Wut (eBook)

Roman
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2021 | 1. Auflage
272 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2460-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wut -  Harald Martenstein
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Frank erlebt die Wut seiner Mutter als wilde Ausbrüche. Er liegt unter dem Bett, und sie stochert mit dem Besenstiel nach ihm. Wenn er unter dem Bett bleibt, verliert er, wenn er hervorkrabbelt, verliert er erst recht. Niemand scheint zu bemerken, dass er regelmäßig verprügelt wird. Die Lehrer nicht, sein Vater nicht. Nur die Großmutter sagt hin und wieder etwas zur Mutter. Dann ist für ein paar Wochen Ruhe. Als Kind beginnt Frank zu verstehen, dass er den Träumen seiner alleinerziehenden Mutter im Weg steht. Als Jugendlicher beginnt er zu ahnen, dass sie selbst traumatisiert worden sein muss: Im Krieg, in dem Bordell, wo sie in der Nachkriegszeit Unterschlupf fand, in der Klosterschule, die sie aufnahm, weil sie so intelligent war. Eines Tages eskaliert ein Streit, und die Nachbarn rufen die Polizei. Frank springt panisch aus dem Fenster, doch niemand glaubt ihm, dass er von seiner Mutter angegriffen wurde. Er kehrt nie wieder nach Hause zurück, sondern meistert sein Leben von diesem Moment an selbst. Ein Roman darüber, wie schwer es ist, die Wunden der Kindheit zu heilen.

Harald Martenstein, geboren 1953 in Mainz, ist ein deutscher Journalist und Autor. Seit 2002 schreibt er eine Kolumne für 'Die Zeit', die auch im RBB und im NDR zu hören ist. Für seine Arbeit wurde er mit dem Egon-Erwin-Kisch-, dem Henri-Nannen- und dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. Außerdem lehrt er an der Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel und an Journalistenschulen in Österreich und der Schweiz. Harald Martenstein lebt in Berlin.

Harald Martenstein, geboren 1953 in Mainz,  ist ein deutscher Journalist und Autor. Seit 2002 schreibt er eine Kolumne für "Die Zeit" . 2004 erhielt er den Egon-Erwin-Kisch-Preis. Er lehrt zeitweise an der Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel und an der Henri-Nannen-Schule in Hamburg. Seit Herbst 2007 hat er auf radioeins vom RBB eine eigene Radiokolumne.

MARIA


Ich muss damals zwölf gewesen sein, oder dreizehn. Wir wohnen schon in dem Hochhausviertel. Die Tür meines Zimmers ist mit meinem Tisch und mit Stühlen verbarrikadiert, ich habe das gemacht. Einen Zimmerschlüssel besitze ich nicht, Maria hat ihn mir abgenommen.

Die Erinnerung beginnt mit einem Geräusch. Maria tritt die Tür auf, als wäre das gar nichts. Die Barrikade schiebt sie einfach weg. Sie war unglaublich stark.

Ich krieche unters Bett. Sie holt den Besen, mit dem Besen schlägt und stochert sie unter dem Bett nach mir. Dabei schreit sie: »Komm raus, Drecksau, verkriech dich nicht, du Stück Scheiße.« Die genauen Worte habe ich vergessen, es war etwas in dieser Art. Ich erinnere mich an den Staub unterm Bett. Ich kann ihn heute noch riechen. Maria achtete sehr auf Sauberkeit, deshalb habe ich mich gewundert. Aber ein bisschen Staub ist unter einem Bett natürlich immer da. Als Kind weiß man das nicht. Ich erinnere mich an Bettfedern, die an meinen Rücken drückten, und an den Besenstiel, der mich aber nur ein, zwei Mal voll trifft. Die meisten Stöße kann ich mit Händen und Füßen abfangen. Nach einer Weile wird sie ruhig und eisig. Sie sagt: »Komm raus, dir passiert nichts. Ich will nur mit dir reden.«

Ich wusste, dass man ihr, wenn sie in diesem Zustand war, nicht trauen konnte. Andererseits kann ich nicht ewig unter diesem Bett bleiben. Ich gehe ihr sowieso nicht durch die Lappen. Die Wohnungstür hat sie garantiert abgeschlossen und den Schlüssel versteckt.

Als ich hinausgekrochen bin, packt sie meine Haare und reißt den Kopf hin und her, ungefähr wie man eine Fahne schwenkt. Dann nimmt sie mir vorsichtig die Brille ab. Jetzt geht das Ohrfeigen los.

