Flucht - Eine Menschheitsgeschichte (eBook)

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2020 | 1. Auflage
432 Seiten
Siedler (Verlag)
978-3-641-20616-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Flucht - Eine Menschheitsgeschichte -  Andreas Kossert
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Ausgezeichnet mit dem NDR Kultur Sachbuchpreis als bestes Sachbuch des Jahres 2020, nominiert für den Deutschen Sachbuchpreis 2021, prämiert mit dem Preis für 'Das politische Buch' 2021 der Friedrich-Ebert-Stiftung
Andreas Kossert, renommierter Experte zum Thema Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert und Autor des Bestsellers »Kalte Heimat«, stellt in diesem Buch die Flüchtlingsbewegung des frühen 21. Jahrhunderts in einen großen geschichtlichen Zusammenhang. Immer nah an den Einzelschicksalen und auf bewegende Weise zeigt Kossert, welche existenziellen Erfahrungen von Entwurzelung und Anfeindung mit dem Verlust der Heimat einhergehen - und warum es für Flüchtlinge und Vertriebene zu allen Zeiten so schwer ist, in der Fremde neue Wurzeln zu schlagen. Ob sie aus Ostpreußen, Syrien oder Indien flohen: Flüchtlinge sind Akteure der Weltgeschichte - Andreas Kossert gibt ihnen mit diesem Buch eine Stimme.

»Flucht« wurde mit dem NDR Kultur Sachbuchpreis 2020 und mit dem Preis für »Das politische Buch« 2021 der Friedrich-Ebert-Stiftung ausgezeichnet.

»Kossert zeigt auf, dass Flucht und Vertreibung nicht das Problem der anderen ist, sondern gerade auch in Deutschland tief verwoben ist mit der eigenen Familiengeschichte.« (Aus der Begründung der NDR-Sachbuchpreis-Jury)

  • »In diesem wichtigen, brillant erzählten Buch zeichnet Andreas Kossert das bedrückende Panorama eines jahrhundertealten und zugleich höchst aktuellen Menschheitsdramas. Er beleuchtet die Anatomie eines Massenphänomens. Doch im Zentrum stehen die einzelnen Flüchtlinge, ihre Schicksale und Zeugnisse. Das Buch für unsere Zeit!« (Christopher Clark)
  • »Ein Buch, das einen nicht kalt lässt...Ebenso brillant geschrieben wie komponiert.« (rbb kulturradio)


Andreas Kossert, geboren 1970, studierte Geschichte, Slawistik und Politik. Der promovierte Historiker arbeitete am Deutschen Historischen Institut in Warschau und lebt seit 2010 als Historiker und Autor in Berlin. Auf seine historischen Darstellungen Masurens (2001) und Ostpreußens (2005) erhielt er begeisterte Reaktionen. Zuletzt erschienen von ihm der Bestseller »Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945« (2008), »Ostpreußen. Geschichte einer historischen Landschaft« (2014) sowie »Flucht - Eine Menschheitsgeschichte« (2020). Für seine Arbeit wurden ihm der Georg Dehio-Buchpreis 2008, der NDR Kultur Sachbuchpreis 2020 und der Preis für »Das politische Buch« 2021 der Friedrich-Ebert-Stiftung verliehen.

Am frühen Morgen des 21. Januar 1945 bricht Friedrich Biella mit seiner Familie und zwei Pferdewagen aus einem kleinen Dorf in Masuren auf. In seinem Notizbuch steht für diesen Tag der knappe Eintrag »Befehl zum Verlassen meines Hofes«. Ungelenk formuliert, kündigt der Bauer in diesem Moment den ungeschriebenen Generationenvertrag mit seinen Vorfahren. Er muss alles zurücklassen, was gestern noch wichtig war, Land und Hof, Einrichtung und Erinnerungen – und auch die Tiere. »Unsere Hündin ›Senta‹ hat uns ein Stück Weges begleitet. Je weiter wir uns vom Dorf entfernten, wurde sie immer unsicherer. Sie ist dann schließlich auf unser Anraten wieder nach Haus gelaufen.«

Weil die Anstrengungen der Flucht alle Kräfte binden, setzen die Aufzeichnungen erst Ende März 1945 wieder ein, als Friedrich Biella nach einer Odyssee durch Ostpreußen und über das vereiste Frische Haff, durch Hinterpommern, über die Oder und schließlich durch Mecklenburg im Herzogtum Lauenburg strandet. Nach Kriegsende fragt er Woche für Woche bei der britischen Militärkommandantur nach, wann er zurückkehren könne. Dort vertröstet man den alten Mann. In seinem Notizbuch verzeichnet er die stets gleichlautende Antwort: »Mit der Rückfahrt noch warten.« Sein Leben in der Britischen Zone, zwangseinquartiert bei fremden Menschen, erträgt der Bauer nur schwer.

