Der Traum vom Fliegen (eBook)

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
384 Seiten
Kein & Aber (Verlag)
978-3-0369-9635-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Traum vom Fliegen -  Milena Moser
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Ein Buch über Freundschaft und das Gefühl, ausgeschlossen und nicht »normal« zu sein, über vermeintliche Schwächen und potenzielle Stärken und darüber, was diese scheinbaren Gegensätze miteinander verbindet.

Als Sofia von ihren Vätern in die Privatklinik Los Pajaritos an der Nordwestküste der Vereinigten Staaten gebracht wird, denkt sie nicht daran, Gewicht zu verlieren, schließlich hat sie nicht ohne Grund so viel zugenommen. Sofia will um jeden Preis verhindern, ihre Bodenhaftung zu verlieren, und ihr Übergewicht gibt ihr Halt. Doch sie hat nicht mit den anderen Klinikbewohner:innen gerechnet. Nicht mit ihrer Zimmernachbarin Emerald, die sich entschieden hat, Sofia als neue Freundin zu gewinnen, und nicht mit Zach, der ihr zu Beginn so fremd scheint, am Ende aber derjenige ist, der sie am grundlegendsten durchschaut.

Milena Moser, 1963 in Zürich geboren, ist eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen der Schweiz. 2015 emigrierte sie nach Santa Fe, New Mexico und lebt seit 2019 in San Francisco. Über ihr Leben in den USA schrieb sie die Bestseller Das Glück sieht immer anders aus (2015) und Hinter diesen blauen Bergen (2017). Bei Kein & Aber erschienen Land der Söhne (2018), Das schöne Leben der Toten (2019), Mehr als ein Leben (2022) und zuletzt Der Traum vom Fliegen (2023).

EIN JAHR SPÄTER


Es war, als würden sie in die Ferien fahren. Ein verlängertes Wochenende an der Küste oder im Weinland, in einem dieser Wellnesshotels, die ihr Papa Santiago so liebte. Die Landschaft, die vor dem Fenster vorbeizog, war lieblich. Sanfte Hügel, trockenes Gras, letzte Nebelfetzen, die sich in den Bäumen verfingen. Sofia lehnte den Kopf an die Scheibe.

Papa Giò drehte sich zu ihr um. »Schau dir die braunen Flecken auf den Hügeln an, und wie sie verteilt sind«, dozierte er. »Hier kann man sehr schön verfolgen, wie der von unserer korrupten Regierung unterstützte, wenn nicht gar verordnete Wasserraub durch die Landwirtschaftsindustrie die Auswirkungen der verheerenden Dürrekatastrophe der letzten Jahre verstärkt und …«

Papa Santiago seufzte und drehte die Musik lauter. Der Frühling. Vivaldi hatten sie früher immer sonntags bei ihrem ausgedehnten Frühstück gehört. Sofia tanzte um die Küchentheke, während Santiago mit theatralischem Flair und dem Einsatz sämtlicher verfügbarer Töpfe Huevos Rancheros oder Chilaquiles zubereitete und Giò sie beide gerührt über den Rand einer Zeitungsseite beobachtete.

Sofia erinnerte sich, wie sich der würzige Duft nach gerösteten Tortillas und Salsa Roja in der offenen Wohnküche verbreitete, während sie tanzte und tanzte, ihre Arme dazu bewegte wie Flügel. Wie sie Blumen und Schmetterlinge vor sich sah, Bäume, deren Äste sich im Wind wiegten, Vögel, die in der Luft schwebten. Wie sie sich damals schon eingebildet hatte, sie könne fliegen.

Das war sie gewesen: ein tanzendes Kind. Ein Mädchen, das Musik in Bilder verwandelte und Bilder in Bewegungen. Ein Mädchen, das fliegen wollte.

Sofia träumte nicht mehr vom Fliegen. Sie war kein Kind mehr. Die Mahlzeiten hatten sich zu einer Kampfzone entwickelt. Und die Papas beobachteten sie mit zunehmender Besorgnis. Sie setzte ihre Kopfhörer auf, um die Sonntagsmusik auszublenden, die besorgten Stimmen, die Erinnerungen. Sie schloss die Augen und öffnete sie erst wieder, als Santiago vor dem Fishetarian Market in Bodega Bay anhielt. Hier hatten sie auf ihren Ausflügen immer Halt gemacht. So oft waren sie die endlose, kurvige alte Küstenstraße schon hochgefahren, hatten das Wochenende in Jenner oder Bodega Bay verbracht oder in Mendocino. Eine Zeit lang hatten sie sogar ein Ferienhaus in Sea Ranch gemietet, aber am Ende hatten sie es doch zu wenig genutzt, um die Ausgaben zu rechtfertigen. Ihr heutiges Ziel lag nicht weit davon entfernt, etwas außerhalb von Gualala auf einer steilen Klippe über dem Meer.