Maria hat mich nach meiner Erinnerung fast immer ins Gesicht geschlagen. Der Rest des Körpers hat sie nie interessiert. Sie schlägt, bis ihre Arme müde werden. Dabei schreit sie ununterbrochen, dass ich ihr Unglück bin, dass ich ihr Leben kaputt mache, dass ich undankbar bin, dass ich ins Internat komme, solche Sachen. Wenn ihre Arme eine Pause brauchen, drückt sie mich an die Wand und bringt ihr Gesicht ganz nah an meines. Da passt nur ein Stück Papier zwischen unsere Gesichter. Auge in Auge. Sie schreit, dass ich genauso bin wie mein Vater. Ein Stück Scheiße eben. Ein Feigling. Der Schlappschwanz des Jahrhunderts. Manchmal spuckt sie mich an, aus kurzer Distanz. Das macht mir mehr aus als die Schläge. Weil sie das mitbekommen hat, tut sie es erst recht. Wenn sie mit Schreien und Spucken fertig ist und sich ihre Arme erholt haben, geht wieder das Ohrfeigen los.

Das ist wie ein Film, der jahrelang immer wieder in meinem Kopf abgelaufen ist. Warum erinnere ich mich gerade an diese eine Szene so intensiv, die mit dem Bett? Vielleicht, weil ich nur ein einziges Mal unter das Bett gekrochen bin. Oder deshalb, weil sie an diesem speziellen Tag unbedingt wollte, dass auch mein Stiefvater mitmacht. Sie brüllt ihn an, tu du doch auch mal was, zeig endlich, dass du ein Mann bist und kein Schwächling. Zeig’s ihm. Ich habe in Erinnerung, dass er sich irgendwie gedrückt hat, wahrscheinlich hat er gesagt, dass er noch zu einem Kunden fahren muss. Er hat mich tatsächlich nie geschlagen, obwohl wir uns nicht mochten und nur das Nötigste miteinander redeten. Bestimmt hat sie ihn sich deswegen hinterher zur Brust genommen. Es wäre einfacher für ihn gewesen, ein paar Mal mit halber Kraft zuzuschlagen.

Mein echter Vater hat mich auf ihren Wunsch ein paar Mal übers Knie gelegt, so hieß das damals. Es war eine richtige Zeremonie. Ich musste vorher die Hose und die Unterhose runterlassen und mich nach vorne beugen, über seine Beine. Dann schlug er mir auf den Hintern, was wirklich eine Kleinigkeit ist, verglichen mit dem Gesicht. Aber das kam selten vor. Vielleicht ist es sogar nur ein oder zwei Mal gewesen. Ich war damals noch klein, höchstens sechs. Später wohnte er nicht mehr bei uns, und er machte so etwas nicht von sich aus. Ich habe in Erinnerung, dass er schwach zuschlug, nicht mal mit halber Kraft, da war nicht dieser unglaubliche Wumm und dieser Hass dahinter wie bei Maria. Er hat mich nicht angeschaut hinterher und ging schnell aus dem Zimmer. Es war ihm unangenehm.

Marias Männer waren immer weich. Ich glaube, dass Marias Stärke und ihre unglaubliche Energie und natürlich ihr tolles Aussehen sie angezogen haben. Wenn man sich ihr unterordnete, wenn man nicht zu dünnhäutig war, dann ging es. Heute glaube ich, dass sie die Männer, die sie liebten, alle verachtet hat. Mit einer Ausnahme. Sie wollte etwas Viriles, Starkes. Einen, der ihr ebenbürtig war und ihr Paroli bieten konnte. Aber wie hätte das funktionieren sollen, sie und einer, der genauso tickt wie sie? Es wäre auf Mord und Totschlag hinausgelaufen.

Für mich wäre es leichter gewesen, wenn ich geheult und um Gnade gefleht hätte. Dann hätte sie früher aufgehört. Ein bisschen Gewinsel, und sie hätte aufgehört. Nicht sofort, aber bald. Ich war der Mann, von dem sie träumte. Ich war stark, ich habe niemals klein beigegeben. Und ich wusste, sie will genau das. Sie will, dass ich in meinem Blut, meinem Rotz und meiner Pisse auf dem Boden krieche und um Gnade winsele, aber das habe ich nicht gemacht. Jedenfalls nicht, als ich schon etwas größer war. Vielleicht war es so, als ich drei gewesen bin, das habe ich vergessen. Ja, irgendwann muss ich kapiert haben, was sie will. Und genau das hat sie nie bekommen.

Ich habe niemals geweint. Ich habe sie angegrinst. Ich habe gelacht, während sie sich die Arme müde schlug, rechts, links, immer voll in die Fresse. In ein lachendes Gesicht. Ich habe dabei gedacht: »Ich bin eine Festung. Diese Festung ist uneinnehmbar. Niemand kommt durch meine Mauern.«

Das hat sie rasend gemacht. Dieses Lachen. Ich habe es gemacht wie Muhammad Ali in dem berühmten Boxkampf gegen George Foreman, Zaire, Rumble in the Jungle. Muhammad Ali stand in seiner Ecke, er wehrte sich kaum, er ließ diesen unglaublich starken und wilden Foreman einfach schlagen, bis Foreman endlich müde war, und am Ende blieb Ali der Sieger. Sie war unbesiegbar, wie Foreman. Aber ich habe gewonnen, wie Ali. Ich habe ihr in die grünen, wutverheulten Augen geschaut und gelacht, bis sie nicht mehr konnte. Das nächste Mal würde sie noch härter zuschlagen, aber ich würde auch dann nicht zu Boden gehen, niemals. Sie hätte mich schon totschlagen müssen, um zu gewinnen. Aber davor hatte sie Angst, und das wusste ich.

