»Du bist nicht ganz verlassen« (eBook)

Eine Geschichte von Rettung und Widerstand im Nationalsozialismus

(Autor)

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2020
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-20111-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

»Du bist nicht ganz verlassen« - Mark Roseman
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Jede Geste zählte - wie der »Bund« im Nationalsozialismus Juden half zu überleben
In den frühen 1920er Jahren fand sich in Essen eine kleine Gruppe von Idealisten zusammen. Der »Bund - Gemeinschaft für sozialistisches Leben« war auf der Suche nach einer Lebensweise, die Körper, Geist und Seele in Einklang bringen sollte. Doch mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten änderte sich die Agenda seiner Gründer: Sie arbeiteten gegen das Regime und wurden in der Judenhilfe aktiv. Sie schrieben Briefe an die Opfer, verschickten Pakete mit Lebensmitteln und Kleidern, verschafften den Verfolgten Unterkünfte und unterstützten einige dabei, im Untergrund zu überleben. Anhand von unveröffentlichten Aufzeichnungen, Fotos und Interviews mit früheren Mitgliedern erzählt der britische Historiker Mark Roseman die bislang weitgehend unbekannte Geschichte des »Bunds« und wirft ein neues Licht darauf, was es bedeutete, in dieser dunklen Zeit Hilfe zu leisten. Mit zahlreichen Abbildungen.

Mark Roseman, 1958 in London geboren, ist Professor für Neuere Geschichte und Direktor des Jewish Studies Program an der Indiana University in Bloomington/USA. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust. Zahlreiche Veröffentlichungen zur jüngeren deutschen Geschichte, darunter »Die Wannsee-Konferenz. Wie die NS-Bürokratie den Holocaust organisierte«. 2002 erschien sein Buch »In einem unbewachten Augenblick. Eine Frau überlebt im Untergrund«, für das er eine Reihe bedeutender Preise erhielt, u.a. den Fraenkel Prize für das beste historische Werk, den Wingate Prize für das beste Sachbuch und den renommierten Geschwister-Scholl-Preis.

Einleitung


Blumen für die Heinemanns

10. November 1938: Tove Gerson brachte Blumen. Wie überall in Deutschland waren in Essen während der vorangegangenen Nacht – die man im Nachhinein »Kristallnacht« nennen sollte – Synagogen, aber auch Wohnhäuser und Geschäfte, die Juden gehörten, geplündert und zerstört worden. Im ganzen Land waren jüdische Bürger terrorisiert worden. Immer noch flackerte in verschiedenen Vierteln der Stadt Gewalt auf. Tove, selbst nicht jüdisch, war gekommen, um nach den Heinemanns zu sehen. Wohlhabend und hochgebildet, hatten sie längst das Rentenalter erreicht. Kennengelernt hatte Tove das Paar über ihre Schwiegereltern, und in ihrer stattlichen Villa hatte sie so manchem Kammerkonzert gelauscht. Auf dem Platz vor dem Haus der Heinemanns sah sich Tove einem wütenden Mob gegenüber. Die schmächtige und nach eigenem Dafürhalten etwas ängstliche Mittdreißigerin wurde angebrüllt, weil sie »Blumen für die Juden« brachte. Sie stammelte ein paar Ausflüchte, kämpfte sich ihren Weg durch die Menge und schaffte es ins Haus, wo sie das ältere Paar, eingeschüchtert und zutiefst erschüttert, inmitten von zerbrochenem Glas und verkohlten Gemälden fand.

4. Dezember 1939: Sonja Schreiber nahm kein Blatt vor den Mund. Seit die Wehrmacht im September in Polen einmarschiert war, kursierten in Deutschland Gerüchte über dort begangene Gräueltaten. Die Zeitungen berichteten von Massakern, die Polen angeblich an Deutschen verübt hätten, und stellten die Maßnahmen der Deutschen als »Vergeltung« dar. Sonja, Mitte vierzig und Grundschullehrerin in Essen, arbeitete nebenher als Freiwillige in der örtlichen Bezugsscheinausgabestelle. In einem Gespräch mit einer Kollegin vom Amt, einer Frau Groß, auch sie Freiwillige, kam man auf die Gräueltaten zu sprechen. Frau Groß sagte, sie wisse, wer wirklich verantwortlich sei: die Juden. Sonja, sanft und idealistisch, fast zu gutmütig, um im Klassenzimmer für Ordnung zu sorgen, konnte dieses Geschwätz nicht ertragen, widersprach vehement und verteidigte die Juden. Sie seien es, die verfolgt würden. Eine schockierte Frau Groß berichtete ihrem Mann von dem Gespräch – und dieser gab die Information an die Gestapo weiter.

