Beziehungsweise Revolution - Bini Adamczak

Beziehungsweise Revolution (eBook)

1917, 1968 und kommende

(Autor)

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2017 | 1., Originalausgabe
320 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75466-5 (ISBN)
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Im Oktober 2017 jährt sich die Russische Revolution zum 100. Mal. Anlass genug, die Ereignisse von 1917 durch das Prisma 1968 zu betrachten und beide Revolutionen in ein Verhältnis wechselseitiger Kritik zu bringen. Während 1917 auf den Staat fokussierte, zielte 1968 auf das Individuum. In Zukunft müsste es darum gehen, die »Beziehungsweisen« zwischen den Menschen in den Blick zu nehmen.

Das Buch analysiert die revolutionären Geschlechterverhältnisse als Verhältnisse, die zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, »Nahbeziehungen« und »Fernbeziehungen« geknüpft sind - das Geschlecht der Revolution. So tritt ein Begehren zutage, das nach wie vor seiner Realisierung harrt: das Begehren nach gesellschaftlichen Beziehungsweisen der Solidarität.



<p>Bini Adamczak lebt in Berlin und arbeitet als Autorin und K&uuml;nstlerin zu politischer Theorie, queerfeministischer Politik und der vergangenen Zukunft von Revolutionen.</p>

Bini Adamczak lebt in Berlin und arbeitet als Autorin und Künstlerin zu politischer Theorie, queerfeministischer Politik und der vergangenen Zukunft von Revolutionen.

PRD – Postrevolutionäre Depression


Mitte der zwanziger Jahre unternahmen Ignazio Silone, ein italienischer Kommunist und Schriftsteller, und Lazar Schatzky, der Vorsitzende des Komsomol, der Kommunistischen Jugendorganisation Russlands, einen Spaziergang über den Roten Platz in Moskau. Es war die Zeit der Neuen Ökonomischen Politik, die im Rahmen der »Diktatur des Proletariats« kapitalistischen Handel zwischen Stadt und Land erlaubte. Die Kommunistische Partei Russlands (Bolschewiki) befand sich schon ein Jahrzehnt an der Macht, doch während sich der Geist des Leninismus großer Lebendigkeit erfreute, war Lenin selbst bereits 1924 verstorben. Lenins Gehirn wurde in einem eigens dafür gegründeten Institut auf Genialität hin untersucht (Hagemeister 2005, 36), der Rest seines Körpers in einem hölzernen Mausoleum auf dem Roten Platz konserviert. Diesen Holzbau, an dem »man jeden Tag endlose Prozessionen armer, zerlumpter Bauern vorbeidefilieren sah« (Silone 2005 [1949], 107), passierten die beiden Freunde gerade, als Lazar Schatzky begann, über seine Traurigkeit zu sprechen. Was ihn traurig machte, war das Gefühl, zu spät geboren zu sein, zu spät, um an der Revolution teilnehmen zu können. Für einen überzeugten bolschewistischen Revolutionär musste das dem Gefühl gleichkommen, das wichtigste Ereignis des eigenen Lebens verpasst zu haben. Ignazio Silone versuchte, seinen Freund zu trösten: »Es wird noch genug andere Revolutionen geben«, sagte er, »Revolutionen werden immer nötig sein, auch in Russland.« »Was für Revolutionen?«, fragte Schatzky ungeduldig, »und wie lang müssen wir noch darauf warten?« (Ebd., 107)

Silone wollte seinen sowjetischen Genossen nicht leiden sehen und bot direkte Abhilfe an. Er zeigte auf das hölzerne 12Mausoleum, dessen Fassade erst 1930 durch grauen und roten Granit ersetzt werden sollte, dann schlug er vor, einige Kanister Benzin zu besorgen, die »Totem«-Baracke anzuzünden und so auf eigene Faust eine kleine »Revolution« zu machen.

 

Bekanntlich befolgte der Vorsitzende der Kommunistischen Jugendorganisation Russlands den Vorschlag seines italienischen Genossen nicht. Weder fackelte er das Lenin-Mausoleum ab, noch konnte er über die schöne Idee auch nur lachen. Stattdessen wurde er »furchtbar blass und begann zu zittern«. Dann bat er seinen Freund, nie wieder etwas so Scheußliches zu sagen.

