Zwischenwelten (eBook)

Eine Reise in die Grauzone zwischen Leben und Tod

(Autor)

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2017 | 1. Auflage
320 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-44044-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zwischenwelten -  Adrian Owen
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Der führende Neurowissenschaftler Adrian Owen beschreibt in seinem aufrüttelnden Buch 'Zwischenwelten' seine spektakuläre Arbeit mit Menschen, die an einem schweren Hirntrauma leiden. Zweifelten Ärzte bislang daran, dass Wachkoma-Patienten wahrnehmungsfähig sind, bewies Owen das Gegenteil. Damit stellt er vorschnelle Hirntod-Diagnosen infrage. Hirnhautentzündung, Schädel-Hirn-Trauma und Schlaganfall können die Ursachen für ein Dasein in der sogenannten Grauzone zwischen minimalem Bewusstsein und Hirntod sein. Manche Patienten reagieren weder auf externe Reize, noch scheinen sie ihre Umwelt wahrzunehmen. Lange glaubten Ärzte, sie seien unfähig, zu denken und zu fühlen - bis dem britischen Neurowissenschaftler Adrian Owen das Unfassbare gelang: Mit speziellen Kernspin-Tests zeigte er, dass selbst Menschen, die mit schweren Hirnschäden im Wachkoma liegen, durchaus Bewusstseinsregungen haben können. Spannend und einfühlsam erzählt Owen von Fällen aus seinem Alltag als Arzt und Forscher - von Patienten, die selbst nach Jahren im Wachkoma plötzlich Kontakt zur Außenwelt aufnehmen. Ihre Botschaften sind der Beginn einer Kommunikation, die Einblicke erlaubt, wie diese Menschen ihr Schicksal erleben, was man für sie tun kann - und wie sie ins Leben zurückkommen können.

Prof. Dr. Adrian Owen, 1966 geboren, ist ein international führender britischer Neuropsychologe. Seine Untersuchungen an Wachkoma-Patienten haben weltweit Aufsehen erregt und die klinisch definierte Grenze zwischen Leben und Tod infrage gestellt. Er leitet das renommierte Brain and Mind Institute an der Western University in Ontario, Kanada.

Prof. Dr. Adrian Owen, 1966 geboren, ist ein international führender britischer Neuropsychologe. Seine Untersuchungen an Wachkoma-Patienten haben weltweit Aufsehen erregt und die klinisch definierte Grenze zwischen Leben und Tod infrage gestellt. Er leitet das renommierte Brain and Mind Institute an der Western University in Ontario, Kanada.

Prolog


Ich hatte Amy fast eine Stunde lang beobachtet, bis sie sich endlich regte. Sie hatte geschlafen, als ich ihr Zimmer in einem kleinen kanadischen Krankenhaus unweit der Niagarafälle betrat. Es erschien unnötig, fast ein wenig unhöflich, sie aufzuwecken. Ich wusste, es war kaum sinnvoll, einen Wachkomapatienten beurteilen zu wollen, wenn er sich im Halbschlaf befand.

Die Bewegung war kaum der Rede wert. Amys Augen öffneten sich abrupt, und ihr Kopf hob sich vom Kissen. In dieser Haltung verharrte sie, starr und reglos, während ihr Blick über die Decke schweifte. Ihr dichtes dunkles Haar war kurz geschnitten, aber tadellos gestylt – so als hätte es gerade eben jemand zurechtgemacht. Rührte diese plötzliche Bewegung bloß von automatischen Impulsen des Nervenschaltkreises in ihrem Gehirn her?

Ich blickte in Amys Augen, sah darin aber nichts als Leere – genau jenen tiefen Brunnen der Unergründlichkeit, den ich schon zahllose Male bei Menschen gesehen hatte, die wie Amy als »wach, aber ohne Bewusstsein« galten. Amy gab nichts zurück. Sie öffnete den Mund weit zu einem Gähnen und ließ ein fast schwermütiges Seufzen vernehmen. Dann plumpste ihr Kopf wieder auf das Kissen.

Sieben Monate nach ihrem Unfall konnte man sich kaum noch vorstellen, was für ein Mensch Amy einmal gewesen sein muss – eine aufgeweckte Studentin, die in der Universitätsmannschaft Basketball spielte und der das ganze Leben offenstand. Eines Nachts kam sie mit einigen Freunden aus einer Bar. Ihr Boyfriend, von dem sie sich an jenem Abend getrennt hatte, wartete draußen. Plötzlich ging er auf sie zu und schubste sie, Amy stürzte und schlug mit dem Kopf gegen den Bordstein.

Jemand anderes wäre vielleicht mit einer Platzwunde oder einer Gehirnerschütterung davongekommen, doch Amy hatte Pech. Ihr Gehirn prallte so stark gegen die Schädelwand, dass es aus seinen Verankerungen gerissen wurde; Nervenfasern wurden überdehnt, Blutgefäße barsten. Dabei wurden auch wichtige Areale gequetscht und geschädigt, die nicht direkt am Aufprallpunkt lagen. Seither wurden Amy durch eine Magensonde lebensnotwendige Flüssigkeiten und Nährstoffe zugeführt. Die Blase wurde über einen Katheter geleert. Sie besaß keinerlei Stuhlkontrolle und trug deswegen Windeln.