8. November 1941: Artur Jacobs rührte eine Frau zu Tränen. Artur war ein sechzigjähriger ehemaliger Lehrer aus Essen, der, inzwischen pensioniert, aufmerksam verfolgte, was den deutschen Juden dieser Tage widerfuhr. Ein paar Wochen zuvor hatte man in der Region mit den Deportationen begonnen, wie er voller Entsetzen feststellen musste. Er kümmerte sich nicht um die Sanktionen, die drohten, wenn man Juden half, und die ständig verschärft wurden, sondern leistete moralische und materielle Unterstützung, wo er konnte. Als eine »Frau K«, die schon bald nach Minsk deportiert werden sollte, ihm für seine Solidarität dankte, antwortete Artur, er sei es, der ihr danken müsse. Schließlich gebe sie ihm die Möglichkeit, einen Teil der Schuld abzutragen, die er empfinde angesichts dessen, was seinen Landsleuten angetan werde. In diesem Augenblick brach Frau K in Tränen aus. »Sie wissen nicht, welchen Trost Sie mir da mitgeben.«

Dezember 1942: Else Bramesfeld ging ein Risiko ein. Im April dieses Jahres hatte ihre jüdische Freundin Lisa Jacob auf der Deportationsliste gestanden, war untergetaucht und lebte doch vor aller Augen. Else hatte Lisa bereits von Zeit zu Zeit Unterschlupf gewährt. Doch nun bot sie ihr noch mehr: einen Rettungsanker in Form eines offiziellen Ausweispapiers, das Lisa vorzeigen konnte, wenn sie im Zug oder in der Straßenbahn danach gefragt wurde. Else hatte beim Reichsverband Deutscher Turn-, Sport- und Gymnastiklehrer e. V. ihren Mitgliedsausweis als gestohlen gemeldet. Ihrem Antrag auf Ersatz legte sie ein Foto bei – von Lisa. Der Verband fiel darauf herein und schickte den neuen Ausweis mit Elses Namen und Lisas Bild ordnungsgemäß zurück. Es war, wie Lisa später schreiben würde, ein unbezahlbares »Weihnachtsgeschenk«. Die regelmäßigen Ortswechsel und die Angst vor Entdeckung waren nun nicht mehr ganz so belastend.

Februar 1944: Grete Dreibholz bekannte sich zu einer verbotenen Freundschaft. Die siebenundvierzigjährige Tochter eines wohlhabenden Geschäftsmanns aus der Industriestadt Remscheid hatte sich bis 1933 leidenschaftlich in der linken Szene des Ortes engagiert. Ihre geliebte Schwester Else, auch sie ein Freigeist, hatte den bekannten Dramatiker Friedrich Wolf, einen jüdischen Kommunisten, geheiratet und folgte ihm nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in die Sowjetunion. Unter der Naziherrschaft wurden Gretes radikale Verbindungen zu einer Belastung. Sie wurde entlassen und verlor ihre gut bezahlte Verwaltungsstelle. Um über die Runden zu kommen, arbeitete sie in Fabriken, im Jahr 1943 auch Seite an Seite mit polnischen und russischen Zwangsarbeitern. Diese waren unter entsetzlichen Bedingungen untergebracht. Ohne sich um das Risiko zu kümmern, freundete sie sich mit deren Dolmetscherin, einer ehemals vermögenden Frau aus Warschau, an. Im Februar kam Grete in einem Brief auf diese Freundschaft zu sprechen und beschrieb ohne jegliche Selbstzensur, was die Zwangsarbeiterinnen ertragen mussten. Hätte sie für die Dolmetscherin und ihre Tochter nicht Kleidung aufgetrieben, hätten sie buchstäblich nichts zum Anziehen gehabt.

29. Juli 1944: Hermann Schmalstieg öffnete sein Haus. Hermann war ein gut aussehender, romantisch veranlagter Mann in seinen Dreißigern, ein Bursche aus der Arbeiterklasse, der es zum Feinmechanikermeister gebracht hatte. Aufgrund der Weltwirtschaftskrise war es schwierig geworden, Arbeit zu finden, und so landete er schließlich als Techniker im Akustikinstitut der Technischen Universität Braunschweig. Während des Kriegs wurde das Institut dem Militär unterstellt und an einen isolierten Standort im Harz, auf den Auerhahn bei Goslar, verlegt. Dort lebte Hermann in einer einsamen Försterhütte. Freunde fragten ihn, ob er einer jungen Frau auf der Flucht eine Weile Unterschlupf gewähren könne. Und so kam es, dass Ende Juli die einundzwanzigjährige Jüdin Marianne Strauß mehrere Tage bei ihm in der Hütte verbrachte.

