Der totale Rausch (eBook)
368 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31517-2 (ISBN)
Norman Ohler, 1970 geboren, ist der Autor von vier von der Presse gefeierten Romanen und zwei Sachbüchern. Sein erster Roman »Die Quotenmaschine« erschien 1995 zunächst als Hypertext im Netz und gilt als weltweit erster Internet-Roman. »Mitte« (2001) und »Stadt des Goldes« (2002) komplettieren seine Metropolentriologie. 2015 erschien »Der totale Rausch« über die kaum aufgearbeitete Rolle von Drogen im Dritten Reich. Es wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt und stand auf der Bestsellerliste der New York Times. Paramount hat eine Option auf die Filmrechte erworben. 2017 erschien Ohlers historischer Kriminalroman »Die Gleichung des Lebens«, der mit lebendigem Zeitkolorit das 18. Jahrhundert wiederauferstehen lässt.
Norman Ohler, 1970 geboren, ist der Autor von vier von der Presse gefeierten Romanen und zwei Sachbüchern. Sein erster Roman »Die Quotenmaschine« erschien 1995 zunächst als Hypertext im Netz und gilt als weltweit erster Internet-Roman. »Mitte« (2001) und »Stadt des Goldes« (2002) komplettieren seine Metropolentriologie. 2015 erschien »Der totale Rausch« über die kaum aufgearbeitete Rolle von Drogen im Dritten Reich. Es wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt und stand auf der Bestsellerliste der New York Times. Paramount hat eine Option auf die Filmrechte erworben. 2017 erschien Ohlers historischer Kriminalroman »Die Gleichung des Lebens«, der mit lebendigem Zeitkolorit das 18. Jahrhundert wiederauferstehen lässt.
Burn-out
Wegen des Überfalls auf Polen erklärten England und Frankreich am 3. September 1939 Deutschland den Krieg: Diese Pille schluckten sie nicht mehr. Doch geschossen wurde im Westen zunächst nicht. Im sogenannten Sitzkrieg lagen sich die Gegner über Monate hinweg regungslos gegenüber. Keiner wollte kämpfen. Der Schock des Ersten Weltkrieges, als es vier Jahre lang kaum von der Stelle gegangen war und Millionen von Soldaten verrecken mussten, steckte noch zu tief in den Knochen. Spruchbänder wurden aufgehängt: »Wir schießen nicht, wenn ihr nicht zuerst schießt«.[92] Von Kampfeseifer oder nationalistischem Stolz konnte auf keiner Seite die Rede sein, ganz anders als 1914. »Die Deutschen begannen den Krieg«, schreibt Golo Mann, »aber Lust hatten sie keine dazu, nicht die Zivilisten, nicht die Soldaten, am wenigsten die Generäle.«[93]
Nur ein Einziger sah die Sache anders. Hitler wollte Frankreich so rasch wie möglich attackieren, am liebsten noch im Herbst 1939. Ein Problem gab es allerdings dabei: Der vereinte Westen war den Deutschen gegenüber rüstungstechnisch und an Truppenstärke klar im Vorteil. Anders als es die NS-Propaganda nach außen hin darstellte, verfügten die Deutschen keineswegs über ein überlegenes Militär. Im Gegenteil musste nach dem Polenfeldzug die Ausrüstung dringend erneuert werden. Die meisten Divisionen waren nur mangelhaft ausgestattet, kaum die Hälfte einsatzfähig.[94] Die Armee der Franzosen hingegen galt als stärkste Truppe der Welt, und England verfügte mit seinem weltumspannenden Empire über schier unendliche Ressourcen für die Kriegswirtschaft.
