Berlin – ein Stadtschicksal (eBook)

(Autor)

Florian Illies (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
200 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74289-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Berlin – ein Stadtschicksal - Karl Scheffler
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+++ Herausgegeben und mit einem Vorwort von Florian Illies +++ Es ist der wohl berühmteste Satz, der je über die deutsche Hauptstadt geschrieben wurde. Berlin, so heißt es in den letzten Zeilen von Karl Schefflers 1910 erschienenem Klassiker, sei dazu verdammt, »immerfort zu werden und niemals zu sein«. Anders als London oder Paris fehle der Metropole an der Spree ein organisches Entwicklungsprinzip. Sie sei nicht mehr als eine Kolonialstadt, ihr einziger Zweck die Eroberung des Ostens, ihre Bevölkerung ein zusammengewürfelter Haufen materialistisch orientierter Eigenbrötler. Keine Kunst oder Kultur, die es mit der aus den Weltstädten hätte aufnehmen können. Weit und breit nichts als Provinzialität und kulinarische Verfehlungen. Berlin: »Stadt der Konserven, des Büchsengemüses und der Universaltunke«. Was Scheffler nicht ahnen konnte: Sein Diktum sollte sich als Prophezeiung erweisen. Von den Goldenen Zwanzigern über die anarchischen neunziger Jahre bis zur Blütezeit als Welthauptstadt des Hipstertums zu Beginn des neuen Jahrtausends - kaum ein anderer Autor hat den faszinierenden und einzigartigen Charakter Berlins so treffend beschrieben. Die ehemalige Mauerstadt ist zum Symbol für eine neue Urbanität geworden, gesegnet mit dem Privileg, niemals sein zu müssen, sondern immerfort werden zu dürfen.

<p>Karl Scheffler (1869-1951) war Kunstkritiker und Publizist. 1906 legte er mit <em>Der Deutsche und seine Kunst. Eine notgedrungene Streitschrift</em> ein polemisches Pl&auml;doyer f&uuml;r den Impressionismus als Kunstform der Moderne vor. Ab 1907 war er Herausgeber der einflussreichen Zeitschrift Kunst und K&uuml;nstler, bis diese 1933 von den Nationalsozialisten verboten wurde.</p>

Die Bevölkerung

Alle Hauptstädte Europas sind anders entstanden als Berlin. Sie sind geworden wie sie sind, weil sie von Anfang an natürliche Mittelpunkte waren und Sammelbecken, in denen die besten Energien des Volkes in dem Maße zusammenflossen, wie das Gemeinschaftsbewußtsein wuchs ; weil sie das Herz der Länder waren, zu dem alle Kräfte hinstreben, um gleich auch wieder befruchtet zurückzukehren. Darum finden wir in Hauptstädten wie Paris, Wien, London, Kopenhagen, in Großstädten wie Hamburg, Köln, Dresden oder München immer eine wirkliche, in sich abgeschlossene Stadtwirtschaft und eine Bevölkerung, die einen Volksextrakt darstellt. Eine Bevölkerung, die bestimmte nationale Eigenschaften in Reinkultur verkörpert und in der Alles, was in der Provinz Instinkt ist, Kulturbewußtsein gewinnt. Anders in Berlin. Das ist entstanden infolge eines Vorstoßes pionierender germanischer Stämme ins Wendengebiet. Es ist in der Folge nur gewachsen, wenn neuer Zuzug aus dem Westen, dem Süden oder gar aus fremden Ländern kam. Stieg die Bevölkerungsziffer, so geschah es, wenn Markgrafen, Kurfürsten und Könige neue Kolonisten in die Mark zogen. Berlin ist buchstäblich geworden wie eine Kolonialstadt, wie im neunzehnten Jahrhundert die amerikanischen und australischen Städte tief im Busch entstanden sind. Wie der Yankee das Produkt von deutschen, englischen, irischen, skandinavischen und slawischen Volkselementen ist, so ist der Berliner das historische Produkt einer Blutmischung, deren Bestandteile aus allen Gauen Deutschlands, aus Holland, Frankreich und den slawischen Ländern stammen. Niemals wäre diese künstliche Mischung möglich gewesen, wenn nicht die Eroberung des Neulandes, wenn nicht die Not des Lebens einigend gewirkt hätte. Nur durch den harten Zwang von Gefahr und Not waren die fremdartigen Elemente zu verschmelzen. Auswanderer pflegen nicht der Blüte des Volkes anzugehören. Der Tüchtige, der es zu etwas bringt, ist zu allen Zeiten daheim geblieben und hat zu Hause das Regiment geführt. Die Kolonisten, die nach dem freudlosen Osten zogen, in die freudlose junge Germanensiedelung Berlin oder die sich dahin ziehen ließen, zuerst von den Lokatoren, Mönchen und Markgrafen, später von den Kurfürsten und Königen und endlich von den neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten der Großstadt, das waren im wesentlichen halb oder ganz Enterbte. Es waren energische, willensstarke, beutehungrige und freiheitsdurstige Menschen, erblose Söhne, Unterdrückte, Besitzlose und Solche, die zu Hause nicht im besten Ruf standen. Und dann der große Haufen Vertriebener oder Ratloser, der sich von Unternehmern durch die Anpreisung wohlfeilen Anbaulandes herüberziehen oder sich von Voraufgegangenen herüberlocken ließ. Ein Kulturbildner ist solche Mischbevölkerung nicht. Sie kommt spät oder gar nicht zur Ruhe des Genusses, wird schwer nur zu einer geistigen Einheit und findet darum nicht schöne synthetische Lebensformen. Aber dafür wird sie widerstandsfähig, praktisch, hart und zähe im Daseinskampfe, wird yankeehaft unternehmend und im profanen Sinne tüchtig im Wollen und Vollbringen.