Zwei Ärzte betraten das Zimmer. »Was meinen Sie?«, fragte der ältere, während er mich scharf fixierte.

»Ich kann erst etwas sagen, wenn wir die Scans gemacht haben«, erwiderte ich.

»Ich stehe nicht so auf Wetten, aber ich würde sagen, sie befindet sich in einem vegetativen Zustand!« Er klang optimistisch, fast heiter.

Ich sagte nichts.

Die beiden Ärzte wandten sich an Amys Eltern, Bill und Agnes, die geduldig dasaßen, während ich ihre Tochter beobachtete. Die beiden waren Ende vierzig, wirkten gepflegt, aber ausgelaugt. Agnes griff nach Bills Hand, als die Ärzte erklärten, Amy würde nichts Gesprochenes verstehen, keine Erinnerungen, Gedanken oder Gefühle haben und keinerlei Freude oder Schmerz empfinden können. Die Mediziner machten Bill und Agnes behutsam klar, dass ihre Tochter ihr Leben lang rund um die Uhr gepflegt werden müsse. Da keine anderslautende Patientenverfügung vorlag, sollten sie sich vielleicht überlegen, Amy nicht mehr künstlich am Leben zu halten, sondern sterben zu lassen. Hätte sie selbst das nicht auch so gewollt?

Amys Eltern waren noch nicht bereit zu diesem Schritt und willigten stattdessen per schriftlicher Einverständniserklärung ein, dass ich die Patientin mittels funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) durchleuchte und nach Anzeichen dafür suche, dass irgendein Teil jener Amy, die sie liebten, noch existierte. Mit einem Krankenwagen brachte man Amy zur Western University in London im kanadischen Ontario, wo ich ein spezielles Labor betreibe, in dem Patienten begutachtet werden, die massive Hirnverletzungen erlitten haben beziehungsweise an den verheerenden Auswirkungen neurodegenerativer Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson leiden. Mithilfe neuartiger Bildgebungsverfahren schließen wir uns mit diesen Gehirnen kurz, machen ihre Funktionen sichtbar und kartieren ihr gesamtes Inneres. Auf diese Weise lässt sich erkennen, wie der Betreffende denkt und fühlt. Man sieht gleichsam das Baugerüst des Bewusstseins und die Architektur des eigenen Ich-Erlebens. Im Scan wird deutlich, was es im Grunde heißt, ein lebender Mensch zu sein.

Fünf Tage später trat ich wieder in Amys Krankenzimmer, wo Bill und Agnes saßen. Sie blickten erwartungsvoll zu mir auf. Ich hielt kurz inne, holte tief Luft und teilte ihnen dann die Neuigkeit mit, die sie nicht einmal zu erhoffen gewagt hatten.

»Die Scans haben uns gezeigt, dass sich Amy doch nicht in einem ›vegetativen Zustand‹ befindet. Vielmehr nimmt sie alles bewusst wahr«, erklärte ich.

Nach fünf Tagen intensiver Untersuchung hatten wir festgestellt, dass Amy mehr als bloß noch vor sich hinvegetierte – sie war im vollen Besitz ihres Bewusstseins. Sie hatte jedes Gespräch mitbekommen, jeden Besucher erkannt und aufmerksam zugehört, wenn etwas über sie entschieden wurde. Aber sie war nicht in der Lage gewesen, einen Muskel zu bewegen, um der Welt mitzuteilen: »Ich bin noch hier. Ich bin noch nicht tot!«

In diesem Buch schildere ich unsere Bemühungen zu ergründen, wie man mit Menschen wie Amy Kontakt aufnimmt. Zugleich möchte ich aufzeigen, wie tiefgreifend sich ein neues und rasant wachsendes Forschungsgebiet auf Wissenschaft, Medizin, Philosophie und Rechtswesen auswirkt. Vielleicht am wichtigsten ist unsere Entdeckung, dass 15 bis 20 Prozent der Wachkomapatienten, die mutmaßlich kaum mehr Bewusstsein besitzen als ein Brokkoli-Kopf, tatsächlich über ein volles Bewusstsein verfügen, auch wenn sie auf keinerlei äußere Reize reagieren.[1] Sie öffnen vielleicht die Augen, knurren und stöhnen oder geben gelegentlich einzelne Worte von sich. Wie Zombies scheinen sie ausschließlich in ihrer eigenen Welt zu leben, ohne jegliche Gedanken oder Gefühle. Viele sind tatsächlich so selbstvergessen und unfähig zu denken, wie ihre Ärzte glauben. Eine beträchtliche Zahl erlebt jedoch etwas ganz anderes: Ihr intakter Geist driftet gleichsam in den Tiefen eines defekten Körpers und Gehirns.