Die blanken Zahlen sprachen Bände: Auf deutscher Seite standen knappe drei Millionen Soldaten, bei den Alliierten eine gute Million mehr. 135 Divisionen der Wehrmacht waren mit 151 Divisionen des Westens konfrontiert, 7378 Artillerie-Geschütze ragten gegen ca. 14000. Auch bei den Panzern sah die Sache eindeutig aus: 2439 deutsche versus 4204 des Westens, noch dazu Letztere mit einer mindestens doppelt so dicken Panzerung ausgestattet: Während die der Wehrmacht nur 30 Millimeter stark war, hatten die Franzosen 60 Millimeter, die Briten sogar 80 Millimeter Stahl. Die Luftwaffe konnte 3578 Kampfflieger aufbieten, die Alliierten 4469 einsatzbereite Maschinen.[95]
Die militärische Faustregel besagt, dass ein Angreifer drei zu eins überlegen sein muss, um eine erfolgreiche Invasion durchführen zu können. Kein Wunder, dass es dem Oberkommando der Wehrmacht nicht gelang, einen erfolgversprechenden Plan auszuarbeiten. Doch Hitler gab sich, diese Realitäten nicht zur Kenntnis nehmend, überzeugt: Die arische Kämpferseele würde es schon irgendwie richten. Immer wieder sprach er, fehlinspiriert von der gedopten Performance im Polenfeldzug, von dem »Wunder an Tapferkeit des deutschen Soldaten«.[96]
In Wahrheit war auch der Diktator ratlos. Die Kriegserklärungen Englands und Frankreichs hatten ihn kalt erwischt; bis zuletzt hatte er gehofft, der Westen würde auf die Invasion Polens ebenso zahnlos reagieren wie zuvor auf die Zerschlagung der Tschechoslowakei. Doch dem war nicht so, und plötzlich musste Deutschland, ohne dafür gewappnet zu sein, allein einen Krieg gegen ganz Westeuropa führen. Hitler hatte das Reich in eine ausweglose Situation manövriert, er stand mit dem Rücken zur Wand. Sein Generalstabschef Halder warnte: »Zeit wird im allgemeinen gegen uns arbeiten, wenn wir sie nicht weitestgehend ausnützen. Wirtschaftliche Mittel auf der anderen Seite stärker.«[97] Was also tun? Außer einer kopflosen Flucht nach vorn fiel Hitler nichts ein. Das mathematisch-nüchtern planende Oberkommando der Wehrmacht zeigte sich von diesem Drängen entsetzt. Ohnehin stand der böhmische Gefreite mit seinen erratischen Einfällen und sprunghaften Intuitionen bei den preußischen Generalstabsoffizieren keineswegs hoch im Kurs, sondern war als militärischer Dilettant verschrien. Ein mangelhaft vorbereiteter Angriff konnte nur in die erneute Niederlage führen, wie im Ersten Weltkrieg. Sogar ein Staatsstreich gegen den Diktator wurde deshalb vorbereitet. Von Brauchitsch und sein Stabschef Halder hatten vor, Hitler festzunehmen, sollte er den Angriffsbefehl geben. Nach dem Attentatsversuch Georg Elsers auf Hitler am 8. November 1939 im Münchner Bürgerbräukeller wurden diese Pläne wieder fallen gelassen.
Da kam es in den Herbsttagen 1939 in Koblenz zu einer entscheidenden Begegnung zweier hoher Offiziere, die gemeinsam ein gewagtes Konzept entwickelten. Der 52-jährige Erich von Manstein, ein General aus Berlin mit aufbrausendem Gemüt und dauerentflammten Wangen, besprach sich mit dem ein Jahr jüngeren ostpreußischen General der Panzertruppe Heinz Guderian. Die einzige Chance der Wehrmacht, so überlegten sie, könnte darin bestehen, blitzartig mit einer Armada von Panzern durch das als unpassierbar geltende belgische Ardennen-Gebirge zu stoßen, um binnen weniger Tage die französische Grenzstadt Sedan zu erreichen und gleich weiter zur Atlantikküste zu stürmen. Da die Alliierten einen Angriff weiter oben im Norden vermuteten und ihre Kräfte dort massierten, könne durch einen solchen »Sichelschnitt« das Gros der Verteidiger überrumpelt und eingekesselt werden. Ein für das Reich nicht zu gewinnender Stellungs-und-Abnutzungs-Krieg wie im Ersten Weltkrieg wäre vermieden, die übermächtigen Alliierten durch einen Überraschungscoup von ihrem Hinterland abgeschnitten und zur Kapitulation gezwungen. Trick siebzehn sozusagen.
Im deutschen Generalstab löste der tollkühne Vorschlag nur Kopfschütteln aus. Panzer wurden da noch als schwerfällige Ungetüme angesehen, die den anderen Waffengattungen zwar zur Hilfe kommen, nicht aber in selbstständig agierenden Einheiten einen beweglichen Angriff zumal durch kaum befahrbares, gebirgiges Gelände führen konnten. Der skizzierte Aufmarschplan galt schlichtweg als verrückt, und um den Hasardeur von Manstein kaltzustellen, versetzte man ihn an den Ostseehafen Stettin, weit weg vom künftigen Kampfgeschehen. Weiterhin begegneten die Generalstäbler Hitlers permanentem Drängen auf Losschlagen mit immer neuen Ausflüchten. Allein das schlechte Wetter wurde Dutzende Male vorgeschoben, um nicht angreifen zu müssen. Die Wehrmacht besaß nämlich, wie es damals hieß, lediglich eine Schönwetterbewaffnung – und war auf wolkenfreien Himmel für ihre Luftwaffe angewiesen.