»Kommt, wir machen eine Pause«, sagte Santiago. »Es ist schließlich fast Mittag. Was meinst du, Sofikind, noch einmal so richtig schön gebackene Austern essen? Mit Fritten und Tartarsauce und allem Drum und Dran?«

Papa Giò seufzte und schüttelte den Kopf. »Du tust ja grad so, als käme sie ins Gefängnis«, sagte er steif.

»So hab ich’s doch nicht gemeint! Ich wollte nur … Nichts kann man recht machen!«

»Es geht ja hier auch nicht um dich, mein Lieber.«

Früher hatten die Papas nie gestritten. Und auch jetzt taten sie es nur ihretwegen. Schon deshalb hatte Sofia in den Plan eingewilligt. Wenn sie nicht mehr da wäre, wenn sie sie nicht ständig anschauen müssten, würden sich die Papas schnell wieder entspannen, dachte Sofia. Sie würden sich keine Sorgen mehr machen, würden keinen Grund mehr haben, zu streiten.

»Ich hab keinen Hunger«, sagte sie deshalb. »Ich würd ehrlich gesagt lieber durchfahren.«

»Tut mir leid, Liebes«, murmelte Santiago, während er den Wagen wendete. »Ich hab nicht … ich wollte nicht …«

»Kein Problem.« Plötzlich wollte sie es nur noch hinter sich bringen. Sie setzte die Kopfhörer wieder auf, die das gereizte Tuscheln ihrer Papas dämpften, die gegenseitigen Schuldzuweisungen: »Wie oft muss ich dir erklären …«, »Ich habs ja nur gut gemeint …«

Sie seufzte laut, und das Getuschel verstummte. Dann musste sie eingeschlafen sein, trotz der kurvigen Fahrt, während der ihr als Kind immer schlecht geworden war.

Sie wachte auf, als sie Kies unter den Rädern knirschen hörte. Mühsam richtete sie sich auf und wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. Sie fühlte sich verschwitzt und unwohl. Als sie die Tür öffnete, strömte kalte, salzige Meeresluft ins Auto. Nebelfetzen hingen in den Spitzen der knorrigen Zwergpinien und der Zwiebeltürme, die an eine russische Kirche erinnerten. Das quadratische, zweistöckige Gebäude war aus verwittertem grauem Holz gebaut und mit Buntglasfenstern und Mosaikkacheln verziert. Russische Einwanderer hatten den Baustil in dieser Gegend geprägt, Papa Giò hatte ihnen das auf der Fahrt ausführlich erklärt und auf Ferienhäuser hingewiesen, die wie Datschas aussahen. Doch Sofia erinnerte sich nicht an die Einzelheiten. Früher hatte sie ein nahezu perfektes Gedächtnis gehabt, was sie einmal gelesen oder gehört hatte, war für immer in dem ordentlich sortierten Archiv in ihrem Kopf gespeichert.

Auch das hatte sie verloren. Auch das hatte das letzte Jahr ihr genommen.

Santiago öffnete die Fahrertür, stieg aus, streckte die Arme über den Kopf und dehnte seinen Rücken. »Sieht doch sehr ansprechend aus«, rief er, der ewige Cheerleader. »Wie ein Wellnessresort, nicht?«

Sofia fühlte sich eher an ein Gruselschloss aus einem Horrorfilm erinnert. Bestimmt würde die schwere, mit geschnitzten Holzbalken verzierte Eingangstür schauerlich knarren. Und sie würde nie wieder hier herauskommen.

Und wenn schon.

»Kostet ja auch genug«, murmelte Giò und biss sich sofort auf die Lippen. Schuldbewusst drehte er sich zu seiner Tochter um. »Was meinst du, Hühnchen, hältst du es hier aus?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich denke schon«, sagte sie. Was sollte sie denn sonst sagen?