Zwei affektive Zustände prägen diese kurze Sequenz, die Ignazio Silone in einem 1950 geschriebenen autobiographischen Essay erinnert. Zunächst ein Zustand von Blässe und Zittern. Obwohl sich der Stalinismus erst 1929 konsolidierte (Arendt 2008 [1951], 629), waren diese Reaktionen bereits Mitte der zwanziger Jahre Ausdruck einer aufkommenden stalinistischen Subjektivität. Erstens weil die systematische Vergötzung Lenins, der »Leninismus« oder »Marxismus-Leninismus« selbst ein stalinistisches, von Stalin entwickeltes Konzept war (Adamczak 2007, 123ff.). Zweitens weil Silones Angst rückblickend mehr als gerechtfertigt erscheint. Nur wenige Jahre später würde ein Witz tatsächlich ausreichen, um nicht nur aus der Partei ausgeschlossen, sondern auch verhaftet und verbannt, zu Zwangsarbeit verpflichtet oder erschossen zu werden. Auch Schatzky sollte, zehn Jahre nach diesem Spaziergang, dem stalinistischen Terror zum Opfer fallen. Nicht wegen eines Witzes, aber aufgrund einer ähnlich absurden Mitgliedschaft in einem frei erfundenen »trotzkistisch-sinowjewschen Block«.

Der zweite affektive Zustand, der die kurze Sequenz prägt, 13ist zugleich offenkundiger und rätselhafter. Anders als bei Schatzkys Angst ist es bei seiner Traurigkeit nicht nötig, körperliche Zeichen zu interpretieren. Er sprach dieses Gefühl wie dessen Grund offen aus: Der Revolutionär war traurig, weil er die Revolution verpasst hatte. Was allerdings einer Interpretation bedarf, ist diese Traurigkeit selbst. Es ist die Traurigkeit des Revolutionärs nach der Revolution, nach der passierten und verpassten Revolution. Warum sollte jemand – und der Vorsitzende der Kommunistischen Jugend Russlands ist nicht irgendjemand – darüber traurig sein, darüber traurig sein können, die Revolution verpasst zu haben? Schließlich handelte es sich bei derjenigen von 1917 nicht um ein folgenloses oder abgeschlossenes Ereignis wie so viele Revolutionsversuche davor und danach, sondern um einen folgenreichen und fortgesetzten Prozess. Die Russische Revolution war, unbestreitbar, siegreich, sie war, nach den niedergeschlagenen proletarischen Revolutionen von Haiti (bzw. Saint-Domingue, vgl. James 1984) und Paris (Jakobiner, vor allem Pariser Commune, vgl. Ross 2015), die erste dauerhaft siegreiche sozialistische Revolution. Anders als ihre Vorgängerinnen und die meisten ihrer Nachfolgerinnen wurde die Russische Revolution nicht von äußeren Feinden geschlagen. Bereits 1921 waren alle Angriffe imperialistischer Staaten wie konterrevolutionärer Truppen abgewehrt worden. Nachdem die monarchistischen oder bürgerlichen »Weißen« besiegt und die ehemals verbündeten anarchistischen »Schwarzen« verraten waren, konnten die bäuerlichen »Grünen« befriedet werden, womit die bolschewistischen »Roten« als unbestrittene Sieger aus dem Bürgerkrieg hervorgingen. Warum also sollte jemand, der wie der Vorsitzende der Kommunistischen Jugend Russlands den »Roten« angehörte, einen Kampf wiederholen wollen, nachdem er gewonnen wurde? Einen Kampf zumal, dessen (bürger)kriegerischer Verlauf über eine Million Tote 14gefordert hatte (Figes 2008, 17)? Was heißt es, die Revolution herbeizusehnen, sie zu vermissen und zu begehren – nach der Revolution? Und was bedeutet es, angesichts der Unmöglichkeit, diesen Wunsch zu erfüllen, traurig und niedergeschlagen zu sein, vielleicht sogar resigniert und antriebslos? Warum also litt Lazar Schatzky unter einer postrevolutionären Depression?1