Das Wachkoma ist ein Bezirk im Schattenreich der Zwischenwelten. Ein weiterer ist das Koma, also eine völlige Bewusstlosigkeit. Menschen im Koma öffnen die Augen nicht und wirken so, als hätten sie keinerlei Bewusstsein. In dem Disney-Film Dornröschen und auch im gleichnamigen Märchen der Brüder Grimm fällt die junge Prinzessin Aurora, nachdem sie sich an einer Spindel gestochen hat, durch eine Verwünschung in einen tiefen Schlaf, der einem Koma ähnelt. Im wirklichen Leben sieht die Sache viel weniger romantisch aus; entstellende Kopfverletzungen, verkrümmte Gliedmaßen, Knochenbrüche und aufzehrende Krankheiten sind die Regel.

Einige Menschen in der Grauzone können zu erkennen geben, dass sie ein Bewusstsein haben. Patienten mit »minimalem Bewusstsein« reagieren gelegentlich auf die Aufforderung, einen Finger zu bewegen oder mit den Augen einem Gegenstand zu folgen. Ihr Bewusstsein scheint sich ein- und auszublenden. Hin und wieder tauchen sie aus einem bodenlosen Teich der Besinnungslosigkeit auf, brechen an die Oberfläche durch und geben ihre Präsenz zu erkennen, bevor sie wieder in unergründliche Tiefen versinken.

Das Locked-in-Syndrom (Eingeschlossensein- bzw. Gefangensein-Syndrom) gehört genau genommen nicht ins Spektrum der Zwischenwelten, kommt dem aber so nah, dass es uns Aufschluss darüber gibt, wie sich das Leben einiger unserer Versuchspersonen anfühlen könnte. Querschnittsgelähmte mit Kommunikationsstörungen sind bei vollem Bewusstsein und können meist die Augen bewegen oder blinzeln.

Jean-Dominique Bauby, der ehemalige Chefredakteur der Frauenzeitschrift Elle, war ein berühmtes Beispiel für das Locked-in-Syndrom. Bauby war nach einem Schlaganfall zwar bei Bewusstsein, aber körperlich fast vollständig gelähmt und konnte sich weder sprachlich noch gestisch verständlich machen. Er war lediglich imstande, mit seinem linken Augenlid zu blinzeln. Mithilfe eines Assistenten und einer Buchstabentafel verfasste er den Memoirenband Schmetterling und Taucherglocke, wofür er mehr als 200000 Mal blinzeln musste.

Bauby schilderte seine Erfahrung sehr anschaulich: »… der Geist kann wie ein Schmetterling umherflattern. Es gibt so viel zu tun. … Man kann die geliebte Frau besuchen, sich neben sie legen und ihr noch schlafendes Gesicht streicheln. Man kann Luftschlösser bauen, das goldene Vlies erkämpfen, Atlantis entdecken, seine Kinderträume und Erwachsenenphantasien verwirklichen.«[2]

Für Bauby ist das der »Schmetterling«: Ein ungehemmter Geist, frei von Körperlichkeit und Verantwortung, der hierhin und dorthin flattern kann. Bauby war aber zugleich gefangen – in der »Taucherglocke«, einer eisernen Kammer, aus der es kein Entrinnen gab und die immer tiefer in den Abgrund sank.

Als ich ein paar Tage nach Amys MRT-Scans wieder an ihrem Krankenbett saß, beobachtete ich sie nochmals ganz genau. Ich wollte unbedingt wissen, was sie dachte und fühlte. Was hatten all diese zuckenden Bewegungen und das krampfhafte Gurgeln zu bedeuten? Erlebte sie Ähnliches wie Bauby? War auch sie in eine imaginäre Sphäre der Freiheit und der offenen Möglichkeiten eingetreten? Oder glich ihre Innenwelt einem qualvollen Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gab?

Nach unseren Scans veränderte sich Amys Leben grundlegend. Agnes wich kaum noch von ihrer Seite und...

Erscheint lt. Verlag 26.10.2017
Übersetzer Dr. Harald Stadler
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie
Schlagworte Adrian Owen • Arztgeschichten • Bauby • Bewusstsein • Biografie • Erfahrungen und Schicksale • Erfahrungen und wahre Geschichten • Erfahrungsberichte • Erinnerung • Erzählendes Sachbuch • Fälle Medizin • Geschenk Arzt • Geschenk Mediziner • Geschenk Medizinstudent • Geschenk Psychologe • Gesundheit • Heilung • Hirnforschung • Hirnhautentzündung • Hirntod • Hirntrauma • Koma • Kommunikation • Krankenhaus • Leben • Locked-in-Syndrom • Medizin • Medizingeschichte • Neurologe • Neuropsychologie • Neurowissenschaft • Patient • Psychologie • Sachbuch Medizin • Sachbuch Psychologie • Schädel-Hirn-Trauma • Schlaganfall • Schmetterling und Taucherglocke • Soziales • Sterben • Wachkoma • Wachkoma Erfahrungsberichte • Wachkoma-Forschung • Wachkoma-Therapie • wahre Begebenheit Buch • wahre Fälle • Wahre GEschichte • wahre geschichten bücher • wahre Medizingeschichten • Wahrnehmung • wahrnehmungsfähig • Wissenschaftsgeschichte • Würde
ISBN-10 3-426-44044-X / 342644044X
ISBN-13 978-3-426-44044-5 / 9783426440445
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