Ich bin ins Plaudern geraten, fürchte ich. Ich habe mich in Kindheitserinnerungen verloren.

Viele Erinnerungen habe ich nicht. Meine Kindheit ist nur in Bruchstücken vorhanden. Es sind wenige Szenen, die kurz aufleuchten, in einer leeren Weite des Vergessens. Niemals weiß ich, ob mir meine Erinnerung nicht einen Streich spielt. War es denn wirklich so?

Wenn ich auf meine Geschichte zurückblicke, öffnet sich irgendwann ein Vorhang, das Licht geht an, und ich stehe da, ein Erwachsener auf der Bühne des Lebens, der nicht weiß, wie er da hingekommen ist, in diesen Lichtkegel. Da sind eben nur diese Bruchstücke, Splitter, einzelne grell beleuchtete Bilder, eingebettet in das Vergessen. Die Erinnerung an die Schule ist ab der dritten, vierten Klasse ganz passabel. Da fallen mir Namen ein und ein paar Vorfälle. Das, was zu Hause passierte, ist weg. Bis heute bin ich ein Mensch, der viel vergisst, nicht Termine, nicht Verpflichtungen, das funktioniert, aber das Leben als solches vergesse ich. Manchmal treffe ich Leute, die behaupten, wir seien gute Freunde gewesen, sie erzählen von gemeinsamen Partys, von Streichen, von einer Schülerzeitung, die wir gemeinsam gemacht hätten. Ich weiß nicht, wovon sie reden.

Man denkt da sofort an Verdrängung. Aber das trifft es nicht. Soweit ich weiß, verdrängen Menschen das Unangenehme, das, womit sie nicht zurechtkommen. Mein Gehirn speichert auch angenehme Erinnerungen nicht. Es ist nun mal aufs Löschen programmiert, egal was, es wird gelöscht, sofern die Information nicht notwendig ist, um sich im Leben zurechtzufinden. Und sogar das Notwendige vergesse ich manchmal. Es kommt vor, dass ich mich auf dem Heimweg verirre, oder sogar überrascht bin, wenn jemand sich für eine Einladung vom Vortag bedankt.

Alles, was ich erzähle, ist unter diesem Vorbehalt zu sehen. Ich kann mich täuschen, es kann anders gewesen sein. Einmal, vor Jahren, wollte auf dem Amt ein Mann von mir wissen, wo ich wohne, ich musste kurz überlegen, die Scham, die ich dabei empfunden habe, erinnere ich noch gut. Mein Gedächtnis kommt mir vor wie eine unaufgeräumte Kiste. Du greifst hinein und weißt vorher nie, was du in der Hand halten wirst, eine abgebrochene Türklinke, ein Bündel alter Briefe, eine Dauerwurst oder den Reisepass.

Die Festplatte ist also fast leer. Dafür hat das Gehirn den Arbeitsspeicher großzügig ausgeweitet. Sie würden staunen. Alles hat sein Gutes. Ich lese ein Buch und kann mir für eine gewisse Weile alles merken, fast jeden Satz. Die geistige Energie, die andere für ihr privates Gedächtnis aufwenden müssen, steht mir für andere Aufgaben zur Verfügung, und das ist praktisch.

Mit Leuten zu reden, die ich nicht gut kenne, strengt mich an. Wenn ich die Wahl hätte, mit ein paar unbekannten Menschen, Fremden, kostenlos eine Weltreise zu machen oder stattdessen drei...

Erscheint lt. Verlag 1.2.2021
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Geisteswissenschaften Geschichte
Geisteswissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie
Geisteswissenschaften Psychologie Entwicklungspsychologie
Schlagworte Aggressionsstörung • Anger Management • Autbiographisches Schreiben • Autofiktionaler Roman • autofiktionales Schreiben • Befreiung • Benachteiligung von Frauen • Demenz • Emanzipation • Empowerment • Erinnerungen • Familie • Feminismus • Frauenbewegung • gewalttätige Eltern • Kindesmissbrauch • Kindesmisshandlung • Missbrauch von Frauen • Mutter-Sohn-Beziehung • Nachkriegsdeutschland • PTBS • Trauma • Traumatisierung • Vergebung • Verzeihen • Wirtschaftswunder • Wut
ISBN-10 3-8437-2460-1 / 3843724601
ISBN-13 978-3-8437-2460-9 / 9783843724609
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