Amerika! (eBook)
640 Seiten
Siedler (Verlag)
978-3-641-10276-0 (ISBN)
Geert Mak hat sich wieder auf den Weg gemacht. Der Bestsellerautor von »In Europa« ist quer durch die Landschaft, durch Geschichte und Gegenwart, ja durch die Köpfe und Herzen der USA gereist. Dabei trifft er unterschiedlichste Menschen, macht außergewöhnliche Beobachtungen und erzählt hinreißende Geschichten. Mit diesem Buch begibt sich Mak auf die Suche nach den Wurzeln des großen amerikanischen Traums und beschreibt die Mythen und das Selbstverständnis jenes Landes, das uns immer noch am meisten beschäftigt.
Was ist aus dem amerikanischen Traum geworden, seit John Steinbeck 1960 die USA gemeinsam mit seinem berühmten Pudel Charley durchquert hat? Dieser Frage folgt der international bekannte Publizist Geert Mak und macht sich dafür selbst auf den Weg durch die Vereinigten Staaten, fernab ausgetrampelter Pfade, quer durch ein Land, das er liebt und zugleich kritisch betrachtet. Meile um Meile dringt er tiefer in das Land und seine Mythen, sein Selbstverständnis, seine Großartigkeit und Zerrissenheit vor. Seine Reise führt ihn von den großen Ostküstenstädten über die Kartoffelacker des Hinterlandes und die Prärie des mittleren Westens bis zum Pazifik. Er trifft Menschen - setzt sich an einen Tisch mit dem Farmer, dem Fabrikarbeiter, dem Fischer, dem Lehrer. Er streift durch die riesigen Malls und die Vororte, und er sucht nach den Wurzeln des Landes, das sich radikal verändert und doch den Glauben an den amerikanischen Traum bewahrt hat.
Geert Mak, geboren 1946, ist einer der bekanntesten Publizisten der Niederlande und gehört nach drei großen Bestsellern zu den wichtigsten Sachbuchautoren des Landes. Zu seinen bekanntesten Veröffentlichungen zählen »Amsterdam« (1997), »Das Jahrhundert meines Vaters« (2003) und »In Europa« (2005). Zuletzt erschienen »Amerika! Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten« (2013) sowie »Die vielen Leben des Jan Six« (2016). Für sein Werk erhielt Geert Mak 2008 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Seine Bücher sind internationale Bestseller und wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.
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Unsere Rosinante war ein Jeep, ein Jeep Liberty in Silbermetallic. Nagelneu, ein robustes Fahrzeug mit Automatik, Tempopilot und Servolenkung, aber nicht allzu groß – jedenfalls für amerikanische Begriffe. Auf einer ausgedehnten Betonfläche am John F. Kennedy International Airport durfte ich mich mit ihm vertraut machen, und nach dem Ausfüllen einiger Formulare gehörte er für mindestens zehn Wochen mir. Der Meilenzähler stand auf 189. Der ganze Wagen roch nach neuem Kunststoff und Metall.
Ich hatte ein paar Taschen und Koffer bei mir, darin auch einiges an Lesestoff. Steinbeck natürlich, einschließlich der Kopien aller erhaltenen, während der Reise mit Charley geschriebenen Briefe. Außerdem ein paar frühere und spätere Reiseberichte von Schriftstellern und Journalisten, die ähnliche Touren unternommen hatten. Zum Beispiel die gesammelten Kolumnen von Ernie Pyle, einem Freund Steinbecks und bedeutenden Kriegsberichterstatter, der in den dreißiger Jahren für eine Reihe von Zeitungen kreuz und quer durchs Land gefahren war. Natürlich habe ich auch Inside U.S.A. des Journalisten John Gunther mitgenommen, der von Dezember 1944 bis Ende 1945 sämtliche achtundvierzig Staaten besucht und eine etwas systematischere Bestandsaufnahme gemacht hatte; ein dickes Buch mit vielen interessanten Details und Tabellen. Gunther war einer der namhaftesten Journalisten seiner Generation, auch er kannte Steinbeck aus der New Yorker Szene. Es war noch ein eher bescheidenes Amerika, das er 1945 bereiste: 15 Prozent der Wehrpflichtigen konnten weder lesen noch schreiben, nur jede zehnte Familie verfügte über ein Jahreseinkommen von mehr als 4000 Dollar, in 40 Prozent der Wohnungen oder Häuser gab es weder Bad noch Dusche, in 35 Prozent nicht einmal eine Toilette.