Los Pajaritos war kein Wellnesshotel, sondern eine Privatklinik, die sich auf Sucht- und Stresserkrankungen spezialisiert hatte. Sie war in den Fünfzigerjahren gegründet worden, um tablettensüchtige Filmstars fern von Hollywood zu entwöhnen. Jetzt diente sie mehrheitlich den höheren Angestellten der Tech-Industrie, die der verzerrten Realität und dem ständigen Druck ihrer Arbeitswelt nicht standhalten konnten. Die Fantasiepreise, die diese bezahlten, ermöglichten auch Krankenkassenpatientinnen wie Sofia einen zeitlich beschränkten Aufenthalt. Der Selbstbehalt war allerdings, wie Giò bemerkt hatte, immer noch beachtlich. Die Klinik vertrat einen innovativen Ansatz und konnte damit eine hohe Erfolgsrate halten. Wohlweislich nahm sie nur Süchtige auf, die den klinischen Entzug bereits hinter sich hatten, keine Rückfälligen, keine Opioidabhängigen, und auch das Körpergewicht musste in einem ungefährlichen Bereich liegen. Diese letzte Bedingung erfüllte Sofia immer noch.

Sie löste die Verlängerung ihres Sicherheitsgurts und öffnete die Tür. Dann legte sie sich seitlich auf die Rückbank, sodass sie ihre Beine aus dem Auto schwingen konnte. Es war nicht praktisch, so dick zu sein. Und auch nicht angenehm. Aber es ging nun mal nicht anders. Santiago war um den Wagen herumgekommen, um ihr zu helfen. Sie streckte die Arme nach ihm aus, wie sie es als Kind getan hatte, und er zog sie hoch.

Giò nahm ihre Reisetasche, Santiago hängte sich bei ihr ein. Sie hörte ihn schniefen und hasste sich einmal mehr dafür, dass sie ihren Papas solchen Kummer bereitete. Der Weg stieg leicht an. Die Kieselsteine drückten durch die dünnen Sohlen ihrer Turnschuhe. Sofia atmete schwer.

Doktor Lilly hatte die Klinik empfohlen. Die rothaarige Familientherapeutin begleitete Sofia, solange sie sich erinnern konnte. Doch hier war sie an ihre Grenze gestoßen.

»Eine Essstörung ist eine nicht zu unterschätzende psychische Erkrankung«, hatte sie erklärt. »Sie ist chronisch und verläuft oft tödlich. Tut mir leid, wenn das brutal klingt, aber ich kann es nicht genug betonen.«

Sofia hatte keine Essstörung. Ihre Gewichtszunahme war eine bewusste Entscheidung gewesen. Sofia hatte sie, wie alles in ihrem Leben, gründlich überdacht. Und sie hatte auch keineswegs vor, in der Klinik abzunehmen. Ihr Gewicht erfüllte eine wichtige Funktion. Doch das konnte sie niemandem erklären. Man würde ihr nicht glauben. Man würde sie für verrückt erklären. Dann doch lieber süchtig, dachte sie.

Die Flügel der eisenbeschlagenen Türe schwangen von alleine und lautlos auf, bevor sie sie erreicht hatten. Ein stämmiger älterer Mann trat heraus. Er trug verwaschene Jeans und ein hellblaues T-Shirt mit dem Logo der Klinik, zwei stilisierten Vögeln im Flug. Wohin die wohl flogen, fragte sich Sofia.

In die Nüchternheit. In die Normalität. In die Freiheit.

Über Abgründe hinweg, so wie sie.

Der Mann hatte ein pockennarbiges Gesicht und muskulöse Unterarme mit verblichenen Tätowierungen. Seine langen grau melierten Haare waren zu einem dünnen Zopf geflochten, darüber trug er ein rotes Bandana als Stirnband. Ein klassischer Filmbösewicht. Die Papas blieben verunsichert stehen. Sofia war dankbar für die Pause, sie atmete schwer. Der kurze Anstieg hatte sie bereits überfordert.

»Sofia Gomez Bernasconi?« Der Mann streckte die Hand aus, Sofia schüttelte sie.

»Willkommen in Los Pajaritos. Ich bin Ken.«

»Ken?«, schnaufte Sofia.

Der Mann lachte. Seine Zähne waren überraschend weiß und strahlend.

»Tja, meine Eltern wollten einen echten Gringo aus mir machen. Aber ich seh wohl nicht aus wie ein Ken …«

»Bis auf die Zähne«, rutschte es Sofia heraus.

»Ja, die...

Erscheint lt. Verlag 17.11.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bodenhaftung • Freundschaft • Gefühle • Herzerwärmende Unterhaltung • Hoffnung • innere Vorgänge • Klinik • Liebe • mentale Gesundheit • positive Freundschaften • Schwerelosigkeit • Seelenstärker • Stärken und Schwächen • Therapie • USA • Zuversicht
ISBN-10 3-0369-9635-4 / 3036996354
ISBN-13 978-3-0369-9635-6 / 9783036996356
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