Als der Sohn eines bunten Auswanderergeschlechts ist der Berliner also, wie er uns aus den Jahrhunderten entgegentritt, zu betrachten. Als ein Abkomme jener ersten Altfriesen und Niedersachsen, die im zwölften Jahrhundert aus der Altmark vordrangen, die Wenden nach Alt-Kölln, auf die sumpfige Flußinsel zurückdrängten und sich am rechten Ufer des Flusses festsetzten ; als ein Nachfahre jener von den Cisterciensern geführten Germanisierer, jener von dem Wendenbesieger Albrecht dem Bären herübergerufenen Rheinländer und Niederländer, deren Erfahrung in der Kultivierung sumpfigen und sandigen Landes sie als besonders geeignet zur Bewirtschaftung des märkischen Bodens erscheinen ließ. Aber nach den ersten Pionieren, die zugleich mit Pflug und Schwert eroberten, drangen jahrhundertelang dann neue Ansiedler herzu, sie kamen von allen Seiten während der Regierung der Askanier und Wittelsbacher, während der Kämpfe zwischen Bürgern, Adel und Fürsten, während die Mark erobert, verwüstet, verpfändet und von den Reichsfürsten so recht wie ein fernes Meiergut behandelt wurde, von dem nur der Zins interessiert. Sie kamen als Söldner, Abenteurer und Vaganten und blieben als Kolonisten, als Ackerbürger, Handwerker oder Krämer in Kölln und Berlin. In dem Maße, wie die besiegten Wenden dann nicht mehr so sehr als Feinde, als Paria betrachtet wurden, als man sie nicht mehr so strenge zwang, in Kietzen und Sumpfdörfern den neuen Herren aus dem Weg zu gehen, fand in der Folge auch eine germanisch slawische Blutmischung statt. Wie viele Elemente der wendischen Sprache in die der Eroberer hinübergenommen wurden und wie dadurch ein charakteristisches Kolonistenjargon entstand, so mischte sich auch vom Denken und Empfinden der Besiegten Manches in das der Sieger, deren Art determinierend und wesentliche Züge Dessen ausprägend, was uns in der späteren Geschichte als märkisch und speziell als berlinisch entgegentritt. Diese germanisch-slawische Blutmischung hat ja im ganzen Nordosten, bis hinunter nach Sachsen und Schlesien, einen eigenen Typus geschaffen ; in Berlin resultierte daraus aber eine eigene Nuance, weil die Blutmischung dort früher und intensiver als anderswo erfolgte. Diese Mischung hatte längst begonnen, als die Hohenzollern in die Mark kamen, als der Schwarze Tod würgend durch die schmutzigen Gassen der beiden Spreestädte Kölln-Berlin schritt, die junge Siedelung entvölkernd und immer neuen Zuzug aus dem Reich fordernd. Am Anfange des sechzehnten Jahrhunderts werden charakteristische Schimpfreden wie »wendische Hunde« oder »wendische Bankerte«, die vorher oft genug bei Tumult und Aufruhr über den Mühlendamm und die Lange Brücke herübergerufen worden sind, bereits vergessen worden sein. Denn zu diesem Zeitpunkt hatten sich die unendlich heterogenen Elemente der Doppelstadt notdürftig schon geeinigt ; oder sie hatten sich vielmehr im wahren Sinne des Wortes »zusammengerauft«. Als dann aber der Dreißigjährige Krieg die am Flußübergang allen durchziehenden Soldatenhaufen offen daliegenden Städte schwer getroffen, ja fast vernichtet hatte, als die Bevölkerung infolgedessen so dezimiert worden war, daß man in Berlin nur noch 556 Haushalte und in Kölln 379 zählte, als in der unter schwedischer Oberhoheit hinvegetierenden Stadt so großes Elend herrschte, daß von den Bürgern ernsthaft der Plan einer Massenauswanderung, einer Aufgabe der Stadt erwogen wurde, da waren es wieder fremde Einwanderer, vom Großen Kurfürsten nun