Als weiteres Buch aus den vierziger Jahren hatte ich die aufschlussreiche völkerpsychologische Studie über »die« Amerikaner von dem Anthropologen Geoffrey Gorer eingepackt, aus den Achtzigern und Neunzigern Studs Terkels Interviews mit Durchschnittsamerikanern, aus den Achtzigern außerdem das geistreiche Buch Blue Highways von William Least Heat-Moon, aus dem letzten Jahr des Jahrhunderts An Empire Wilderness, den beunruhigenden Reisebericht von Robert Kaplan, und das war noch längst nicht alles.
Meine Frau leistete mir Gesellschaft, eine glückliche Notwendigkeit, denn zusammen, das wissen wir von früheren Expeditionen, sind wir nach kürzester Zeit ein Reisemaschinchen, das läuft wie geschmiert. Außerdem hatte ich mich der Hilfe von Sandy versichert – so hieß die Stimme aus einem kleinen, an der Windschutzscheibe befestigten Gerät, die uns den Weg wies. Ganz gleich, welche amerikanische Adresse ich eingab, Sandy führte uns zuverlässig ans Ziel. Noch dazu kannte sie alle möglichen Motels und Restaurants in der jeweiligen Gegend. Ein Zauberkästchen, das Steinbeck vor fünfzig Jahren sicher in großes Entzücken versetzt hätte, denn er liebte technische Spielereien. Er selbst hatte eine dicke Mappe mit Landkarten mitgenommen, verirrte sich aber trotzdem regelmäßig.
Uns konnte das nicht passieren. An Kartenmaterial hatten wir nichts als einen riesigen Atlas Of The Fifty United States von National Geographic aus dem Jahr 1960 auf dem Rücksitz, weil ich natürlich genau wissen wollte, welche Wege Steinbeck nehmen musste – viele der Interstate Highways gab es damals nämlich noch nicht.
Es war ein warmer Septembernachmittag, als wir uns vom JFK entfernten und auf dem Southern State Parkway zur Ostspitze von Long Island fuhren, die Sonne im Rücken. Auf der von Bäumen gesäumten Schnellstraße herrschte Hochbetrieb, jeder wollte schnell aus der Stadt hinaus und ins Wochenende. Sandy gab fröhlich ihre Anweisungen, das Radio sang ein Lied, meine Liebste behielt die Ampeln und Ausfahrten im Auge: »Jetzt die lane wechseln, schnell, schnell, ja, gut. Da bleiben. Pass auf den Truck da auf, der überholt dich gleich rechts. Nach einer Meile kommt die junction mit der 27.« Unser Reisemaschinchen lief schon wieder ausgezeichnet.
Auf der linken Seite glitt Levittown vorbei. Es ist noch heute ein wohlhabender Vorort. Allerdings haben inzwischen einige Generationen so viel an ihren Häusern herumgebastelt und verändert, dass von den Tausenden Levitt-Häusern nur noch eine Handvoll in mehr oder weniger ursprünglichem Zustand ist. Mindestens eine Stunde bewegten wir uns in einer rasenden Blechlawine, aber als wir den Sunrise Highway erreichten, hatte sich New York ausgetobt: Die Wälder links und rechts wurden einsamer, der Verkehr höflicher und gemütlicher. Bei Bridgehampton bogen wir nach Norden ab, dort wird die Landschaft leicht hügelig, und im ersten Moment kommt es einem so vor, als führe man am Rand eines englischen Dorfes entlang, zwischen kleinen Seen und Weihern – in Wirklichkeit sind es Enkel und Urenkel des Atlantiks, die ursprünglich zu einer meilenlangen Kette von Buchten gehörten. Wieder ein Buckel, und dann liegt Sag Harbor vor einem.
Die breite Main Street des Hafenstädtchens strahlt eine fast anachronistische Würde und Ruhe aus. Es ist eine elegante Ladenstraße, die von den teureren Außenbezirken in einer sanften Biegung hinunter zum Hafen führt, zum custom house und der jetzt verfallenen, kleinen braunen Windmühle, die noch mit tatkräftiger Hilfe Steinbecks für das Old Whalers’ Festival errichtet worden war.
Die meisten Häuser sind aus Holz und weiß oder blau gestrichen. Die wenigen Autos fahren im Schritttempo, für jeden, der die Straße überqueren will, hält man sofort an. Am Hafen liegt das kleine, aber feine Büro der Wochenzeitung Sag Harbor Express (Est. 1859), »Combined with THE CORRECTOR (1822) and THE NEWS (1909)«. Das noble American Hotel dient von acht Uhr morgens bis tief in die Nacht als Wohnzimmer der Stadt. In den Gärten duften Kiefern und Lärchen, Grillengezirp erfüllt die Luft.
