Das russische Berlin (eBook)

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2019 | 1. Auflage
667 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76133-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das russische Berlin -  Karl Schlögel
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Fast eine halbe Million russischer Flüchtlinge nahm Berlin Anfang der 1920er Jahre auf. Die Stadt war in der Zwischenkriegszeit nicht nur die »Stiefmutter der russischen Städte«, sondern auch heimliches Zentrum der Weltrevolution. Hier trafen die totalitären Bewegungen aufeinander, die das Schicksal Europas im »Zeitalter der Extreme« besiegelten.

Karl Schlögel spürt die große Geschichte in der kleinen auf, er folgt den dramatis personae und rekonstruiert die Netzwerke, in denen sie sich bewegen. Die Welt der Bahnhöfe und die der Salons im Tiergartenviertel, die Dichter des Silbernen Zeitalters und die Agitkünstler der Sowjetmacht, der Empfang in der sowjetischen Botschaft und Nabokovs Beobachtungen zum Aufstieg der Nazis, die Stadtwahrnehmung der Taxifahrer und der Skandal um die »Zarentochter Anastasia«. In seiner Darstellung spielen Kursbücher und Adressverzeichnisse eine Rolle, Cafés und Cabarets, das Zeremoniell der Diplomatie und die Praktiken des Untergrundkampfes, die polyglotte Welt der Komintern-Funktionäre und die Karten der Geopolitiker.

Das Russische Berlin ist kein romantischer Ort, sondern Schauplatz einer Epoche, die Nachkrieg und Vorkrieg in einem war. Seit der Entfremdung zwischen Russland und der Europäischen Union ist auch das hochvernetzte »Russkij Berlin« der Gegenwart politisch gespalten. Der doppelte Blick auf das einstige und heutige russische Berlin erweist sich als unerwartet aktuell und produktiv.

<p>Karl Schlögel, 1948 geboren, lehrte bis zu seiner Emeritierung Osteuropäische Geschichte, zuerst an der Universität Konstanz, seit 1995 an der Europa Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen gehören <em>Moskau lesen</em>, <em>Petersburg 1909-1921</em>. <em>Das Laboratorium der Moderne</em>, <em>Im Raume lesen wir die Zeit</em> und <em>Moskau 1937</em>. Sein 2017 erschienenes Buch <em>Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt </em>wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.</p>

Karl Schlögel, 1948 geboren, lehrte bis zu seiner Emeritierung Osteuropäische Geschichte, zuerst an der Universität Konstanz, seit 1995 an der Europa Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen gehören Moskau lesen, Petersburg 1909-1921. Das Laboratorium der Moderne, Im Raume lesen wir die Zeit und Moskau 1937. Sein 2017 erschienenes Buch Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.

Vorwort zur Erstausgabe (1998)
Berlin, russische Stadt


Zum ersten Mal nach einem Jahrhundert furchtbarer Verwicklungen und Zusammenstöße gibt es zwischen Deutschland und Rußland keine wirklichen Probleme mehr. Deutschland ist wiedervereinigt. Die sowjetischen Truppen sind abgezogen. Die bestehenden Grenzen sind endgültig anerkannt. Wovon die Generationen davor nur träumen konnten, ist Wirklichkeit geworden: Normalität in den Beziehungen zwischen zwei europäischen Nationen, die sich in diesem Jahrhundert Furchtbares angetan hatten. Deutsch-russische Beziehungen können endlich mehr sein als »negative Polenpolitik« und das alte Spiel, dem zufolge der Feind meines Feindes mein Freund sei. Wir sind endlich heraus aus dem Tumult des zwanzigsten Jahrhunderts. Wir sind frei.