Im Dezember 1946 steht das zweite Weihnachtsfest in der Fremde vor der Tür. Seine Frau Luise sorgt sich um die Kinder und Enkelkinder, die verstreut über die Besatzungszonen leben. Friedrich Biella schreibt am 21. Dezember 1946 an seine jüngste Tochter Lotte, die mit ihren vier kleinen Kindern Obdach im Raum Hannover gefunden hat. »Meine lieben Kinder alle! Ich will Euch auch einmal einen kleinen Brief aus unserem Asyl schreiben«, beginnt er. »Wie lange dieser Zustand noch dauern wird, wissen wir alle nicht.« Die große Familie kann nicht zusammenkommen, und das bedrückt den alten Mann. Er selbst und seine Frau sind wenigstens auf dem Land untergekommen, wo sie in der kalten Jahreszeit heizen können. »Wir machen uns viele Sorgen um Euch alle, jetzt vor allen Dingen wegen des Brennmaterials, wir auf dem Lande können noch etwas besorgen, aber die in den Städten sind sehr schlimm dran.« Da er aus der Ferne nicht helfen kann, muss er sich auf Weihnachtsgrüße an die Tochter und die Enkelkinder beschränken. »Weihnachten verlebt dieses Jahr, wie es uns die Verhältnisse gestatten, und Dir, mein Lottchen, schicke ich als Weihnachtsmann diese Kleinigkeit, mög es Dir gut zu statten kommen. Wenn Eure Zeit es gestattet, so laßt von Euch hören, denn jedes Briefchen von Euch erfreut uns beide sehr. Und nun lebt recht herzlich wohl, alle meine lieben Kinder, und seid alle geherzt und geküßt von Euren alten Eltern.«

Im folgenden Jahr schwinden Friedrich Biellas Kräfte. Es weiß nun, dass es sinnlos ist, bei der Kommandantur nachzufragen, denn eine Rückkehr in die masurische Heimat ist unmöglich. Im Winter stirbt er mit 73 Jahren an Heimweh.1 Für Friedrich Biella aus Masuren erfüllt sich sein größter Wunsch, die Rückkehr in die Heimat, nicht mehr. In der Weltchronik über das Fliehen steht seine Geschichte für Abermillionen ähnlicher Schicksale.

Flüchtlinge, ganz gleich, ob es sich um Fremde oder Landsleute handelt, sind gewöhnlich nicht willkommen. Daran hat sich im Laufe der Jahrhunderte nichts geändert. Im August 2019 ist an der Eingangstür des Mayhill Convenience Store im US-Bundesstaat New Mexico ein Schild angebracht mit der Aufschrift »Illegal Immigrants NOT Welcome Here«. 2014 fordern Dresdener Demonstranten auf Plakaten »Bitte weiterflüchten«, und britische Rechtsextreme halten Banner mit der Aufschrift »Refugees go home« in die Höhe. Noch deutlicher lassen sich das Unverständnis und die Ignoranz in den Aufnahmeländern nicht zum Ausdruck bringen. Flüchtlinge können nicht einfach weiterflüchten, und sie würden nichts lieber tun, als nach Hause zurückkehren, aber genau das können sie nicht. Wo auch immer sie stranden, sie stören. Auf die Sesshaften wirken sie wie Heuschreckenschwärme, die über ihre geordnete Welt herfallen und abgewehrt werden müssen. Nicht selten werden sie als Illegale und Asoziale beschimpft.

»Wie müde sie aussehen, wie erhitzt sie sind«, wiederholten die Leute, aber keiner kam auf den Gedanken, seine Tür zu öffnen, einen dieser Unglücklichen zu sich einzuladen, ihn in eines jener kleinen schattigen Paradiese zu bitten, die hinter dem Haus zu erahnen waren, mit einer Holzbank unter einer Laube, Johannisbeersträuchern und Rosen. Es gab zu viele Flüchtlinge … Das schreckte die Nächstenliebe ab. Diese jammervolle Menge hatte nichts Menschliches mehr; sie ähnelte einer fliehenden Herde.2

Es ist kein Zufall, dass diesen Zeilen nicht zu entnehmen ist, um welches Land, welche Zeit und welche Flüchtlinge es sich handelt. Die unzähligen Geschichten von Flucht vor Gewalt und Krieg ähneln sich so sehr, dass sie zu einer einzigen großen zu verschmelzen scheinen. In diesem Fall beschreibt Irène Némirovsky in ihrem Roman Suite française, wie französische Flüchtlinge im Sommer 1940 vor der deutschen Wehrmacht fliehen. Ihnen ergeht es nicht viel anders als dem ostpreußischen Jungen Olaf, der 1945 im bayerischen Chiemgau um Lebensmittel bettelt. »Verschwind’s, damisches Gesindel!«, rufen Bauern hinter ihm her und lassen die Hunde von der Kette. »Hinaus mit den Flüchtlingen aus unserem Dorf! Gebt ihnen die Peitsche statt Unterkunft – dem Sudetengesindel! Es lebe unser Bayernland!«, fordern Bayern auf einem anonymen Plakat. Im Raum Hannover schimpfen Einheimische: »Die Zigeuner aus dem Osten verpesten unser Land.« Und auf einem Bauernhof im Münsterland muss eine junge westpreußische Vertriebene mit anhören, was man über sie sagt: »Dieses dämliche Stückchen Polackenscheiße dachte, wir würden die alten Polacken aufnehmen.«3 Die Millionen deutschen Landsleute aus Ostpreußen, Böhmen oder Schlesien sind jenseits von Oder und Neiße einfach nur die Flüchtlinge, und sie sind keineswegs willkommen, sondern werden als bedrohliche Störung empfunden.