So fiel die Westfront zunächst in einen Dornröschenschlaf. Als Ranke im Oktober 1939 die barocke Kleinstadt Zweibrücken in der Pfalz besuchte, nahe der Grenze zu Lothringen gelegen, ragten zwar Panzersperren in den Himmel, doch die meiste Zeit spielten die Landser Skat, Schafs- und Doppelkopf, rauchten gemäß ihrer Zuteilung Zigaretten – sieben Stück am Tag –, kickten Fußball, halfen bei der Kartoffelernte und lullten durch ihre Friedfertigkeit die nur wenige Kilometer entfernt liegenden Franzosen geradezu ein.
Doch das hieß nicht, dass die Deutschen nicht jederzeit darauf vorbereitet waren, in einen anderen Modus überzuwechseln. In der Hosentasche hielten sie nämlich das Wachhaltemittel stets griffbereit. Rasch stellte Ranke fest, dass »ein ganz großer Teil der Offiziere Pervitin mit sich trägt. (…) Die günstige Wirkung wurde von allen Befragten, sowohl motorisierten Truppen, wie Angehörigen anderer Truppenteile überall bestätigt.«[98] Trotz der Friedhofsruhe war allen klar: Jederzeit konnte es losgehen. Dann hatte man auf einen Schlag topfit und knallwach zu sein. Deshalb wurde der Gebrauch schon einmal fleißig geübt.
Alarmiert über diese prophylaktische Verwendung schrieb Ranke: »Frage lautet nicht, ob Pervitin einzuführen ist oder nicht, sondern wie bekommt man die Benutzung wieder in die Hand. Pervitin wird massenhaft verwendet, ohne ärztliche Kontrolle.« Mit Nachdruck drängte er auf eine Richtlinie, einen Beipackzettel, um den Gebrauch zu regeln und die »Erfahrungen des Ostens (Polenfeldzug) für den Westen fruchtbar zu machen«.[99] Doch noch immer geschah nichts in dieser Hinsicht.
Wie selbstverständlich das Pervitin war, wie sehr es um sich griff, zeigt auch die Tatsache, dass Ranke selbst es mittlerweile regelmäßig einnahm und darüber in seinem kriegsärztlichen Tagebuch wie in Briefen freimütig berichtete. Einen durchschnittlichen Arbeitstag erleichterte er sich mit zwei Temmler-Tabletten, bewältigte dadurch seinen Stress im Dienst und besserte seine Laune. Obwohl er um die Gefahren der Abhängigkeit wusste, zog er, der selbst ernannte Pervitin-Experte, daraus keine persönlichen Rückschlüsse. Für ihn blieb der Stoff eine Arznei, von der er sich so viel gönnte, wie er es für richtig hielt. Traten Nebenwirkungen auf, erkannte er diese nicht als solche, sondern machte sich etwas vor: »Trotz Pervitin bekomme ich ab 11 Uhr zunehmend Kopfschmerzen und Verdauungsstörungen.« Unverblümt schrieb er einem Kollegen: »Es erleichtert (…) die Konzentration sehr deutlich und führt zu einem Gefühl der Erleichterung gegenüber dem Anpacken schwieriger Aufgaben. Es ist also nicht nur ein Weckmittel, sondern ein deutlicher Stimmungsheber. Bleibende Schädigungen sind auch bei hoher Überdosierung nicht beobachtet worden. (…) Es gelingt mit Pervitin ohne weiteres, 36 bis 40 Stunden ohne irgendwie spürbare Ermüdung durchzuarbeiten.«[100]
Zwei Tage und zwei Nächte an einem Stück wach zu bleiben, wurde für den Wehrphysiologen zur Norm. Permanent arbeitete er in...
Erscheint lt. Verlag | 10.9.2015 |
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Zusatzinfo | zahlreiche s/w Abbildungen |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► 20. Jahrhundert bis 1945 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | Deutschland • Drittes Reich • Drogen • Drogenmissbrauch • Drogen-Missbrauch • Fanatismus • Gesellschaft • Hitler • Ideologie • Journalist • Leibarzt • Militär • Nationalsozialismus • Norman Ohler • Rauschgift |
ISBN-10 | 3-462-31517-X / 346231517X |
ISBN-13 | 978-3-462-31517-2 / 9783462315172 |
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