Zu dieser Freiheit gehört auch, daß wir einen Blick zurückwerfen können. Gelassen, denn was geschehen ist, ist geschehen. Ohne Eiferertum und Rechthaberei, denn wir richten im nachhinein nichts mehr aus. Wir können heraustreten aus dem geteilten Horizont der Nachkriegszeit und Abschied nehmen von den Vereinfachungen, die in jedem Entweder-Oder liegen. Die Bereinigung des Feldes hat die alten Frontstellungen und Barrieren abgeräumt. Es gibt nichts mehr, was uns hindern könnte, uns unsere Geschichte zu erzählen. Es sei denn, unser beschränktes Vermögen, von den Ungeheuerlichkeiten zu sprechen, die jener Generation zum Lebensschicksal wurden. So blicken wir zurück auf ein Jahrhundert mörderischer Destruktivität, das in einem einzigen Augenblick zerstörte, woran Generationen gearbeitet hatten. In dem Feuer, in das wir zurückblicken, ist das alte Europa verbrannt, und auch im Verhältnis zwischen Deutschen und Russen konnte es nie mehr so sein wie vor dem Tag, an dem das »Unternehmen Barbarossa« begann.

Nirgends hat sich der Knoten der deutsch-russischen Beziehungen so dramatisch zusammengezogen wie in Berlin. Alle deutschen Wege nach Rußland führten in diesem Jahrhundert über Berlin, und alle russischen Wege nach Europa gingen über Berlin. Berlin war der Schauplatz deutsch-russischer Haupt- und Staatsaktionen und Wendepunkt für das Schicksal unzähliger Deutscher und Russen. Da sich diese Geschichte unter dem Strich als eine Geschichte von Katastrophen darstellt, war Berlin auch Katastrophenort. Nichts, was nicht ausprobiert worden wäre. Keine Allianz und Koalition, die man nicht wenigstens vorübergehend praktiziert hätte. Keine Kombination, die undenkbar gewesen wäre. So verschlingen sich in Berlin die Fäden zu einem Knäuel, das den Erfindungsreichtum jedes noch so genialen Dramatikers weit übersteigt.

Man muß lange suchen, um eine europäische Metropole zu finden, die einen ehemaligen politischen Kommissar und Beauftragten Lenins zum Bürgermeister hatte wie das Berlin der Nachkriegszeit in Ernst Reuter. Die ›Freiheit des Westens‹ wurde während der Blockade von einem Mann verteidigt, der 1918 mit Karl Radek über die ostpreußische Grenze gekommen war und der sich später mit Alexander Kerenski, dem im Berliner Exil lebenden Chef der Provisorischen Regierung, angefreundet hatte. In Berlin stoßen wir auf deutsche Generäle, die fließend Russisch sprechen. General Hans Krebs, der im April 1945 die Kapitulationsverhandlungen mit General Tschuikow führte, hatte es bei den gemeinsamen Manövern von Reichswehr und Roter Armee und während seiner Arbeit an der Moskauer Botschaft gelernt. Im zerstörten Berlin von 1945 treffen wir auf Russen, die Berlin noch aus den zwanziger Jahren kannten, wie jener legendäre und an seiner glatt polierten Glatze schon von weitem erkennbare Kulturoffizier Sergej Tjulpanow, der mehr von Goethe und Schiller als von Brecht und Becher hielt und 1945 noch an ein Deutschland glaubte, das es gar nicht mehr gab. Nur in Berlin war es denkbar, daß eine komplette Regierungsmannschaft aus dem Moskauer Exil eintraf, deren Mitglieder oft so gut Russisch sprachen wie Deutsch und die häufig die sowjetische Staatsbürgerschaft oder einen Rang in der sowjetischen Armee hatten.

Keine andere Stadt war – im Guten wie im Bösen – so sehr verwoben mit dem Russischen. In den zwanziger Jahren wurde Berlin zum Ankerplatz für Hunderttausende russischer Emigranten, russischer Verlags- und Zeitungsort Nummer eins. In Berlin schrieben Ilja Ehrenburg und Vladimir Nabokov ein Stück russischer Kulturgeschichte. Doch auf das russische Berlin der Emigranten folgte ein anderes: Nach dem Überfall auf die UdSSR füllten sich die Katakomben der Stadt mit den Elendsgestalten sowjetischer ›Ostarbeiter‹, die Berlin noch in Gang hielten, als die Bomben fielen. Und als auch dieses russische Berlin untergegangen war, folgte ein drittes: das Berlin der Rotarmisten. Niemand kannte die Stadt so gut wie sie. Meter für Meter, Keller für Keller, Haus für Haus hatten sie sich zu den Bunkern der Reichskanzlei und zum Reichstag vorgearbeitet. Als die Fahne auf der ausgeglühten Kuppel gehißt war, ging ein Kapitel in dem deutsch-russischen Roman zu Ende. Das russische Berlin hatte den Weg vom ›Charlottengrad‹ der Emigranten nach ›Pankow‹, dem neuen Machtzentrum in der sowjetisch besetzten Zone, zurückgelegt.

