Rückkehr nach Missing (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
839 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-77837-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Rückkehr nach Missing -  Abraham Verghese
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Ein meisterhaftes Epos über Familie, Intimität und die wundersame Schönheit, die darin liegt, andere zu heilen. Äthiopien in den sechziger Jahren: Marion und Shiva Stone, eineiige Zwillingsbrüder, wachsen als Waisenkinder in einem Missionshospital in Addis Abeba auf, der Kaiserstadt Haile Selassies. Ihre Mutter, eine schöne indische Nonne, starb bei ihrer Geburt, ihr Vater, ein britischer Chirurg, verschwand spurlos. Marion und Shiva sind unzertrennlich, und sie verbindet die Faszination für die Medizin, doch als sie zu jungen Männern heranwachsen, treibt die Liebe - ihre Leidenschaft für dieselbe Frau - einen Keil zwischen die beiden. Marion muss aus seinem von politischen Unruhen geschüttelten Heimatland fliehen, kommt nach Amerika und geht in seiner Arbeit in einem New Yorker Krankenhaus auf. Doch dann holt ihn die Vergangenheit ein, und er muss sein Leben ausgerechnet in die Hände der beiden Männer legen, denen er am wenigsten vertraut: seinem Vater, der ihn im Stich gelassen, und seinem Bruder, der ihn betrogen hat. Rückkehr nach Missing erzählt die unvergessliche Geschichte einer großen Liebe: zu den Menschen und zur Medizin. Eine packende Familiensaga über Afrika und Amerika, Ärzte und Patienten, Exil und Heimat.

<p>Abraham Verghese wurde als Sohn indischer Eltern in &Auml;thiopien geboren. Er wuchs in der N&auml;he von Addis Abeba auf und studierte Medizin. Nach seiner &Uuml;bersiedlung in die USA arbeitete er als Arzt, unter anderem in einer Klinik f&uuml;r Aids-Patienten, zu einer Zeit, in den achtziger Jahren, als noch wenig f&uuml;r sie getan werden konnte. &Uuml;ber diese Erfahrung schrieb er sein erstes Buch, <em>My Own Country. A Doctor&amp;#39;s Story</em>, das in den Vereinigten Staaten zum Bestseller wurde. Er hat mehrere Romane verfasst, darunter sein Weltbestseller <em>R&uuml;ckkehr nach Missing</em>, der sich seit seinem Erscheinen in den USA 2009 dort mehr als 1,5 Millionen Mal verkauft hat und mehr als zwei Jahre auf der Bestsellerliste stand. Er erschien in &uuml;ber zwanzig Sprachen. An seinem neuen Roman <em>Die Tr&auml;umenden von Madras</em> hat Verghese rund zehn Jahre gearbeitet. Verghese ver&ouml;ffentlicht regelm&auml;&szlig;ig Artikel, in denen er die Wichtigkeit und die wunderbare Erfahrung der pers&ouml;nliche Beziehung zwischen Arzt und Patient in einer Welt der hochger&uuml;steten Maschinenmedizin beschreibt. Seit 2007 ist Abraham Verghese Professor f&uuml;r Theorie und Praxis der Medizin an der Stanford University. Er lebt in Palo Alto, Kalifornien.</p>

Prolog


Die Ankunft


Nach acht im Dunkel des Schoßes unserer Mutter verbrachten Monaten kamen mein Bruder Shiva und ich am späten Nachmittag des dreißigsten September im Jahr der Gnade, 1954, auf die Welt. Wir taten unsere ersten Atemzüge auf einer Höhe von dreitausend Metern in der dünnen Luft von Addis Abeba, der Hauptstadt von Äthiopien.

Das Wunder unserer Geburt ereignete sich im Operationssaal 3 des Missing Hospital, in demselben Raum, in dem unsere Mutter, Schwester Mary Joseph Praise, den Großteil ihrer Stunden verbrachte, bei einer Arbeit, in der sie Erfüllung fand.

Als bei unserer Mutter, einer Nonne des Bischöflichen Karmeliterordens von Madras, an jenem Septembermorgen überraschend die Wehen einsetzten, hatte der schwere Regen aufgehört. Das Prasseln auf die verrosteten Blechdächer des Krankenhauses brach so abrupt ab, wie ein Plappermaul mitten im Satz verstummt. Über Nacht erblühten in der plötzlichen Stille die Meskel-Blumen und vergoldeten die Hügel von Addis Abeba. Auf den Wiesen triumphierte das Riedgras über den Morast, und jetzt erstreckte sich ein leuchtender Teppich bis zum gepflasterten Eingang des Missing und versprach etwas, das wichtiger war als Kricket, Krocket oder Federball.