herbeigerufen, die die Lücken füllen mußten. Daß Berlin nach dem Dreißigjährigen Kriege so ganz verzagen konnte, ist ein deutliches Zeichen, daß es zu diesem Zeitpunkt sogar eine Stadt mit unerschütterlichem Stadtbewußtsein noch nicht war. Magdeburg ist in schrecklicherer Weise zerstört worden, aber niemand hat daran gedacht, die Stadt aufzugeben. Denn in diesem Falle war die Stadt ihren Bewohnern eine Heimat, eine rechte Vaterstadt ; und das eben vermochte selbst das Berlin der Spätrenaissance seinen Bürgern noch nicht zu sein. Die Doppelstadt war einmal kein natürlicher Mittelpunkt, zu dem das Leben des Landes immer aufs neue gravitierte und in dem sich die Elite des Volkes sammelte, sondern ein vorgeschobener Posten, der von Jahr zu Jahr aufs neue verteidigt sein wollte und zu dem immer neue Menschenmassen, Germanen und Slawen, Franzosen und Juden halb gewaltsam hingeführt werden mußten. Und als sich die Straßen nun unter des Großen Kurfürsten klug ordnender und mehrender Regierung wieder füllten, als die zerstörten Häuser aufgebaut, die leeren Wohnungen bezogen und neue Stadtteile angelegt wurden, da konnte ein schöpferisches Heimatgefühl selbst von diesem genialen Mann nicht mitgeschaffen werden. Denn nun wurde Berlin von neuem der Ort eines wahrhaft kolonialen Völkergemisches. Die französischen Hugenotten, die in so großer Zahl herbeigezogen wurden, daß man ihnen besondere Stadtteile mit eigenen Schulen, Gerichten, Kirchen und Spitälern anweisen mußte, die lange Zeit mehr als ein Fünftel der ganzen Bevölkerung ausmachten und die französische Sprache in Berlin einbürgerten, brachten fremde romanische Elemente und Kulturformen, die ganz äußerlich bleiben mußten, weil die östliche Stadt für die Segnungen der importierten Industrien längst noch nicht ein fruchtbarer Boden war ; die einwandernden Holländer suchten dort, wo sie als Baumeister und Organisatoren Wirkungsmöglichkeiten fanden, ihre heimische Lebensart in die Mark zu übertragen, ohne daß ein starker Lokalgeist ihre Eigenart doch hätte verarbeiten können. Daneben kamen dann Scharen von Pfälzern und Schweizern, von Salzburgern und von böhmischen und mährischen Methodisten. Es bedurfte wieder der angestrengten Arbeit einiger Generationen, bis die Réfugiés Berliner, die Holländer, Waldenser, Österreicher und alle die Anderen gute Märker geworden waren. Die Stadtbevölkerung wirkte sogar noch ganz uneinheitlich und setzte sich aus vielen verschiedenen Interessenkreisen zusammen, als Friedrichs des Großen Kriege, als die aus Werbetruppen bestehenden Heere immer neue Volkselemente wieder in die junge Preußenresidenz brachten, als dieser mächtige Wille eine eigene »Kommission zur Herbeischaffung von Kolonisten« einsetzte und seine Gesandten in den fremden Ländern anhielt, »fleißigen und arbeitsamen« Arbeitern alle möglichen Vorteile zu versprechen, als er mit Hilfe von Pfälzern, Schwaben, Polen, Franken und Westfalen den Oderbruch trocken legte, mehr als eine Provinz »im Frieden« eroberte, und als alle diese Fremdlinge von nun an Berlin als ihr Stadtzentrum zu betrachten hatten. Nichts ist bezeichnender dafür, was der jungen...

Erscheint lt. Verlag 7.11.2015
Nachwort Florian Illies
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte 1910 • 1913 • Airbnb • Berlin • Berlin-Klassiker • Florian Illies • Hipster • Stadt • Urbanität
ISBN-10 3-518-74289-2 / 3518742892
ISBN-13 978-3-518-74289-1 / 9783518742891
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