Dieses Buch handelt von einer kleinen Gruppe Idealisten im nationalsozialistischen Deutschland, unter ihnen viele Frauen, die die Not anderer erkannten und aus diesem Bewusstsein heraus handelten – ungeachtet der Gefahr. Tove, Sonja, Artur, Else, Lisa, Grete und Hermann gehörten alle zum »Bund: Gemeinschaft für sozialistisches Leben«, von seinen Mitgliedern einfach als »Bund« bezeichnet. Zwar weiß man von ihnen bis heute nur wenig, und doch gibt es Zeitzeugnisse, die ihre Gedanken und Taten dokumentieren. Dieses Buch untersucht nicht nur, was die Mitglieder des Bundes getan haben, sondern auch, was sie dazu veranlasste, anderen Menschen, darunter völlig Fremden, die Hand zu reichen. Wie fanden sie die Freiheit und den Mut zu handeln? Welche Konsequenzen hatte ihre Hilfe für jene, die sie empfingen, aber auch für sie als Helfende, sowohl während als auch nach dem Krieg?1

Selbst in der exklusiven Gesellschaft jener wenigen Gruppen, die Juden im nationalsozialistischen Deutschland zur Seite standen, sticht der Bund heraus – nicht zuletzt deshalb, weil er ursprünglich gar nicht geschaffen worden war, um den Nationalsozialismus zu bekämpfen. Er war älter als das Regime, und er überdauerte es. Seine Gründung im Jahr 1924 hatte in die Zeit gepasst, auch wenn die Hoffnungen der ersten revolutionären Jahre der Weimarer Republik damals schon merklich schwanden. Der Bund hatte damals keine Vorstellung gehabt von der brutalen Diktatur, die kommen sollte, noch hatte er geahnt, dass seine Mitglieder nur zehn Jahre später ein Leben würden führen müssen, das von Gefahren und Geheimaktionen geprägt war. Viele Linke waren im Jahr 1924 noch immer optimistisch – wenngleich gedämpft durch die Erkenntnis, dass es länger dauern würde als erwartet, bis der erhoffte gesellschaftliche Wandel tatsächlich eintreten würde. Gegründet wurde der Bund im Ruhrgebiet von Lehrern und Schülern der Essener Volkshochschule. Er wuchs auf bis zu 200 Mitglieder an – unter anderem Arbeiter, Lehrer, Frauen aus dem Mittelstand mit sozialem Bewusstsein und auch einige Juden. Über Zusammenkünfte, gemeinsames Lernen, Sport und Exkursionen versuchte diese neue Gruppe, ein ganzheitliches und erbauliches Zusammenleben zu entwickeln. Durch Erwachsenenbildung, Experimente mit alternativen Schulformen, Gymnastikunterricht und politische Versammlungen strebte der Bund, seinen Wirkungskreis zu erweitern. Seine Mitglieder hofften, einen entscheidenden Beitrag für ein künftiges, besseres Deutschland leisten zu können. Ganz sicher bereiteten sie sich damals nicht auf eine Zukunft unter einer faschistischen Diktatur vor.

Wenn sie jedoch nach 1945 zurückblickten, so waren sich die Mitglieder des Bundes sicher, dass es gerade jene Prinzipien und Strukturen, die sie im Weimarer Klima radikaler Experimentierfreude entwickelt hatten, gewesen waren, die sie dafür gewappnet hatten, der nationalsozialistischen Flutwelle zu widerstehen. Doch wie konnte dieser Kreis vegetarischer und abstinenter Utopisten auf eine Diktatur vorbereitet sein? Waren die freundliche Lehrerin Sonja Schreiber und die aus behüteten Verhältnissen stammende bürgerliche Hausfrau Tove Gerson auf irgendeine Weise gerüstet, dem Terror und der Einschüchterung des »Dritten Reichs« standzuhalten? Wenngleich der Bund vielleicht strenger organisiert war und allumfassender dachte als viele ähnliche Bewegungen, wenn es um die Anforderungen ging, die er an seine Mitglieder stellte, so...

Erscheint lt. Verlag 9.3.2020
Übersetzer Stephan Pauli
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Lives Reclaimed - A Story of Rescue and Resistance in Nazi Germany
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Artur Jacobs • Bund - Gemeinschaft für sozialistisches Leben • Dore Jacobs • eBooks • Geschichte • Geschwister-Scholl-Preis • Judenhilfe • Marianne Strauß-Ellenbogen • Rote Kapelle • Weiße Rose • Widerstand • Zivilcourage
ISBN-10 3-641-20111-X / 364120111X
ISBN-13 978-3-641-20111-1 / 9783641201111
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