschaftsordnung herausbildete, und das in einem großen, zunehmend nach einheitlichen Gesichtspunkten gestalteten und erschlossenen Raum, dem Territorium des künftigen Nationalstaates. Die moderne Nationalbewegung konnte dabei an kollektive Vorstellungen und Identitäten anknüpfen, die sich bis ins Spätmittelalter zurückführen lassen und sich unter anderem an Genealogie, Sprache und Territorialität orientierten.6 Zur unmittelbaren Vorgeschichte des modernen Nationalismus in Deutschland gehören jedoch auch eine Reihe von Entwicklungen, die in das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts fallen, also in den Zeitraum, in dem die Emanzipationsdebatte ihren Anfang nahm. Zu dieser Vorgeschichte, die als »Frühnationalismus«, »Deutsche Bewegung« oder als »Nationalismus vor dem Nationalismus«7 bezeichnet wird, sind insbesondere folgende Faktoren zu rechnen:

  • Grundvoraussetzung für die...

Erscheint lt. Verlag 19.4.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Antisemitismus in Deutschland • eBooks • Geschichte • Holocaust • Identität • Islamismus • Jerusalemer Erklärung • Judenfeindschaft • Juden in Deutschland • Judentum • Patriotismus • Pogrom • Wiedervereinigung
ISBN-10 3-641-16577-6 / 3641165776
ISBN-13 978-3-641-16577-2 / 9783641165772
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