Es geht nicht um eine weitere Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen. Solche gibt es bereits, einige darunter sind inzwischen Klassiker geworden. Dem Verlauf der Geschichte entsprechend, haben sie meist düstere Titel. Sie heißen: Krieg und Frieden, Unheilige Allianz, Schicksalsgemeinschaft, Teufelspakt, Europäischer Bürgerkrieg. Zu praktisch allen Aspekten deutsch-russischer Beziehungen – ob zur Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee, zur sowjetischen Kulturpropaganda, zur Berliner Osteuropakunde – gibt es zahlreiche und glänzende Untersuchungen. Inzwischen hat eine große Ausstellung zum Thema »Berlin–Moskau« stattgefunden. Es gibt nicht mehr viele Geheimnisse, die noch gelüftet werden müssen, und es ist unwahrscheinlich, daß ein neuer Fund im Archiv die bisher geleistete Arbeit gänzlich über den Haufen werfen wird.

Und doch ist trotz dieser riesenhaften Arbeit kaum eine Vorstellung davon entstanden, was da zerstört worden ist. Wie benommen vom Horror des Krieges im Osten haben wir etwas übersehen, das vielleicht noch wichtiger ist als alle Greuel und Grausamkeiten: das Ende von etwas, das für Generationen fraglos und selbstverständlich gewesen war. Es handelt sich um kulturelle Nähe, die keiner umständlichen Übersetzung bedarf. Dazu gehört ein Vorrat von Vorstellungen und Begriffen, die allen gemein sind. Dazu gehören Umgangs- und Lebensformen, die von allen geteilt werden und als verteidigenswert erscheinen. Was auch geschehen mochte, dieser Referenzrahmen wurde nie angetastet. Man konnte unterschiedlichster Auffassung sein, aber daran rüttelte man nicht. Das Bezugssystem funktionierte, weil alle, die sich darin bewegten, denselben Lebens- und Erwartungshorizont hatten. Ein solcher gemeinsamer Horizont geht nicht aus Absprachen hervor, sondern ist etwas sehr Voraussetzungsreiches, das in Generationen geschaffen wurde. Das Ende der Selbstverständlichkeiten markiert zivilisatorische Brüche drastischer, als der Abbruch von diplomatischen Beziehungen und selbst Kriege es vermögen. Mit den Selbstverständlichkeiten endet die Routine, auf deren stummem Funktionieren unsere Zivilisation beruht. Und gerade dies war geschehen.

Dieses Buch handelt vom Ende der Selbstverständlichkeiten, von der Zerstörung dessen, was es vor dem Ersten Weltkrieg einmal gab und was Zivilisationsnormalität genannt werden kann. Es sind Studien über kulturelle Nähe und kulturelle Dichte und über deren Auflösung in der Weltkriegsepoche. Es ist die Erzählung davon, wie ein zur Routine gewordenes Verhältnis aufhört, so daß die Nachgeborenen wieder ganz von vorne beginnen müssen. Es kann nichts Radikaleres über die Geschichte einer Beziehung gesagt werden, als daß der Vorrat an gemeinsamen Vorstellungen, an ›Werten‹ sich erschöpft hat, weil es keinen gemeinsamen Horizont mehr gibt und die Beteiligten am Ende nicht einmal wissen, wovon der jeweils andere spricht. Die Spaltung der Welt ist dann vollständig geworden, die Erfahrung von Krieg und Zerstörung hat alles andere überlagert und scheint das einzige zu sein, was als gemeinsamer Bezugspunkt übrigbleibt.

Wenn Berlin...

Erscheint lt. Verlag 9.4.2019
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Berlin • Charlottengrad • Deutschland • Flüchtlinge • Kulturkontakt • Russland • Zeitalter der Extreme
ISBN-10 3-518-76133-1 / 3518761331
ISBN-13 978-3-518-76133-5 / 9783518761335
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