Sag Harbor sah in den fünfziger Jahren fast noch so aus, wie man sich eine Kleinstadt des 19. Jahrhunderts vorstellt, ein Nest, in dem manchmal Hunde mitten auf der Straße schliefen. In der Mittagspause, angekündigt von den Dampfpfeifen der Fabriken, paradierte man auf der Main Street. Ansonsten war es meistens still, nur hin und wieder hörte man das Kehrgeräusch eines Besens oder den knallenden Auspuff eines der wenigen Autos. Noch immer hatte sich die Stadt nicht ganz von der Depression der dreißiger Jahre erholt. Sogar an der Main Street waren einige Gebäude mit Brettern vernagelt. Viele Einwohner waren auf die Suppenküche angewiesen. »Früher gingen die Leute angeln«, wurde mir erzählt. »Sie haben Hirsche im Hügelland geschossen, im Notfall konnte man noch einigermaßen von dem leben, was das Land zu bieten hatte, bis in die sechziger Jahre war es ganz normal, dass man jagen und angeln ging, wenn man keine Arbeit hatte.«
Touristen gab es damals kaum. Normalerweise war jeder, dem man auf der Straße begegnete, ein Bekannter oder zumindest ein Bekannter von Bekannten. Besuch von außerhalb wurde unerbittlich in der Gesellschaftsrubrik von Mrs. Rose Heatley im Sag Harbor Express angezeigt: »Mr. und Mrs. Joe Velsor haben Mrs. Velsors Onkel, Mr. L.W. Teltro aus Atlanta, am Mittwochabend zum Dinner empfangen.«
Genau diese Ruhe suchte Steinbeck. Auch nach fünfzig Jahren ist es nicht schwierig, noch ein paar seiner alten Kumpel aufzuspüren. »John wollte einfach in Frieden gelassen werden, aber es gab hier vier, fünf Jungs, mit denen er täglich etwas unternommen hat«, erzählt der achtundachtzigjährige John Ward. »Wenn es was zu feiern gab, gingen wir hin, ich habe ihm immer bei Arbeiten an seinem Boot geholfen, aber geredet haben wir nicht viel. Wir haben geangelt.«
Mit Dave Lee, dem Uhrmacher – auch er inzwischen ein alter Mann –, lag Steinbeck im Dauerclinch. »John war Sozialist mit Leib und Seele, während mich in den vierziger Jahren gerade der verdammte Sozialismus aus England fortgetrieben hat. Er war im Grunde davon überzeugt, dass jeder Mensch durch Geburt ein Recht auf alles hat, auch wenn wir Konservativen dafür zahlen müssen. Er hat die Welt immer aus der Perspektive der Arbeiter gesehen. Zum Beispiel war er begeistert davon, wie sich in England die Lebensmittelzuteilung auf die Ernährungslage ausgewirkt hat, wirklich sehr positiv nämlich. Wenn er von Arbeitern sprach und von der Verbesserung ihrer Lebensumstände, dann hatte er so ein seliges Funkeln im Blick.« Nein, ernsthaft gestritten hätten sie sich nie.
»John und Bob haben die verrücktesten Sachen angestellt, nachts nackt durchs Schwimmbad, Sie wissen schon«, sagt Nada Barry. »Die Polizei kannte uns alle, aber Probleme gab es nie. Das war hier buchstäblich ein old-boys-network. John war auch eine treibende Kraft hinter dem Sag Harbor Old Whalers’ Festival, damit wollten wir etwas mehr Leben in dieses Nest bringen.« Ihre Tochter Gwen ergänzt: »Elaine war ganz anders als er, eine echte Theaterfrau, sie liebte die Show. Wenn sie zu irgendetwas keine Lust hatte, sagte sie immer: ›Sorry, dear, ich fühle mich gar nicht gut, wahrscheinlich eine verdorbene Auster.‹ Die Ausrede hat sie auch meiner Mutter mal empfohlen. ›A bad oyster. Funktioniert immer.‹« Nur habe Elaine Steinbeck leider eines vergessen: Dieselbe Entschuldigung habe sie auch gebraucht, als sie nicht zu Gwens Hochzeit erschien. »A bad oyster …« Darüber ärgern sich die beiden Damen bis heute.
John Ward: »Er war Schriftsteller, er hatte so eine kleine Hütte im Garten, da drin hat er geschrieben. Dann durfte man ihn nicht...
Erscheint lt. Verlag | 13.5.2013 |
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Übersetzer | Andreas Ecke, Gregor Seferens |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Amerika |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | American dream • Amerika • eBooks • Geschichte • John Steinbeck • Kalifornien • Land der unbegrenzten Möglichkeiten • New York • Reiseliteratur • Reisen • USA • USA, John Steinbeck, Land der unbegrenzten Möglichkeiten, Reiseliteratur, Amerika, American Dream, New York, Kalifornien |
ISBN-10 | 3-641-10276-6 / 3641102766 |
ISBN-13 | 978-3-641-10276-0 / 9783641102760 |
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