Das Missing Hospital stand auf einer grünen Anhöhe, eine unübersichtliche Ansammlung von weiß getünchten ein- und zweigeschossigen Gebäuden, die aussahen, als seien sie bei denselben geologischen Verwerfungen an die Erdoberfläche geschoben worden, die auch das Plateau des Entoto hervorgebracht hatten. Muldenartige Blumenbeete, die von dem aus den Dachrinnen überlaufenden Wasser lebten, umzogen die geduckten Gebäude wie ein Burggraben. Die Rosen der Oberin Hirst okkupierten die Mauern, ihre dunkelroten Blüten rahmten alle Fenster und kletterten bis ans Dach. So fruchtbar war der lehmige Boden, daß die Oberin — die kluge und besonnene Leiterin des Krankenhauses — uns mahnte, nicht barfuß darauf zu laufen, falls wir nicht wollten, daß uns neue Zehen sprossen.

Fünf Wege verliefen, von schulterhohen Büschen flankiert, vom Hauptgebäude des Krankenhauses wie die Speichen eines Rads zu fünf strohgedeckten Bungalows, die über und über von Dickicht, Hecken, wildem Eukalyptus und roten Zierbananen umstanden waren. Nach dem Willen der Oberin sollte das Krankenhaus aussehen wie ein Arboretum oder wie ein Teil von Kensington Gardens (wo sie, bevor sie nach Afrika kam, als junge Nonne spazierengegangen war) oder wie der Garten Eden vor dem Sündenfall.

Das Missing hieß eigentlich Mission Hospital, ein Wort, das die äthiopische Zunge mit einem Zischen aussprach, wodurch es wie Missing klang. Ein Angestellter im Gesundheitsministerium, frisch von der Highschool, hatte auf dem Formular zur amtlichen Zulassung »The Missing Hospital« getippt, in, was ihn betraf, phonetisch korrekter Schreibung. Ein Reporter des Ethiopian Herald hatte diesen Rechtschreibfehler dann in die Welt getragen. Als sich die Oberin Hirst an den Angestellten im Ministerium wandte, um den Fehler korrigieren zu lassen, zog der sein maschinengeschriebenes Originaldokument hervor. »Sehen Sie selbst, Madam. Quod erat demonstrandum. Es heißt Missing«, sagte er, so als habe er bewiesen, daß der Satz des Pythagoras stimmt, daß die Sonne den Mittelpunkt des Sonnensystems bildet, daß die Erde rund ist und daß das Missing genau dort ist, wo man es sich denkt. Also blieb es bei Missing.

Kein Schrei und kein Stöhnen drang aus Schwester Mary Joseph Praises Mund, als die Krämpfe der Wehen einsetzten. Gleich hinter der Schwingtür, in dem an den Operationssaal 3 angrenzenden Raum aber, rief der große Dampfkochtopf (gespendet von der Lutherischen Kirche in Zürich) fauchend nach meiner Mutter; sein heißer Dampf sterilisierte die chirurgischen Instrumente und die Tücher, mit denen man sich später an ihr zu schaffen machen würde. In einem Winkel dieses Sterilisationsraums, gleich neben dem Ungeheuer aus rostfreiem Stahl, hatte meine Mutter in den sieben Jahren, die sie vor unserer unschӧnen Ankunft im Missing gearbeitet hatte, ein Eckchen für sich selbst eingerichtet. Dort stand ihr Schreibpult an der Wand, bestehend aus Tisch und Klappstuhl, die fest miteinander verbunden waren, geborgen aus einer nicht mehr bestehenden Missionsschule und mit seinen Furchen und Kerben vom Frust diverser Schüler gezeichnet. Ihre weiße Strickjacke, die sie sich, wie man mir erzählt hat, in den Pausen zwischen Operationen oft über die Schulter warf, hing über der Stuhllehne.

An die Gipswand über ihrem Tisch hatte meine Mutter ein Kalenderfoto von Berninis berühmter Skulptur der Theresa von Ávila geheftet. Die heilige Theresa lagert erschlafft, so als sei sie ohnmächtig, die Lippen vor Verzückung geӧffnet, die Augen blicklos, die Lider halb geschlossen. Von beiden Seiten blickt aus Nischen in der Kirchenwand ein voyeuristischer Chor auf sie hinab. Mit feinem Lächeln und einem Kӧrper, der muskulӧser ist, als es seinem jugendlichen Gesicht angemessen erscheint, steht ein männlicher Engel über der heiligen, sinnlichen Schwester. Mit den Fingerspitzen seiner Linken hebt er den Saum des Tuches, das ihren Busen bedeckt. In seiner Rechten hält er einen Pfeil, so zärtlich, wie ein Violinist seinen Bogen hält.

Warum dieses Bild? Warum die heilige Theresa, Mutter?