Ebenso ergeht es den Menschen aus Syrien, aus Afghanistan oder den Staaten Afrikas, die heute nach Europa kommen. Wer sich für sie einsetzt, läuft Gefahr, als »Gutmensch« verhöhnt zu werden. Zynische Politiker scheuen sich nicht, die Schutzsuchenden herabzusetzen. Matteo Salvini etwa bezeichnete 2018, als er noch italienischer Innenminister war, aus Seenot gerettete Flüchtlinge und Migranten als »Ladung Menschenfleisch«, und US-Präsident Donald Trump schmäht Immigranten ohne Papiere als »Tiere«, als »Mörder und Diebe«, die »unser Land infizieren«.4 Solchen Worten, das lehrt die Geschichte, drohen mörderische Taten zu folgen. Der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke appelliert auf dem Höhepunkt der »Flüchtlingskrise« 2015 an das Mitgefühl seiner Landsleute und wird vier Jahre später von Rechtsextremisten auf der Terrasse seines Hauses hinterhältig ermordet.

Ob aus Syrien, aus Schlesien oder aus Myanmar, die Flüchtlinge sind eine beliebte Projektionsfläche für jene, die Angst haben, ins Hintertreffen zu geraten, die ihre Sicherheit bedroht sehen. Das individuelle Schicksal zählt nicht. Der Flüchtling, der ein Gesicht, einen Namen und eine persönliche Geschichte hat, wird nicht als Individuum wahrgenommen, sondern ausschließlich als Repräsentant eines anonymen Kollektivs. Was die Mitglieder dieses Kollektivs empfinden, hat die Syrerin Vinda Gouma beschrieben:

Versuchen Sie zu erraten, wer ich bin! Ich bin mehr in den Medien als Donald Trump und seine Tweets, Erdogan und seine Demokratie, Putin und seine Politik. Ich war der Hauptgrund für das Scheitern der Regierungsbildung in Deutschland und für das Erstarken der Rechten in Europa. Ich bin die große Sorge vieler Bürger in diesem Land, denn ich bin gefährlicher als Altersarmut, Misshandlungen in den Familien, Umweltverschmutzung, Drogenkonsum, Klimawandel, Mangel an Pflegekräften und Erziehern. Ich bin derjenige, der sich immer schuldig fühlt für die Fehler anderer Menschen. Ich bin derjenige, der sich immer schämt, Nachbarn zu begrüßen, wenn wieder irgendwo etwas passiert. Ich hafte für die Fehler jedes einzelnen und fühle mich bedroht von jedem Bericht in den Medien. Habt ihr mich erkannt? Ich bin die Flüchtlinge! Und es ist kein grammatikalischer Fehler aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse. Ich bin die Flüchtlinge! Und zwar alle Flüchtlinge. Ich bin kein Arzt, kein Jurist, weder Bauer noch Journalist, kein Künstler, kein Verkäufer, weder Taxifahrer noch Lehrer, sondern die Flüchtlinge. Obwohl ich auch aus einer kleinen Stadt in Syrien komme und für mich die Leute in Damaskus schon fremd waren, bin ich, seitdem ich in Europa bin, einer von Hunderttausenden Flüchtlingen aus Syrien, Pakistan, Afghanistan, Irak, Iran und Afrika. Obwohl wir unterschiedliche Sprachen sprechen, verschiedene Religionen und Vergangenheiten haben, geschweige denn Weltansichten und Meinungen. Aber wen interessieren solche Unterschiede, wir sind am Ende alle die Flüchtlinge. Ich habe durch den Krieg Freunde und Verwandte verloren, Wohnung, Job, Auto, meine Vergangenheit und meine Heimat. Aber ein Verlust, den ich erst später gespürt habe, ist meine Individualität, die ich am Schlauchboot an den Grenzen Europas zurückgelassen habe.5

Wie die Juristin aus Syrien empfinden Tausende ihrer Landsleute, die ein friedliches und bürgerliches Leben in ihrer Heimat führten, bis dort nach...

Erscheint lt. Verlag 12.10.2020
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
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ISBN-10 3-641-20616-2 / 3641206162
ISBN-13 978-3-641-20616-1 / 9783641206161
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