Notwendige ökonomische und freie kriegerische Politik


In seiner Traurigkeit war Lazar Schatzky nicht allein. Unter ihr litten in den zwanziger Jahren in Russland viele Menschen, insbesondere Kommunistinnen. Die scheinbar naheliegende Erklärung für die postrevolutionäre Depression (PRD) bestand in der Unzufriedenheit der Beteiligten mit den Ergebnissen der Revolution, mit dem Fortschritt des Sozialismus. Insbesondere die Einführung der Neuen Ökonomischen Politik galt als Zugeständnis an die kapitalistische Ökonomie, an alte wie neue Bourgeoisie. Lenin bezeichnete sie als eine »Niederlage«, die »ernster war als irgendeine Niederlage«, die den 15Bolschewiki jemals von konterrevolutionären Generälen beigebracht worden war und angesichts derer es »natürlich unvermeidlich« sei, »dass manche Leute in einen recht deprimierten, fast panikartigen Zustand« verfielen (Lenin, LW 33 [1921], 43f.). Der Vorsitzende der Kommunistischen Internationalen, Grigori Sinowjew, schlug vor, die NÖP nicht als Neue, sondern als Notwendige Ökonomische Politik auszuschreiben (Naiman 1997, 10). Und Karl Radek formulierte 1922 knapp: »Wir gehen vorsätzlich mit der Bourgeoisie ins Bett« (zitiert nach Naiman 1997, 81).

Tatsächlich brachte die Warenwirtschaft der Neuen Ökonomischen Politik gegenüber dem Bezugscheinesystem des Kriegskommunismus wirtschaftliche Entspannung (Mats 2012, 66), vergrößerte aber auch erneut die soziale Ungleichheit (Benjamin 1980 [1927], 103f., Ostrowski 2004 [1932], 282ff.). Auch wenn manch führender Parteikader das Entstehen der Neukapitalistinnen mit einer gewissen Entspanntheit betrachtete und plante, sie »wie junge Hühner fett werden zu lassen«, um ihnen »sobald sie lästig würden […] höflichst den Hals umzudrehen« (Kopelew 1979, 219), war die allgemeine Stimmung gedämpfter. »War es wirklich nötig«, fragte ein Komsomolze in seinem Brief an Trotzki, »die Oktoberrevolution zu machen, bei der so viele junge Menschen getötet wurden, nur um zur Vergangenheit zurückzukehren?« (Zitiert nach Gorsuch 1997, 567.)216

Das Unbehagen in der Ordnung der Neuen Ökonomischen Politik erklärt allerdings noch nicht, warum sich die Sehnsucht der Revolutionäre nicht auf die kommunistische Zukunft richtete, sondern auf die kriegskommunistische Vergangenheit. Auch das war keine individuelle Eigenart Lazar Schatzkys, sondern eine kollektive Erfahrung, »verbreitet unter denjenigen Kommunisten in Russland, die sich von der Neuen Ökonomischen Poltik verraten fühlten« (Borenstein 2000, 40, vgl. auch Werth 1998, 108). Obwohl diese Tendenz insbesondere von alten Bolschewiki, die bereits vor 1917 Mitglieder der Partei gewesen waren und in dieser jetzt eine Minderheit bildeten, kritisiert wurde, stellte der Kriegskommunismus ein Reservoir an idealisierten Bildern zur Verfügung, an denen sich »Verhalten, Sprache und sogar Aussehen von Kommunistinnen in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts« orientierten (Fitzpatrick 1985, 58). Er erhielt seine Anziehungskraft nicht trotz, sondern gerade wegen seines martialischen Namens, der nur im Deutschen die Form einer Alliteration, aber in jeder Sprache die eines Oxymorons hat. Auf den ersten Blick war es gerade das Primat des Kampfes, das den Kriegskommunismus von der Neuen Ökonomischen Politik unterschied. Während die Aufgabe zuvor im Ausschalten der Konterrevolution bestanden hatte, ging es nun um den Aufbau einer postrevolutionären Ordnung; während die Situation zuvor Mut und Entschlossenheit gefordert hatte, verlangte sie jetzt Geduld und Disziplin. Der Übergang war...

Erscheint lt. Verlag 9.10.2017
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte 1968 • 68 • Bolschewiki • edition suhrkamp 2721 • ES 2721 • ES2721 • Joschka Fischer • Lenin • Moskau • Rudi Dutschke • Russische Revolution
ISBN-10 3-518-75466-1 / 3518754661
ISBN-13 978-3-518-75466-5 / 9783518754665
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