Als kleiner Junge von vier Jahren habe ich mich in diesen fensterlosen Raum gestohlen und das Bild betrachtet. Mit Mut allein ließ sich die schwere Tür nicht überwinden, doch das Gefühl, daß sie dort war, mein unbedingter Wille, die Nonne kennenzulernen, die meine Mutter war, verlieh mir Kraft. Ich saß neben dem Dampfkochtopf, der rumpelte und wie ein Drache fauchte, so als habe mein hämmerndes Herz das Ungetüm zum Leben erweckt. Am Schreibtisch meiner Mutter senkte sich nach und nach Frieden über mich, das Gefühl, mit ihr eins zu sein.

Später erfuhr ich, daß es niemand gewagt hatte, ihre über der Stuhllehne hängende Strickjacke zu entfernen. Sie war ein heiliger Gegenstand. Für einen Vierjährigen aber ist alles heilig und gewöhnlich. Ich hängte mir das nach Cuticura duftende Kleidungsstück über die Schultern. Fuhr mit der Fingerspitze über den Rand des eingetrockneten Tintenfasses, verfolgte den Weg, den ihre Finger genommen hatten. Wenn ich zu dem Kalenderdruck hinaufsah, wie sie es in dem fensterlosen Raum wohl auch oft getan hatte, zog mich das Bild in seinen Bann. (Jahre später erfuhr ich, daß Theresas wiederkehrende Vision vom Erscheinen eines Engels »Herzdurchbohrung« genannt wird, laut Lexikon die »Entzündung« der Seele durch die Liebe zu Gott, wobei das Herz von heiliger Liebe »durchbohrt« wird; die Metaphern ihres Glaubens waren auch die Metaphern der Medizin.) Mit vier brauchte ich ein Wort wie »Herzdurchbohrung« nicht, um das Bild zu verehren. Ohne Fotos von ihr, an die ich mich halten konnte, sah ich in der Frau auf dem Bild zwangsläufig meine Mutter, die von dem speerschwingenden jugendlichen Engel bedroht und im nächsten Augenblick wohl geraubt wurde. »Wann kommst du, Mama?« fragte ich, und mein dünnes Stimmchen hallte von den kalten Kacheln wider. Wann kommst du?

Ich flüsterte meine Antwort: »Bei Gott!« Ich mußte mich damit begnügen, mit den Worten von Dr. Ghosh, der mich, als ich mich das erste Mal in den Raum verirrt hatte, gesucht, über meine Schulter hinweg das Bild der heiligen Theresa angestarrt, mich auf seinen starken Armen hochgehoben und mit dieser Stimme, die es ganz und gar mit dem Dampfkochtopf aufnehmen konnte, gesagt hatte: »Sie kommt, bei Gott!«

Sechsundvierzig und vier Jahre sind seit meiner Geburt vergangen, und wie durch ein Wunder habe ich Gelegenheit, in dieses Zimmer zurückzukehren. Inzwischen bin ich zu groß für den Stuhl, und die Strickjacke liegt auf meiner Schulter wie der Spitzenkragen eines Priesters. Aber Stuhl, Strickjacke und Kalenderbild der Verzückung sind noch da. Ich, Marion Stone, habe mich verändert, sonst aber ist alles gleich geblieben. Ich befinde mich in diesem unveränderten Raum und blättere gleichsam in der Zeit und in der Erinnerung. Der nicht verblassende Druck der Bernini-Statue der heiligen Theresa (inzwischen gerahmt und unter Glas, damit bewahrt bleibt, was meine Mutter mit einer Reißzwecke angeheftet hat) verlangt das von mir. Ich bin gezwungen, die Ereignisse meines Lebens zu ordnen, zu sagen, hier hat es angefangen, und dann ist aus diesem Grund jenes geschehen, und so sind das Ende und der Anfang miteinander verbunden, und darum bin ich hier.

Wir kommen ungefragt in dieses Leben, und wenn wir Glück haben, finden wir eine Bestimmung jenseits von Hunger, Elend und frühem Tod, die, das wollen wir nicht vergessen, den meisten beschieden sind. Ich bin aufgewachsen und habe meine Bestimmung gefunden, und die bestand darin, Arzt zu werden. Es ging mir nicht darum, die Welt zu retten, sondern selbst gesund zu werden. Nur wenige Ärzte werden es eingestehen, und gewiß nicht die jungen, doch unterbewußt, beim Eintritt in diesen Berufsstand,...

Erscheint lt. Verlag 29.7.2023
Übersetzer Silvia Morawetz
Sprache deutsch
Original-Titel Cutting for Stone, 2009
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Addis Abeba • Arzt • Belletristische Darstellung • Eineiiger Zwilling • Familienkonflikt • insel taschenbuch 4000 • IT 4000 • IT4000 • New York • NY
ISBN-10 3-458-77837-3 / 3458778373
ISBN-13 978-3-458-77837-0 / 9783458778370
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